37. Befragung und Bärlauch

Marie saß auf dem Fahrersitz und grinste in sich hinein, während sie die Salztürme Bad Dürrheims passierten. Sie konnte nicht anders, sie musste immer wieder in den Rückspiegel starren, in dem Kiefer zu sehen war, der sie aus seinem lädierten Auge anblinzelte. Der Anblick wurde durch ein wiederkehrendes Stöhnen ergänzt.

Das Stöhnen stammte von Kommissar Winterhalter auf dem Beifahrersitz, dessen Karatetritte nun offenbar doch ihre Wirkung zeigten. Er musste sich wohl eine Zerrung zugezogen haben.

»Vielleicht wären Sie doch lieber nach Hause gegangen, um sich auszuruhen. Sie sind einfach noch nicht wieder ganz hergestellt«, sagte Marie im Ton einer Hausärztin, als sie gerade von einer startenden zweimotorigen Piper vom benachbarten Flughafen knapp überflogen wurden. »Und dich, Kiefer, hätten wir mit deinem geschwollenen Auge vielleicht besser zum Arzt geschickt.«

»Ach was. Der Kiefer ist doch wieder fit. Und gerade ich sollte bei Martins Vernehmung unbedingt dabei sein. Schließlich kenne ich ihn und hab auch wichtige Hintergrundinformationen durch die Befragung meines Sohnes«, sagte Winterhalter und zog sein »Speckveschper« hervor.

»Das riecht aber lecker«, lobte Kollege Kiefer. »Erinnert mich an einen elsässischen Flammkuchen.«

»Muss das wirklich sein?«, maulte hingegen Marie, da der Speckgeruch sofort vom Innenraum des Polizeifahrzeugs Besitz ergriff und die Veganerin empfindlich störte.

»Immerhin haben wir heut Morgen ja schon was geschafft. Da wird man doch wohl eine Kleinigkeit essen dürfen. Während der Befragung von Martin jetzt gleich wär’s ja tatsächlich eher unpassend. Übrigens ist das schon ein arger Zufall, dass der einen älteren Liebhaber in St. Georgen hat. Das könnte doch wirklich der Peter Schätzle gewesen sein! Verdammt, wenn mir mein Sohn das mal früher gesagt hätte …«

»Thomas wusste ja nicht, dass das für den Fall relevant sein könnte. Außerdem beweist es natürlich noch nichts. Aber es sind schon einige merkwürdige Verbindungen, die Martin Dorer zu den Toten hat: das Patenkind des Selbstmörders, der Mit-Auffinder des ersten Mordopfers und nun auch noch das mit der Liebschaft in St. Georgen. Das wirft schon Fragen auf«, fasste Marie zusammen. »Vielleicht ging Martin ja fälschlicherweise davon aus, dass Armin Schätzle seinen Mann Pedro aus Eifersucht umgebracht hat – und zog ihn deshalb zur Rechenschaft?«, spekulierte sie weiter.

»Oder er hat einfach beide erledigt – warum auch immer«, mampfte Winterhalter.

Nachdem sie Schloss und Schlosspark in Donaueschingen hinter sich gelassen hatten, standen kurz darauf drei ratlose Kriminalbeamte vor dem Mietshaus, in dem Martin Dorer wohnte. Marie klingelte immer wieder.

Keiner öffnete.

Winterhalter wählte die Handynummer von Dorer, die er von seinem Sohn bekommen hatte.

Irgendwann meldete sich die Mailbox.

Der Kommissar setzte weiter auf den Überraschungseffekt und unterließ es, eine Nachricht zu hinterlassen.

»Sehr gut – ein Chinese«, sagte er dann völlig unvermittelt.

»Was?«, fragte Marie verblüfft. Und Kiefer zuckte mit den Schultern.

»Da, ein China-Imbiss. Thai-Chi.« Winterhalter zeigte auf die nächstliegende Kreuzung, wo ein kleines Restaurant asiatische Spezialitäten feilbot. »Dann nutze wir die Zeit. Es ist jetzt genau elf – da hat der vielleicht schon auf.«

»Sie haben nicht etwa schon wieder Hunger? Gerade eben haben Sie ein Speckvesper gehabt. Reicht das nicht?«, fragte Marie provokant.

Winterhalter ignorierte sie und lief zur Kommando-Hochform auf: »Kiefer, du hältst Wache und rufst sofort an, wenn Martin Dorer auftaucht. Kollegin Kaltenbach, mir nach!«

Marie wollte schon protestieren, trottete dann aber doch dem Kommissar im Wandererführer-Look hinterher. Da er nach seinem Tauchunfall nun wieder so viel Dynamik an den Tag legte, wollte sie ihn nicht mehr als nötig ausbremsen.

»Ni hao«, sagte Marie, als sie das kleine Restaurant betraten, das eben geöffnet hatte.

