34. Unter den Wasserfällen

Karl-Heinz Winterhalter lauschte dem gleichmäßigen Rauschen der Triberger Wasserfälle. Er stand auf einer der Holzbrücken, die die reißenden Wassermassen querten.

Das Rauschen hatte eine beruhigende Wirkung. Und die hatte Winterhalter gerade nötig – er dachte nach.

Denn sowohl privat wie beruflich ging es bei ihm drunter und drüber. Zwei Morde und ein Tauchunfall, brachte er gerade seine berufliche Situation auf einen Nenner.

Eine Ehetherapie, eine Ehekrise und eine Kontaktanzeige lauteten die Schlagwörter seiner privaten Probleme.

Da tat es einfach mal gut, sich nur dem monotonen Rauschen des Gebirgswasserfalles hinzugeben. Dass er dabei nicht alleine, sondern erneut von Touristen aus dem Reich der Mitte umgeben war, registrierte Winterhalter nur am Rande.

Fast wäre ihm auch der eingehende Anruf entgangen, doch die Klingelton-Kuh seines Handys muhte so laut, dass sie es sogar schaffte, das Wasserrauschen zu übertönen.

»Winterhaaalder, Grüß Gott«, meldete er sich standardmäßig und bemerkte nun, wie einige Chinesen sich vor ihm abfotografieren ließen. Offenbar schien er mit seinem Look eine Art Touristenattraktion zu sein – und der passende Vordergrund für den Wasserfall im Hintergrund.

»Kaltenbach.« Winterhalter drückte sich das Handy fester ans Ohr. »Herr Winterhalter, ich glaub, ich hab’s!«

»Das ist mir jetzt erst mal egal. Ich müsste mal dringend in China anrufen. Allerdings auf Mandarin. Oder mit Übersetzer!«

Winterhalter schaute sich um. Mittlerweile bildete sich schon eine Schlange, um mit dem Herren in der rustikalen Kluft vor den reißenden Wassermassen abgebildet zu werden. Er spielte das Spiel zerstreut mit und lächelte freundlich in die Kameras.

»Was? Ich versteh nur Chinesisch. Wieso rauscht es bei Ihnen so laut?«, brüllte seine Kollegin in den Hörer. »Wo sind Sie denn gerade? Haben Sie eine Störung in der Leitung?«

»Nein, ich bin an den Triberger Wasserfällen. Frau Kaltenbach, kennen Sie nicht einen Chinesen? Sie haben doch so viele Verehrer. Vielleicht ist da auch ein Chinese dabei?«

»Hm. Haben Sie … was getrunken, Kollege?«, wunderte sich die Kaltenbach.

Winterhalter hatte nun schon ein gutes Dutzend Mal für einen Schnappschuss hergehalten. Doch die Schlange der freundlichen Touristen aus China wollte einfach nicht abreißen.

»Rechtsanwalt Kaiser hat angegeben, er sei bei einem Geheimtreffen mit einem Chinesen gewesen. Deshalb habe er für den Tatzeitpunkt in der Gruft ein falsches Alibi angegeben. Verstehen Sie?«

»Und warum brauchen Sie deshalb jetzt einen Chinesen?«

»Weil der Chinese, mit dem sich der Kaiser getroffen hat, ein gewisser Herr Li, nur Mandarin kann. Und weil der Übersetzer weg ist. Ich kann ja kein Chinesisch. Können Sie das denn?«

»Nein, aber mir kommt das Ganze hier so langsam Spanisch vor«, kam die Kollegin so langsam in Fahrt.

»Ich ruf zurück«, sagte Winterhalter nur und beendete das Gespräch.

Fünf Minuten später meldete er sich wieder. In der Zwischenzeit war er einer Eingebung gefolgt und hatte sechs oder sieben Touristen aus dem Reich der Mitte angesprochen. Die waren alle sehr freundlich gewesen und hatten ihn noch weiter fotografiert, der deutschen Sprache war allerdings kein Einziger mächtig gewesen.

Ein Herr mittleren Alters mit kichernder weiblicher Begleitung hatte so etwas wie Englisch gesprochen – aber selbst da war sich Winterhalter nicht sicher gewesen.

Als potenzielle Übersetzer für Herrn Li kamen sie jedoch allesamt nicht in Frage.

»Also, was ist jetzt?«, blaffte er die Kollegin an, während er vom Wasserfall aus in Richtung Touristen-Info ging. Dort würde es ja wohl irgendwo einen Chinesisch-Dolmetscher oder zumindest einen Reiseleiter für die asiatischen Touristen geben.

Auf Dr. Kaisers Befindlichkeiten in Sachen Geheimhaltung konnte er nun wahrlich keine Rücksicht nehmen.

»Ich habe eine wichtige Spur zum Selbstmord von Rüdiger Hellmann.«

»Aha«, entgegnete Winterhalter skeptisch.

»Absolut«, bestätigte die Kollegin euphorisch. »Auf der Todesanzeige von Rüdiger Hellmann haben die Verwandten unterschrieben – unter anderem ein Patenkind namens Dorer!«

Winterhalter schnaufte wieder einmal – zum einen, weil ihm Atmen und Sprechen gleichzeitig schwerfiel, zum anderen, weil ihn die Information der Kollegin keineswegs elektrisierte. »Ja, und?«

»Dorer«, sagte die Kaltenbach. »Kommt Ihnen der Name bekannt vor?«

»Allerdings«, sagte Winterhalter. »Den Namen gibt’s in unserer Region etwa tausend Mal. Das ist sozusagen die Schwarzwälder Version von Herrn Li, mit dem ich dringend auf Mandarin …«

Marie bog auf den Parkplatz vor der Dienststelle ein. »Lassen Sie uns jetzt nicht über China reden«, bat sie. Wenn sie sich Winterhalters wirre Reden so anhörte, war sie mehr denn je der Meinung, dass er sich noch einige Tage Erholung nach seinem Krankenhausaufenthalt gönnen sollte. »Nicht nur Dorer, sondern Martin Dorer. Gibt’s davon immer noch Tausende?«

»Na ja, vielleicht ein Dutzend«, grummelte Winterhalter.

»Verstehen Sie denn nicht – Martin Dorer, so heißt doch der Freund Ihres Sohns!«, spielte Marie nun ihren Trumpf aus. »Und der hat bekanntlich gemeinsam mit den anderen Geocachern die Leiche von Pedro Schätzle gefunden. Und jetzt stellt sich heraus, dass er vermutlich auch noch ein enger Angehöriger von Rüdiger Hellmann ist, der nach seinem Selbstmord im Schluchsee gefunden wurde. Dessen Abschiedsbotschaft war wortgleich mit der fingierten Botschaft bei Armin Schätzle am Schluchsee-Ufer. Und der war wiederum der Ehemann des ersten Opfers. Könnte sich da nicht der Kreis schließen? Und das Bindeglied könnte Martin Dorer sein?«

»Das ist mir alles zu viel und zu theoretisch«, schnaufte Winterhalter, der sich offenbar auf irgendeine Weise sportlich betätigte. »Was sollen wir Ihrer Meinung nach also jetzt machen?«

»Erneut mit Martin Dorer sprechen.«

»Von mir aus«, erklärte der Kommissar wenig begeistert. »Das ist ein helles Kerlchen – vielleicht kann der ja sogar Chinesisch.«

Marie legte auf und schaute Kiefer an, der neben ihr im Auto saß und sie scheinbar erwartungsvoll ansah.

Sie machte eine Scheibenwischer-Bewegung. Dem Kollegen Kiefer musste sie nicht erklären, dass er damit nicht gemeint war …