Wer annimmt, dass neue Kolonien ausschließlich aus jungen Bienen bestehen, die von den älteren zum Auszug gezwungen wurden, wird bei näherer Betrachtung eines neuen Schwarms feststellen, dass manche Bienen zwar die ausgefransten Flügel des Alters aufweisen, andere hingegen noch so jung sind, dass sie kaum zu fliegen vermögen.
Jacob Stevenson hatte den höchsten Irokesen in der Geschichte der Hood River Valley Highschool. Davon war er bereits überzeugt, noch bevor der Rekord offiziell ins Jahrbuch der Schule aufgenommen wurde. Auf seinem Abschlussfoto war ein blau-schwarzes, zu einer Höhe von vierzig Zentimetern aufgetürmtes Kunstwerk zu sehen. Okay, nicht ganz. Es waren eher achtunddreißig Zentimeter, auf jeden Fall aber genug, um etwaige Kritiker verstummen zu lassen. Es hatte einige Zeit gedauert, bis Jacob der Schopf gewachsen war, den er in vier Spikes unterteilte und der seine optimale Höhe kurz vor den Frühjahrsprüfungen des Vorjahres erreicht hatte.
An diesem Morgen betrachtete er sein Kunstwerk aus Haaren im Spiegel und empfand eine gewisse Genugtuung, weil es ihm allen unvorhergesehenen Herausforderungen zum Trotz bereits seit über einem Jahr gelang, diese Pracht zu pflegen und zu bewahren. Die nicht zu leugnende Wahrheit eines Irokesen war, dass man sich ständig im Kampf mit der Schwerkraft befand und diesen Kampf an einem gewissen Punkt immer verlor. Man musste realistisch sein. Der Plan bestand darin, das maximale Volumen anzustreben, das einen ganzen Tag lang halten würde. Ein umgefallener Irokese wäre furchtbar peinlich, vor allem für einen Achtzehnjährigen. Jacob hatte verschiedene Produkte ausprobiert, um sein Dachgeschoss instand zu halten. Er hatte es mit Eiweiß versucht, mit Bartwachs und Haarspray und sogar mit einem Kleber aus der Holzwerkstatt. Eine äußerst unangenehme Erfahrung. Am Ende seiner ausgedehnten Experimente kam er zu dem Ergebnis, dass eine Mischung aus einem extra starken Haarwachs und Haarspray in Profi-Qualität die beste Wahl war, um diesen beinahe vierzig Zentimeter hohen Gipfel des Erfolgs aufrecht zu erhalten.
Noah Katz hatte den Irokesen am Abend vor dem Frühjahrskonzert der Jazzband offiziell vermessen. Sowohl Jacob als auch Noah waren mit dem traditionellen schwarzen Smoking bekleidet gewesen, den die Mitglieder der Jazzband der Hood River Valley Highschool bereits seit zwanzig Jahren trugen. Jacob war der Ansicht, dass seine Haare einen netten Kontrast zu dem taubenblauen Kummerbund und der Fliege bildeten. Er posierte mit seiner Trompete, während Noah leise lachend ein Foto schoss. In seiner riesigen Pranke wirkte das Handy zwergenhaft klein, beim Lachen zitterten seine Wangen.
»Cool, Stevenson!«
Katz sah aus wie ein gutmütiger Holzfäller. Die zwei waren seit der May Street Elementary befreundet, als sie beide in der Band der Fünftklässler spielten – Jacob die Trompete und Noah die Posaune. Noah trug keinen Irokesenschnitt. Seine Haare waren wild gelockt, und wenn er über sie sprach, nannte er sie »den Zustand«. Im Gegensatz zu Jacob brauchte Noah keinerlei Stylingprodukte, damit seine Haare der Schwerkraft trotzten. Er ließ sie einfach munter wachsen, hauptsächlich, um seine Mutter zu ärgern.
»Aufgepasst, Mädels!«, rief er mit geblähter Brust und zupfte an seinen Locken herum, bis er einem menschlichen Löwenzahn im Pusteblumen-Stadium ähnelte. Er machte ein Selfie. Dann stiegen sie rasch in Noahs Pick-up und rasten quer durch die Stadt zur Highschool, wo sie, wie üblich, zu spät ankamen. Mr Schaffer war sauer, aber ihr Musiklehrer schien sowieso immer auf der Suche nach einem Grund zu sein, die beiden Jungs anzubrüllen. Es war also keine große Sache.