»Ni hao«, antwortete der schmächtige Asiate, der gerade noch Besteck einsortierte.

»Was heißt das?«, flüsterte Winterhalter.

»Guten Tag«, belehrte ihn seine Kollegin.

»Welche Nummer?«, fragte der Mann hinter der Theke.

Winterhalter kramte verblüfft den Zettel mit der Telefonnummer aus seiner Tasche, ehe Marie schwante, dass es dem Ladenbesitzer doch eher ums Essen ging.

Sie nahm sich eine Speisekarte und bestellte die Nummer sieben – einen fleischlosen Salat.

»Beim Chinesen ist man doch keinen Salat«, belehrte sie nun Winterhalter. Er entschied sich für eine klassische Peking-Suppe – Nummer eins.

Sie setzten sich an einen der zweckmäßig eingerichteten Tische gleich neben dem Buddha-Schrein, vor dem eben eine Kerze angezündet worden war.

Außer ihnen war noch kein anderer Gast anwesend.

»Kein Hauptmahlzeit?«, fragte der Asiate nach – er schien etwas enttäuscht.

»Hören Sie – Sie müssen uns helfen«, sagte Winterhalter, als er die dampfende Suppe vor sich stehen hatte und immer wieder nach draußen linste, wo Kiefer allmählich langweilig zu werden schien.

»Rufen Sie bitte mal diese Nummer in China an? Wir sind von der Polizei und müsse ein Alibi abklären. Ich hab mich informiert: Da ist’s jetzt sieben Stunde später als hier – das könnte passen.«

»Ah. Warum Sie nicht rufen selbst an?«, wollte der Asiate wissen.

»Weil wir kein Mandarin sprechen. Ich erklär Ihnen mal, um was es geht …«

»Ich auch nicht Mandarin sprechen. Ich aus Thailand – das ganz andere Sprache.«

Winterhalter unterdrückte einen Fluch und kostete von der Suppe. Die Entenstücke waren nicht püriert, sondern schwammen in kleinen Klumpen in der roten Flüssigkeit. Marie, die sich den Sprossen ihres Salats angenommen hatte, meldete sich nun zu Wort: »Ihr Restaurant heißt aber Thai-Chi. Das bezieht sich vermutlich nicht auf die Kampfkunst Tai Chi, sondern auf Thailand und China. Richtig?«

Der Thailänder verzog keine Miene, sagte aber: »Sie kluge Frau. Meine Frau Chinesin.«

»Ist die da?«

Der Mann nickte und rief nach hinten, ehe eine noch kleinere Frau Ende dreißig mit devoter Haltung aus der Küche kam. Ihr Mann instruierte sie in einer Sprache, von der beide Beamte nichts verstanden.

»Sprechen Sie Deutsch?«, fragte Winterhalter.

Die Frau nickte und verbeugte sich.

»Und Mandarin?«

Die Frau nickte.

Winterhalter erklärte ihr die Sachlage, worauf die Frau sich erneut verbeugte. Vor Polizisten schien man hier gehörigen Respekt zu haben.

Die frisch akquirierte Dolmetscherin machte sich pflichtschuldig daran, die chinesische Telefonnummer zu wählen. Sie begann das Gespräch in Mandarin, wobei sie sich wieder mehrfach verbeugte, sobald sich der Teilnehmer am anderen Ende meldete.

Marie lauschte fasziniert der fremden Sprache, blickte dann aber irritiert von ihrem Salat auf, als die Chinesin den Hörer plötzlich an Winterhalter weiterreichte – mit einer neuerlichen Verbeugung.

Winterhalter machte eine ungelenke Abwehrbewegung, bekam dann aber gesagt: »Der ehrenwerte Herr Li sagt, Sie können auch selbst mit ihm sprechen.«

»Das ist sehr nett, wird aber an der Sprachbarriere scheitern.«

»Herr Li spricht Deutsch …«

Winterhalter verfluchte Dr. Kaiser, der offenbar mit allen Mitteln versucht hatte, ein Telefonat der Polizei mit dem Investor zu verhindern.

Dabei ließ sich binnen zwei Minuten klären, dass Herr Li sich mit Dr. Kaiser am fraglichen Morgen des Mordes an Peter Schätzle getroffen hatte, der Anwalt also tatsächlich über ein Alibi verfügte.

Auf die Frage, warum das Treffen so früh stattgefunden habe, sagte Herr Li: »Sieben Uhr Deutschland ist vierzehn Uhr China.«

Dass Herr Li ihm zum Schluss noch sagte, er würde die Triberger Pläne abbrechen, sollte etwas vorzeitig in die Öffentlichkeit dringen, kümmerte den Schwarzwälder Kommissar nicht. Wobei … Vielleicht sollte er dafür sorgen, dass dieses Verscherbeln der Tradition rein zufällig ans Licht der Öffentlichkeit kam …