36. Schlagkräftig

Es war neun Uhr am nächsten Morgen, als Winterhalter im Kommissariat ankam. Die Freiheit, später zu kommen, nahm er sich heute, denn eigentlich war er ja noch krankgeschrieben.

Sie würden sich absprechen und dann zu dritt mit Kiefer und Kommissarin Kaltenbach nach Donaueschingen zu Martin Dorer fahren.

Dass er nach seinem Tauchunfall noch nicht wieder zu hundert Prozent hergestellt war, bemerkte er, als er am Vernehmungszimmer vorbeiging und dort drinnen Charly Schmider sah, der von der Kollegin gerade über seine Rechte belehrt wurde.

Den hatte er ganz vergessen.

»Schönen Dank noch mal für die inzwischen fast täglichen Gratistouren zwischen Freiburg und Villingen«, sagte Charly gerade. »Ist euch so langweilig, dass ihr es ohne mich nicht aushalten könnt? Oder ist es wirklich deine Sehnsucht nach mir?«

Der letzte Satz galt der Kollegin Kaltenbach, die eine stoische Miene aufgesetzt hatte.

Charly schien in den Augen Winterhalters dennoch bei jeder Vernehmung irgendwie angeschlagener, seine Selbstsicherheit immer aufgesetzter.

Wahrscheinlich war nun auch in seinem Schädel angekommen, dass der Mordvorwurf im Vergleich zu den Straftaten, die er bislang begangen hatte, ungleich schwerer wog.

»Wir haben dich kommen lassen, weil wir noch einmal vernünftig mit dir reden wollen«, erwiderte die Kaltenbach sachlich.

Charly sagte nun nichts mehr, während Winterhalter auf dem anderen Stuhl Platz nahm. Im Nebenzimmer beobachtete Kiefer die Vernehmung durch den Venezianischen Spiegel.

»Herr Schmider, was haben Sie an dem Montagmorgen, an dem Peter Schätzle ermordet wurde, im Park in Neudingen gemacht?«, eröffnete Winterhalter die Befragung.

»Einen Menschen umgebracht – das wisst ihr doch«, gab Charly zurück.

»Also – dann ist das ein Geständnis?«

Charly sagte eine ganze Weile nichts – er schien zu überlegen.

»Charly«, sagte die Kommissarin dann eindringlich. »Also: Wenn du es jetzt tatsächlich zugibst: Warum hast du Pedro umgebracht? Und hast du auch etwas mit dem vorgetäuschten Selbstmord von Armin Schätzle zu tun?«

Charly sagte monoton: »O. K., Marie. Du traust mir also einen Mord zu?«

»Es könnte ja auch ein Totschlag gewesen sein«, schlug Winterhalter vor. »So wie das Opfer dann aber in der Gruft drapiert wurde, spricht wenig dafür. Und dass Sie dann auch noch das Handy des Toten mitgenommen und an Ihr Auto geklebt haben, klingt auch nicht gerade nach Totschlag. Abgesehen davon: Vielleicht haben Sie ja nicht nur den einen Mord begangen, sondern auch noch jemanden zu einem zweiten Mord angestiftet.«

Charly ignorierte ihn und schaute Marie an: »Ich hab vielleicht schon ein paar nicht ganz lupenreine Dinger gedreht. Aber glaubst du, ich bringe jemanden um – und dann auch noch einen alten Kumpel von uns?«

Die Kommissarin blieb die Antwort schuldig. »Was hast du an diesem Morgen im Park zu suchen gehabt? Und sag nicht, du wolltest zum Ende deines Freigangs nur spazierengehen, ehe du um halb zehn wieder in der JVA in Freiburg sein musstest.«

Charly schien nachzudenken und sagte dann: »Quatsch!«

»Also?«, fragte die Kaltenbach nach, während Winterhalter es vorzog zu schweigen.

Er spürte, dass die Kollegin einen engeren Draht zu diesem Mann hatte.

»Ich bin per Chatnachricht dorthin bestellt worden – um acht Uhr morgens«, sagte Charly schließlich.

»Und warum?«

»Es ging …« Charly beugte sich nach vorne. »Es ging um diesen verdammten Wartenberg-Schatz. Um ein Amulett, für das ich mich interessiert habe. Ein Schmuckstück, das früher einmal Rüdi Hellmann gehört hat. Dort im Park sollte die Übergabe stattfinden. Aber ich bin reingelegt worden!«

»Und wie hieß der Anbieter, mit dem du den Deal machen wolltest?«, fragte die Kaltenbach weiter.

»Konrad von Wartenberg.«

»Das klingt nicht besonders überzeugend …«, begann Winterhalter, stockte dann aber. Er besann sich des Chatprotokolls, das Kiefer ausfindig gemacht hatte.