Bei der Erinnerung an diesen Abend musste Jacob lächeln. Er drehte den Kopf erst nach rechts, dann nach links. Auf beiden Seiten seiner Haarpracht sah er ein paar Stoppeln aus dem ansonsten glatt rasierten Schädel sprießen. Er drehte den Wasserhahn auf, hielt einen Waschlappen in den lauwarmen Strahl und befeuchtete sich den Kopf. Dann drückte er sich einen Klecks weiche Rasiercreme in die Hand und tupfte sie auf die Stoppeln. Der zitronige Geruch des weißen Schaums erinnerte ihn ans Krankenhaus, und ihm wurde ein bisschen übel. Er atmete durch den Mund und griff nach seinem Rasiermesser.
Ein Irokese erforderte Disziplin. Er musste sich stets erst die Haare waschen oder sie zumindest nass machen und sie anschließend auskämmen, dann das Wachs in den nassen Schopf kneten, ihn in mehrere Teile scheiteln und mit dem Hochleistungsföhn trocknen, ehe er ihn mit Haarspray einsprühte und zum Schluss die seitlichen Stoppeln abrasierte. An einem warmen Tag wie diesem kam er bei der Prozedur ins Schwitzen. Der Zeitaufwand war wirklich enorm. Aber das war okay. Zeit war das Einzige, was er in diesen Tagen im Überfluss hatte. Zwei Stunden zum Frisieren waren überhaupt kein Problem.
Wie so oft, wenn er morgens vor dem Spiegel im Badezimmer saß, traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. Die dunklen Härchen auf seiner Kopfhaut stachen aus dem weißen Schaum hervor und blieben unbeirrt stehen, etwas, wozu Jacob Stevenson – oder Jake, wie ihn jeder außer seinen Eltern nannte – nicht in der Lage war. Er schluckte schwer. Es kam ihm alles so albern vor, der Haarschnitt selbst und der Rekord, wenn er daran dachte, dass er nicht nur den höchsten Irokesen in der Geschichte der Hood River Valley Highschool hatte, sondern in diesem Bauerndorf, das viel von Rodeos und wenig von Punks hielt, wahrscheinlich der einzige Jugendliche war, der jemals einen Irokesen gehabt hatte. Es war auch deshalb albern, weil er nicht mehr zur Schule ging, nachdem er im letzten Frühling sozusagen seinen Abschluss gemacht hatte. Aber vor allem fand er es albern, weil es an jedem beliebigen Tag so ziemlich das Einzige war, was er zu tun hatte: seine verdammten Haare frisieren. Die Arzttermine wurden immer seltener, und die Physiotherapie fand nur noch einmal im Monat statt. Er hatte alle Zeit der Welt, um der Tatsache ins Gesicht zu sehen, dass er den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen würde.
Jake stieß sich vom Waschbecken ab, rollte etwas nach hinten und betrachtete im Spiegel seinen Körper, der am Rumpf und an den Armen schlank und muskulös war. Seine Beine sahen nicht viel anders aus als vorher, doch es kam ihm manchmal so vor, als gehörten sie einem anderen.
Der Rollstuhl war der Grund, warum er »sozusagen« seinen Abschluss gemacht hatte. Die Schulverwaltung hatte seinen Eltern das Abschlusszeugnis per Post geschickt, während Jake im Krankenhaus lag, hundert Kilometer entfernt in Portland. Die Lehrer hatten ihn bestehen lassen, obwohl sie dafür in manchen Fächern mehr als ein Auge zudrücken mussten, zum Beispiel im Sportunterricht. Er hatte es sich angewöhnt, zu schwänzen und nach der zweiten Stunde zu Noah nach Hause zu gehen, um noch vor dem Mittagessen high zu werden. Bereits vor den Weihnachtsferien war sein Schatten nicht mehr in der Tür zur Sporthalle aufgetaucht. Aber nicht einmal Mr McKenna war Arschloch genug, um einen Schüler durchfallen zu lassen, der den Rest seines Lebens als Querschnittgelähmter verbringen würde. Hallo, Ironie!
Dass Jake seinen Abschluss bekommen würde, hatte ihm seine Mutter an einem der ersten Tage im Krankenhaus mitgeteilt, als er noch mit Medikamenten vollgepumpt war. Sie saß an seinem Bett, die Augen hinter dem rosa gerahmten Brillengestell waren verquollen. Sie versuchte, in seiner Anwesenheit nicht zu weinen, obwohl sie den Stuhl neben seinem Bett so gut wie nie verließ. Stundenlang saß sie da, hielt seine Hand und versicherte ihm flüsternd, dass Gott ihn behüte. Sie hatte ihm die Liste von Leuten vorgelesen, die angerufen oder ihre Gedanken und Gebete per E-Mail geschickt hatten: seine Lehrer, die Nachbarn, der Postbote, Leute aus der Kirchengemeinde. Menschen, von denen er noch nie gehört hatte, aber das sagte er seiner Mutter nicht, denn es hätte sie verletzt. Sie strahlte, als sie auf die Abschlussfeier zu sprechen kam, die zu jenem Zeitpunkt noch mehrere Wochen in der Zukunft lag.
»Wir sind so stolz auf dich, mein Schatz«, sagte sie. »Dein Name wird im Programm stehen. Sie haben Noah gebeten, das Abschlusszeugnis für dich entgegenzunehmen, da du ja nicht in der Lage sein wirst zu …«
Ihre Stimme wurde leiser, dann verstummte sie.
Jake zuckte zusammen, sein Lächeln war eine Grimasse. »Du meinst, da ich nicht in der Lage sein werde zu gehen?«
Er lachte in kurzen Salven, die klangen wie Gebell, und auf einmal konnte er sich nicht mehr beherrschen. Er schob es auf die Medikamente, aber es steckte mehr dahinter. Er konnte nicht aufhören, über das Wort »gehen« zu lachen, das eine völlig andere Bedeutung angenommen hatte, jetzt, wo er seine Beine nicht mehr benutzen konnte. Seine starken Jungenbeine, die Skateboard gefahren, gerannt und geklettert waren, Beine, die er an jedem einzelnen Tag seines erbärmlichen Lebens für absolut selbstverständlich gehalten hatte. Bis zu dem Tag, an dem sie aufhörten zu funktionieren. Er konnte nicht einmal aufhören zu lachen, als seine Mutter ihr Gesicht in den Händen vergrub und schluchzte. Ich bin so ein Arschloch, dachte er, als er nun vor dem Spiegel saß. Er rollte näher heran, betrachtete sich prüfend und bemerkte, dass er viel dünner war als letzten Frühling.
Er hatte gelacht, weil ihn das Wort »gehen« an seinen Vater, Ed Stevenson, und an dessen fleischiges, wütendes Gesicht erinnert hatte.
»Verdammt, man wird ja wohl noch verlangen können, dass du deinen faulen Hintern bewegst und bei der Abschlussfeier zum Podium gehst«, hatte Ed gesagt. »Du bist fast achtzehn, demnächst kannst du deine Sachen packen und sehen, wo du bleibst!«
Das war in den Winterferien des Abschlussjahres gewesen. Jake war gerade klar geworden, dass seine Noten keine Rolle mehr spielten, nachdem er sein Stipendium für die Musikschule verloren hatte, und es schien, als würde er wegen schlechter Leistungen möglicherweise von der Schule fliegen.
»Mach dir um mich mal keine Sorgen, Ed«, hatte Jake geantwortet. Als er auf die Highschool kam, hatte er begonnen, seinen Vater beim Vornamen zu nennen, denn er wusste, dass ihn das ärgerte. »Ich werde schneller von hier verschwunden sein, als du gucken kannst.«
Nachdem der Traum von der Musikschule im letzten Jahr geplatzt war, hatte Jake beschlossen, nach Portland zu ziehen. Er würde in einem Musikladen oder in einem Café irgendwo in der Nähe der Clubs auf der Eastside arbeiten. Genaueres hatte er noch nicht entschieden, aber wie schwer konnte es schon sein, in einer derart großen Stadt einen Job zu finden?
Doch seitdem Jakes Rückenmark verletzt worden war, saß er mit seinem faulen Hintern im Haus seiner Eltern fest. In nächster Zeit würde er nirgendwo hingehen, und weder Ed noch sonst jemand konnte etwas dagegen tun.
Er besserte die rechte Seite seines Kopfes nach, trocknete ihn mit dem Handtuch ab und fing an, das Rasiermesser auf der linken Seite über die Wölbung seines Schädels zu ziehen. Das schabende Geräusch war halb angenehm, halb widerwärtig.
Sein Vater gehörte zu einer sechsköpfigen Baukolonne bei Klare Construction. Das bedeutete, dass er an Wochentagen Überstunden machte, und obwohl diese Stunden Jake lang und gähnend leer vorkamen, empfand er sie doch als Erleichterung. Die Wochenenden waren härter, denn dann richtete sich Ed mit einem halben Kasten Bier und einer Tüte Erdnüsse vor dem Fernseher ein. Jake blieb in seinem Zimmer, hörte Musik oder surfte im Internet. Seine In-Ear-Kopfhörer dämpften das rasselnde Geräusch, wenn sein Vater hustete, den Klang der Erdnussschalen, die in die Schüssel fielen, das weiße Rauschen des Fangebrülls, das bei jeder Sportart und in jeder Saison immer gleich klang.