»Und wer steckt hinter diesem Konrad von Wartenberg?«, fragte die Kollegin weiter.

»Ich weiß es nicht, verdammte Scheiße! Auf jeden Fall war das ein Pseudonym. So heißt ja wohl niemand in Wirklichkeit«, ärgerte sich Charly. »Als ich kam, war keiner da. Irgendwann bin ich in diese Gruft und habe Pedro da liegen sehen. Auch er war ja hinter dem Amulett und dem Schatz her. Verdammt noch mal, könnt ihr kapieren, wie ich erschrocken bin?«

»Ja«, sagte die Kommissarin sachlich.

Charly schien kurz innezuhalten, blickte sie an und redete weiter: »Auf jeden Fall bin ich dann nichts wie raus. Das war ’ne Falle – irgendwer hat mich gelinkt.«

Die Ermittler schwiegen – nach einer Weile meldete sich die Kaltenbach zu Wort:

»Könnte Pedro dieser Konrad von Wartenberg vom Chat gewesen sein, der dich dorthin bestellt hat?«

Charly glotzte sie an: »Hä? Warum sollte der …?« Er überlegte: »Der hatte einen anderen Chat-Namen, ich hatte ja in der Vergangenheit zwei-, dreimal mit ihm zu tun. Aber er könnte natürlich auch parallel als Konrad von Wartenberg aufgetreten sein.« Charly dachte offenbar nach: »Aber wer hat ihn dann umgebracht?«

»Tja«, sagte Winterhalter. »Es spricht doch ziemlich viel dafür, dass Sie das waren. Es gibt nur eine Sache, die dagegen spricht …«

»Und zwar?«, fragte die Kaltenbach nun, da Charly zusammengesunken dasaß und sich in Schweigen hüllte.

»Die Kollegen habe Herrn Schmiders Auto wegen des Transports der Leiche vom Warteberg bis zur Gruft durchsucht. Sie haben aber keinerlei Spuren gefunden – und Zeit, die zu beseitigen, hätte Herr Schmider kaum gehabt, weil er ja schon um halb zehn in Freiburg sein musste – und seitdem im Gefängnis saß.«

»Ist dir sonst an dem Morgen im Park nichts aufgefallen?«, fragte Marie.

»Nein«, antwortete Charly. »Wie dein bäuerlicher Kollege sagt: Ich bin dann ins Auto gestiegen und nach Freiburg gefahren, weil ich dort um halb zehn im Knast sein musste. Mit ’nem ziemlichen Schock wegen des toten Pedros.«

»Hm«, machte Winterhalter. »Und davor haben Sie noch das Handy vom Peter Schätzle gefunden und es unten an Ihr Auto geklebt?«

»Quatsch«, sagte Charly wieder. »Ich hab keine Ahnung, wie das Ding da hingekommen ist.«

»Sehr dünne Geschichte«, monierte Winterhalter wieder, der das »bäuerlicher Kollege« als Beleidigung aufgefasst hatte, obgleich es ja stimmte.

»Ich hab doch gewusst, dass ihr mir nicht glaubt«, fuhr Charly ihn an. »Ich bin am Vorabend per Chat kontaktiert und auf acht Uhr in den Scheißpark bestellt worden. Sonst wär ich doch nie da hingekommen.«

Sein Haar hing ihm nun einigermaßen wirr herunter, wie Winterhalter fand.

»Wo waren Sie, als Sie diese Chat-Nachricht erreicht hat?«

»In meiner winzigen Kellerwohnung in Schwenningen. Wieso? Wollt ihr die auch noch durchsuchen?«

»Alles schon passiert«, sagte Winterhalter trocken.

Charly fluchte.

Dass sie dort nichts Entscheidendes entdeckt hatten, verschwieg Winterhalter dem Verdächtigen allerdings.

»Eine andere Frage, Herr Schmider: Von dem Mord an Armin Schätzle wurden Sie genauso überrascht wie wir?«, fragte der Kommissar dann.

»Absolut – und ich bin nur froh, dass ich da schon wieder im Knast war! Sonst würdet ihr mir den wohl auch noch anhängen wollen«, meinte der.

»Kanntest du Armin Schätzle?«, fragte Marie.

»Bin ihm zwei-, dreimal begegnet. Aber an der Geschichte ist doch was faul. Ich bin sicher, dass derjenige, der Armin auf dem Gewissen hat, auch Pedro gekillt hat.«

»Die Indizien sprechen aber dafür, dass Sie der Mörder von Peter Schätzle sind«, nahm ihm Winterhalter den Wind aus den Segeln.