Jake sah sich im Badezimmer um und betrachtete das tiefer gesetzte Waschbecken und den Spiegel, den Duschstuhl, die Haltegriffe, den verbreiterten Türrahmen. Als erfahrener Tischler hätte sein Vater all diese Renovierungsarbeiten mühelos innerhalb weniger Tage erledigen können, um die Rückkehr seines Sohnes aus der Rehaklinik vorzubereiten, in die Jake nach dem Krankenhausaufenthalt verlegt worden war. Aber Ed hatte keinen Finger gerührt. Die Kirchengruppe seiner Mutter hatte sich um alles gekümmert, eifrig bemüht, Tansy Stevenson, Verwaltungsassistentin des Pastors, und ihrem Sohn Jacob in dieser schwierigen Zeit zu helfen. Sie hatten Geld gesammelt, um die Renovierung zu bezahlen, und eine Arbeitsgruppe von Freiwilligen zusammengestellt, bevor Jake nach Hause kam.
Das hatte ihm seine Mutter bei einem Besuch in der Rehaklinik erzählt. In einem geblümten Kleid und vernünftigen Schuhen, einem Outfit, das normalerweise dem Kirchgang oder Feiertagen vorbehalten war, saß sie neben der Therapieliege. Jake merkte, dass sie in Bezug auf die Renovierung untertrieb, um seinen Stolz nicht zu verletzen. Aber er wusste, dass seine Mom ein Zeichen für Gottes Liebe darin sah, dass all diese Menschen zu ihrem schäbigen, heruntergekommenen Haus hinausgefahren waren, um Tansy Stevenson zu helfen, ihrem Sohn zu helfen. Jake lag auf der Liege, und der Physiotherapeut zeigte seiner Mutter die Übungen, bei denen sie ihn unterstützen musste, um Kontrakturen vorzubeugen. Diese bleibenden Verkürzungen der Muskeln würden sonst einen noch größeren Freak aus ihm machen. Er sah zu, wie sich sein Fuß in der Hand des Physios auf sein Gesicht zu und wieder davon weg bewegte. Er fragte nicht, ob Ed vor der Glotze gesessen und Bier aus Dreiviertelliter-Flaschen geschlürft hatte, während die frommen Gemeindemitglieder das Badezimmer umbauten. Die Frage war überflüssig, denn er wusste ohnehin, dass Ed nicht einmal den Anstand besessen hatte, das Haus zu verlassen, während die anderen die Arbeiten erledigten, für die er zuständig gewesen wäre. Das musste auch für seine Mutter hart gewesen sein. Er war jedenfalls dankbar, dass er das verdammte Bad nun ohne Hilfe benutzen konnte.
Jake öffnete das Fenster einen Spaltbreit und hörte einen Wagen vorbeirumpeln, aus dessen Radio I Will Wait von Mumford & Sons plärrte. Ausgerechnet. Ihm wurde flau im Magen. Er drehte den Rollstuhl herum und griff nach dem Haarspray. Er betrachtete seine nackte Brust und die Schultern im Spiegel, spannte den Bizeps an und lächelte finster entschlossen. Sein Oberkörper war stärker als jemals zuvor, denn um die langen Tage zu füllen hatte er angefangen, Gewichte zu heben.
Als er im Herbst aus der Rehaklinik zurückgekommen war, wollte seine Mutter ihn überreden, weiterhin seine Selbsthilfegruppe in Portland zu besuchen. Ständig nervte sie ihn, er solle den Mentor vor Ort anrufen, der ihm zugeteilt worden war – ein paralympischer Skifahrer, der ganz in der Nähe in Mosier wohnte. Sie stand im Türrahmen seines Zimmers, die Handtasche am Arm, bereit, zur Kirche aufzubrechen.
»Du solltest aus dem Haus gehen, Jacob«, sagte sie. »Du musst unter Menschen kommen, wieder anfangen zu leben.«
Wieder anfangen zu leben. Ihm wurde heiß vor Wut, aber er schwieg. Er schob sich nur die Kopfhörer ins Ohr und drehte sich wieder zu seinem Computer. Jake spielte Tomb Raider, und er gewann. Es war allerdings ein hohler Sieg, denn er spielte gegen sich selbst. Wenigstens hatte er nichts Hässliches zu ihr gesagt. Sie war lieb, seine Jesus liebende Mom. Es war nicht ihre Schuld, dass ihr einziger Sohn, der irgendwie von Anfang an ein Reinfall gewesen war, sich selbst so übel mitgespielt hatte.
Sie waren nicht betrunken, nicht mal leicht angeheitert gewesen an jenem eigenartig warmen Apriltag im vergangenen Jahr. Jemand hatte im Garten von Tom Pomeroys Elternhaus eine Wasserrutsche aufgebaut, und sie rutschten abwechselnd auf dem Bauch die glitschige gelbe Plastikbahn hinunter. Ungefähr zwanzig Leute waren da, alle aus dem elften und zwölften Jahrgang. Die Jungs jauchzten, und die Mädels kreischten, wenn sie über den Rasen schlitterten. Als Jake sich auf die nasse Rutschbahn warf, empfand er einen Anflug von Glück. Für eine Weile erlaubte er sich, den Druck des Lebens nach dem Abschluss und den Stress der Examensprüfungen zu vergessen, bei denen er mit ziemlicher Sicherheit durchfallen würde. Er lenkte sich von der Tatsache ab, dass er das Stipendium für die Musikschule verloren hatte. Anfangs hatte das sehr wehgetan, sich schließlich aber in einen dumpfen Schmerz verwandelt, den er von Zeit zu Zeit ignorieren konnte. Im warmen Sonnenschein, umgeben von seinen Freunden, fühlte er sich so unbeschwert wie ein Kind. Er stieg gerade die Treppe zur Veranda hinauf, als jemand die Stereoanlage aufdrehte. Mumford. Dieses Lied. Es war nur ein Moment, eine gewöhnliche Ansammlung von Sekunden, der außergewöhnliche Auswirkungen auf sein Leben haben sollte.
Jake nahm sich ein Bier aus der Kühlbox und schnorrte eine American Spirit. Eigentlich rauchte er nicht, aber das hier war eine Party, so what? Er stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf, hinter Megan Shine her, die irgendeine Geschichte über ihre Reise nach Mazatlán erzählte. Dort waren sie und ihre Schwestern mit ihren reichen Eltern in den Frühjahrsferien gewesen. Megan war supernett, obwohl sie das gar nicht nötig hatte, weil sie nämlich auch noch fantastisch aussah. Heiß wie eine Cheerleaderin. Blond und so. Nicht sein Typ, aber trotzdem. Sie lachte über etwas, das er gesagt hatte. Sie nahm ihm sein Bier aus der Hand, legte den Kopf zurück, um zu trinken, und er warf verstohlen einen Blick auf ihre schönen Brüste. Vermutlich hätte es sie nicht mal gestört, wenn sie gemerkt hätte, wie sein Blick in ihr Bikinioberteil eintauchte und dann zu ihrem hübschen, flachen Bauch und den knapp sitzenden pinken Shorts wanderte. Jemand griff von hinten nach ihm. Pomeroy drückte Jake mit einem Arm an sich und versetzte ihm scherzhaft einen Klaps auf die rasierte Seite seines Kopfes.
Tom Pomeroy war ein cooler Typ, wenn auch ein bisschen grobschlächtig. Er gehörte zu denen, die immer etwas Körperliches tun mussten: einen Liegestütz-Wettbewerb, von der Eisenbahnbrücke in den Fluss springen oder im Dunkeln auf dem Skateboard durch die Tunnel bei Mosier rasen. Tom war einer von denen, die ihre Kumpels um sich versammelten, damit sie dasselbe taten. Nichts konnte ihn aus der Fassung bringen. Der Typ stellte ständig irgendwelchen Scheiß an, bei dem er sich eigentlich nur wehtun konnte, aber er war wie eine Katze, landete immer auf den Füßen.
Er war größer und stärker als Jake. Pomeroy spielte Football, darum ging Jake dieser Art Ringkampf normalerweise aus dem Weg. Aber aus irgendeinem Grund ließ er nun seine Zigarette fallen und wirbelte herum, um nach Pomeroys fleischigem Oberkörper zu greifen. Vielleicht, weil Megan zusah und lachte. Jake stürzte sich auf den größeren Jungen und schlang ihm die Arme um die Taille. Sein Freund begann unter seinem Gewicht zu schwanken.
»Herrgott noch mal, Stevenson!«, brüllte er, als er ausrutschte.
Es wäre keine große Sache gewesen, hätten sie nicht auf der Terrasse im ersten Stock gestanden. Jake fiel, sein Körper verdrehte sich in der Luft und landete mit einem scheußlichen dumpfen Geräusch auf der niedrigen Mauer, die Mrs Pomeroys Rosengarten von der Einfahrt trennte. Er blickte auf und sah Megan und Pomeroy über den Rand des Vordaches spähen. Er wollte lachen und ihnen zurufen, dass er okay war, aber das stimmte nicht. Und danach war nichts mehr wie früher.