»Dann leckt mich doch am Arsch mit euren Indizien – und bringt mich zurück nach Freiburg!« Charly wurde nun aggressiv.

Kommissarin Kaltenbach schaute erst zu Charly, dann zu Winterhalter.

Der nickte.

»Mir brummt der Schädel«, erklärte Winterhalter seinen beiden Kollegen, als er wieder am Schreibtisch saß. »Ich bin wirklich noch nicht richtig fit.«

»Ich habe ja gesagt: Schonen Sie sich erst noch ein wenig. Jetzt ist es gleich zehn Uhr. Um elf, haben Sie gesagt, müsste Martin Dorer zu Hause sein. Ich fahre nachher mit dem Kollegen Kiefer hin und befrage ihn«, sagte Marie entschlossen.

»Ich komm mit – ich hab schließlich vorher schon Thomas über ihn ausgequetscht – ganz privat.«

Marie wollte gerade etwas entgegnen, da stürmte die Sekretärin Hirschbein herein.

»Vor der Tür prügeln sich zwei Männer!«

Winterhalter erhob sich schnaufend.

»Draußen?«

»Nein, direkt vor …«

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und ein Mann mit einer Kopfplatzwunde stürmte herein, den alle drei kannten.

Am besten von allen Marie.

»Mike!«, rief sie. »Was machst du denn …«

Da stand bereits der Nächste in der Tür. Es war Sven, ihr Verehrer.

Auch er war gezeichnet – die Schwellung unter dem Auge würde sich in ein schönes Veilchen verwandeln. »Ich wollte dich besuchen und mich zum Mittagessen mit dir verabreden«, keuchte Sven. »Da war dieser aggressive Idiot, der dir nachstellt.«

»Du stellst ihr ja wohl nach, du Pfeife! Ich bin ihr Freund!«, gab Mike zurück.

»Ex-Freund«, sagte Winterhalter trocken.

»Was geht dich denn das an?« Mike war schnell beim Du und ziemlich aus der Fassung. »Halt dich da gefälligst raus.«

Er machte zwei, drei Schritte auf Winterhalter zu.

»Mike!«, rief Marie scharf.

Winterhalter platzte der Kragen. »Mal abgesehen davon, dass Sie ein ziemlich schlechtes Timing habe: Soll ich Sie an Ort und Stelle festnehmen lassen?«

»Ja«, meinte Sven.

»Halt du die Fresse«, gab Mike zurück.

Die beiden stürzten sich erneut aufeinander.

»Ganz wie im Tierreich«, kommentierte Winterhalter. »Bekommt der Gewinner dann am Ende das Weibchen?«

Marie schien ihn böse anzufunkeln.

Nach einem neuerlichen Schlagabtausch der beiden Kontrahenten war nun Kiefer, der bis dato nur schweigend daneben gestanden hatte, der Schnellste: Er ging dazwischen.

Dass das nur bedingt von Erfolg gekrönt war, merkte er selbst, denn die Aggressionen richteten sich nun gemeinsam gegen ihn.

Ein blaues Kiefer-Auge später brüllte Marie die beiden Männer aus voller Kehle an, doch nun schlug die Minute von Karl-Heinz Winterhalter. Noch ehe die alarmierten Streifenpolizisten das Büro im Kommissariat mit Handschellen erreicht hatten, hatte er – schlechte Form hin oder her – mit zwei Vorwärtsfußtritten für Ruhe und Ordnung gesorgt.

In Karate war er offenbar besser in Form als beim Tauchen.

»Das hätten Sie auch mir überlassen können«, sagte Marie, woraufhin Winterhalter keuchte: »Andernorts sagt man schlicht: Danke!«

»Danke«, sagte Marie.

Die insgesamt vier uniformierten Beamten führten derweil das Duo auf Freiersfüßen ab.

»Moment!«, rief Marie ihnen hinterher und baute sich vor Sven und Mike auf: »Mike – ich habe keine Ahnung, was du von mir willst. Und du selbst weißt das vermutlich auch nicht. Aber eines kann ich dir sagen: Jetzt ist mal Schluss mit diesem ganzen Theater. Du packst deine Sachen und fährst zurück nach Berlin! Werd erst mal erwachsen. Wenn du das geschafft hast, können wir vielleicht irgendwann noch mal sprechen. Und was dich betrifft«, sie wandte sich Sven zu, »du nervst einfach. Die Antwort lautet NEIN. Ich bin in keinster Weise an dir interessiert. Also verschwinde. Schönes Leben noch!«

Kommissar Kiefer schien sie aus seinem noch intakten Auge bewundernd anzuschauen. Trotz seiner Blessur war die Körperhaltung des Elsässers nach wie vor tadellos.