Unglücklich, sagten die Ärzte später zu ihm. Er hatte eine inkomplette Rückenmarksverletzung zwischen den Wirbeln Th 11 und Th 12 im unteren Rücken.
Bei der Erinnerung wurde Jake schlecht. Er atmete tief durch und rollte über den Flur zu seinem Zimmer. Die Dauerschleife in seinem Kopf war wieder angelaufen. Er würde nie wieder gehen können, sagte der Chirurg, aber immerhin hatte er keine Einschränkungen seines Oberkörpers, weil die Schädigung nur partiell war. »Dafür kannst du dankbar sein.«
Jake hatte den Typen angestarrt. Dankbar? Dankbarkeit war das Letzte, was ihm damals in den Sinn gekommen war.
Er zog sein graues Lieblingshemd von Dickies an, knöpfte es zu, griff nach seinem Rucksack und schlang die Riemen um die Lehne des Rollstuhls.
Er habe Glück, weil er seine Hände und Arme noch gebrauchen könne, hatte die rothaarige Krankenschwester gesagt, obwohl er auf einer Körperseite schwächer war als auf der anderen.
Er schob seine Sonnenbrille in die Hemdtasche.
Er sei jung und ansonsten gesund, sagte sein Physiotherapeut immer wieder. Er könne ein richtig tolles Leben haben.
Jake hob erst das eine Bein mit beiden Händen auf die Fußstütze, dann das andere. Er zog seine Doc Martens an, schnürte sie zu und rollte durch den Hausflur, zur Tür hinaus und die Rampe hinunter.
»Eine erfolgreiche Karriere«, meinte sein Therapeut.
Er setzte die Sonnenbrille auf und schob sich die In-Ear-Kopfhörer ins Ohr. Er drehte die Lautstärke seines iPhones auf, und der vertraute kratzige Sound von Ska Punk erfüllte seinen Kopf.
»Computer programmieren vielleicht«, schlug seine Mom vor und nickte erst dem Sozialarbeiter und dann Jake zu. »Du magst doch diese Spiele so gern, oder?«
Er manövrierte den Rollstuhl über die gekieste Zufahrt und hinaus auf den Radweg, der sich entlang der Belmont Avenue schlängelte. Die Räder wirbelten Staub und Kieselsteinchen auf. Er lächelte, denn er hatte richtig Speed drauf. Der Rollstuhl war cool. Seine Mitschüler hatten Geld dafür gesammelt. Andernfalls hätte es nur für das beschissene Ding gereicht, für das die Versicherung seines Dads aufgekommen wäre. Sie hatten die Sache mit der Spende bei der Abschlussfeier verkündet, hatte Noah ihm erzählt. Jake war froh, dass er nicht dort gewesen war und sich deshalb auch nicht hatte bedanken müssen. Das wäre sehr demütigend gewesen, obwohl er tatsächlich dankbar dafür war. Jetzt, wo die Frühlingsniederschläge allmählich nachließen, würde er den Nachmittag wie so oft in letzter Zeit draußen in der Nähe der Obstplantagen verbringen, denn er wusste, dass er dort keinem seiner Freunde begegnen würde. Wer nicht aufs College ging – wie Noah, der arbeitete, um Geld für eine Reise zu sparen –, war entweder bei der Arbeit oder im Skatepark.
Die Luft roch grün und frisch. Der Duft versetzte seinem Herzen einen kleinen Stich. Diese Jahreszeit, in der immer wieder überraschend Regengüsse über die Talsohle fegten und der Wind die Obstgärten in wogende Blütenteppiche verwandelte, hatte ihn immer schon mit Hoffnung erfüllt. Froschchöre sangen in den Bewässerungsgräben, und die Tage wurden unmerklich länger. Habichte saßen auf den Zäunen an den Landstraßen, und winzige Finken sausten durch die Luft. Goldspechte riefen im Schatten des Waldes. Er hatte noch nie jemandem erzählt, dass ihm solche Dinge auffielen, aber der Frühling brachte ihm immer eine heimliche Freude, das Versprechen auf etwas Neues. Er spürte, wie sein Herz sich zu dieser Freude zu erheben versuchte, aber gleich wieder entmutigt zurücksank.
Er drehte die Musik lauter. Es war Connecticut Ska von Spring Heeled Jack, das Stück, mit dem die Band in den frühen Neunzigern in der US-Punkszene aufgetaucht war, kurz vor Jakes Geburt. Jake hatte sich auf Pat Gingras’ Trompete konzentriert und analysiert, wie sich der Sound der Band veränderte, bevor Gingras durch Tyler Jones ersetzt wurde. Er dachte sich Argumente aus, vertrat an diesem Tag sogar die Meinung, Jones’ Stil habe den klassischen Ska-Punk-Sound der Band fortgeführt, was aber im Grunde niemand glauben konnte. Jeder, der ein Ohr für Musik hatte, hörte, wie sich Spring Heeled Jack immer mehr dem Mainstream-Sound der Mighty Mighty Bosstones annäherten, die schließlich einige Mitglieder der Band schluckten. An anderen Tagen stellte Jake Mutmaßungen darüber an, dass Gingras’ Sound authentisch und der wahren Mission der Musik treu war, was tatsächlich seine Meinung und auch die jedes anderen echten Ska-Fans war. Es spielte keine Rolle. Es war wie seine Tomb-Raider-Spiele: nur ein Zeitvertreib in dem Gefängnis, das nun sein Leben war. Dieses Leben war an die Stelle dessen getreten, das er eigentlich führen sollte – ein Leben voller Musik und Versprechen, dieses andere Leben, das sich nun wie etwas anfühlte, das er sich nur eingebildet hatte.
Jakes musikalische Fähigkeiten, die bereits im Kindesalter offensichtlich gewesen waren, stellten für seine Eltern, die keine musikalischen Menschen waren, ein Rätsel dar. Glücklicherweise war er seinen Lehrern aufgefallen, und sie hatten ihm vorgeschlagen, sich der Schulband anzuschließen. Seit der Mittelstufe spielte er Trompete. An ein Leben ohne Musik konnte er sich nicht mehr erinnern, und es gab keine Worte, um es zu erklären, dieses quicklebendige Ding, das da in ihm wohnte.
Im Herbst seines Abschlussjahres hatte man Jake ein Dreiviertel-Stipendium für das Cornish College of the Arts in Seattle angeboten, hauptsächlich aufgrund seiner musikalischen Fähigkeiten und einiger Empfehlungsschreiben. Wären seine Noten besser gewesen, hätte er vielleicht ein Vollstipendium erhalten, aber fünfundsiebzig Prozent waren genug. Er wollte Musiktheorie, Musikgeschichte und künstlerische Praxis studieren mit Trompete als Hauptinstrument. Die schriftliche Zusage hatte er monatelang in seinem Trompetenkoffer aufbewahrt und sie, sobald er allein war, immer wieder hervorgeholt und gelesen, obwohl er sie inzwischen fast auswendig konnte.
»Lieber Mr Stevenson, wir freuen uns sehr, dass wir Sie in der Gemeinschaft des Cornish College of the Arts willkommen heißen dürfen …« Bei diesen Worten wurde ihm schwindelig. Aber als es dann an der Zeit war, eine Anzahlung zu leisten, hatte sich sein Vater geweigert, ihm das Geld zu leihen. Ed hatte dem Flehen seiner Frau keinerlei Beachtung geschenkt und kaum den Blick vom Fernseher gelöst, um ihr zu antworten.
»Musikschule? Na hör mal!«, sagte er verächtlich. »In seinem Alter habe ich bereits voll gearbeitet.«
Damit war der Fall erledigt. Jake wollte an diesen herben Verlust nicht mehr denken. Aber beim Wehklagen von Gingras’ Trompete überfielen offene Fragen seinen Geist und spielten in Dauerschleife: Was wäre, wenn sein Vater ihm das Geld geliehen hätte? Wenn er einen besseren Notendurchschnitt erreicht und das Vollstipendium bekommen hätte? Was, wenn er an den Wochenenden gearbeitet und ein bisschen eigenes Geld angespart hätte? Wie erbärmlich, dass ihm diese Sache, die er so sehr gewollt hatte, entglitten war, weil er sich zu spät ein bisschen mehr Mühe gegeben hatte.
Wie jedes Mal uferten die Fragen aus und wurden immer unerträglicher. Was, wenn er an jenem Tag nicht bei Pomeroy gewesen wäre, sondern für seine Mom den Garten aufgeräumt hätte, worum sie ihn gebeten hatte? Stattdessen hatte er Rechen und Laubsack links liegen gelassen und sich fest vorgenommen, nur eine Stunde auf der Party zu bleiben und den Garten fertig zu machen, bevor sie nach Hause kam. Was, wenn er wegen Megan Shine nicht so eine Show abgezogen hätte? Wenn er noch einmal ganz von vorn anfangen könnte?
Jake drehte die Musik lauter, um seine Gedanken zu übertönen. Beim Indian Creek Golfplatz erreichte er den Fuß des Hügels und nahm sofort die Steigung in Angriff. Die Wolken hatten sich verzogen, oberhalb der Kammlinie veränderte sich die Farbe des Himmels von orange zu gelb. Die Apfel- und Birnbäume hatten eine verwirrende Schönheit entfaltet, die Blüten wehten leicht über die Talsohle dahin bis zum Fuß des schneebedeckten Mount Hood. Die Temperatur fiel, und Jake atmete den feucht-grünen Duft der bewässerten Obstplantagen ein. Er spürte den schwachen, leicht bitteren Geschmack des Zeugs in der Kehle, mit dem die Bäume gespritzt wurden. Er redete sich ein, dass es die Pestizide waren, die seine Augen brennen ließen.
Er fuhr den nächsten Hügel hinunter, ohne auf den alten Mann zu achten, der seinen Golfwagen angehalten hatte, um dem Jungen mit dem Irokesen hinterherzustarren, der im Rollstuhl auf die Kreuzung zuraste. Mach dir keine Sorgen um mich, alter Mann, dachte er. Das Schlimmste ist längst passiert.
Aber stimmte das? Vielleicht bestand das Schlimmste ja darin, dass in seinem jämmerlichen Leben nie wieder etwas passieren würde. Im nächsten Monat richtete die Hood River Valley Highschool wieder eine Abschlussfeier aus, die des Jahrgangs 2014. Hipp, hipp, hurra! Zweihundert junge Menschen würden im Leben vorankommen, aufs College oder zur Arbeit gehen oder wenigstens aus diesem Provinznest fortziehen. Die ganze Woche dachte er schon darüber nach. Er stand unmittelbar bevor, der erste Jahrestag des Ereignisses, das seinem bisherigen Leben ein Ende gesetzt hatte. Sauber, Jake. Du hast es vermasselt. Genau, wie dein Alter es dir dein Leben lang prophezeit hat. Gute Arbeit, du Niete.
Der Nachmittag neigte sich, die Dämmerung kam näher, und Jake fuhr schnell am alten Schulhaus in Oak Grove vorbei, das seinen langen Schatten auf die Apfelplantage warf. Er sah, wie in den Schuppen der Plantagenarbeiter die Lichter angingen, und erblickte Gestalten, die auf Leitern standen und deren Schatten zwischen den Baumreihen allmählich länger wurden. Er fuhr nach Süden auf die Silhouette des Mount Hood zu, der vor dem grüngelben Horizont im Abendlicht zu glühen schien.
»Demnächst kannst du deine Sachen packen und sehen, wo du bleibst.«
Die Worte hallten in seinem Schädel wider, und Jake stellte die Musik auf volle Lautstärke. Er nahm den Geruch seines Schweißes wahr, der nun anders roch als früher. Wie der eines alten Mannes oder eines Kranken, und er kam sich selbst wie ein Fremder vor. Er versuchte, sich auf die weiße Linie am Straßenrand zu konzentrieren, neben der so weit außerhalb der Stadt kein Radweg, sondern nur ein schmaler Seitenstreifen verlief.
Er wehrte sich gegen eine Flut von Bildern: Megan Shines Lächeln und die Sonne, die hell auf ihr Bikinioberteil scheint. Seine Finger, die über die Ventile fliegen, während er beim Jazz-Wettbewerb des Bundesstaats ein Trompetensolo bläst und ihm das Herz bis zum Hals schlägt. Noah, der die Halfpipe im Skatepark rippt. Wie er, Jake, im Bandbus eine Dose Kaubonbons herumgehen lässt. Und wie er am Strand seinem gefleckten Hund hinterherrennt. Alles vorbei. Diese Dinge waren ein Teil des Lebens, das er einmal gehabt … und das er verloren hatte. Ihm blutete das Herz, und er hasste sich dafür. Er hasste die Tränen, die ihm über die Wangen liefen und die er sich selbst nicht mehr als Schweiß verkaufen konnte. Er hasste das, was er aus seinem verdammten Leben gemacht hatte und wofür er niemand anders verantwortlich machen konnte als sich selbst. In diesem Moment hatte er das Gefühl, auf unwiderrufliche Art gebrochen zu sein.
Jake war so tief in seine Gedanken versunken, dass er den Pick-up nicht hörte, der sich ihm von hinten näherte. Er blickte nach vorn und sah nicht, dass ein Rad des Wagens jenseits der weißen Linie auf dem Seitenstreifen fuhr. Ein großer Pick-up, dessen Fahrer den Jungen in der Dämmerung erst entdeckte, als die Scheinwerfer auf die Rückseite des Rollstuhls trafen. Jake hörte das Kreischen der Bremsen über die Musik hinweg, dann stand alles still.