Ein möglichst einfach konstruierter Bienenstock ist eine exakte Nachahmung der Behausung von Bienen im Naturzustand. Er besteht aus einem schlichten hohlen Gefäß, in dem sie, geschützt vor der Witterung, ihre Vorräte anlegen können.
Die ganze Nacht lang sauste der Wind ums Haus herum wie auf der Suche nach etwas, das er verloren hatte. Er stahl sich unter die Fensterbänke und kroch in die Ecken, rüttelte an Türknäufen und pfiff durch den Flur. Alice lag im Bett und lauschte. Das Leben hier im Tal zwischen dem alten Vulkan und der Flussschlucht war nicht denkbar ohne den Wind. Sie war aufgewachsen mit dem nahezu ständig wehenden Westwind, der im Sommer den Fluss schaumig schlug und im Winter die Wälder mit Schnee verwüstete. Als kleines Mädchen stellte sie sich den Wind als lebendiges Wesen vor, ein riesiges, geflügeltes Geschöpf, das über das Tal hinweggaloppierte. An manchen Tagen tanzte es über die Obstplantagen hinweg und ließ seine üppigen Röcke fliegen. Dann wieder war es dünn wie ein Pfeil und raste zwischen den Ladenfronten durch die engen Gassen im Herzen der Stadt hindurch. An diesem Abend war der Wind klein und gereizt und schwirrte herum wie eine verirrte, in eine Zimmerecke getriebene Honigbiene. Er war wie eine Erinnerung, ein Wunsch oder ein vergessener Traum.
Sie hörte den pulsierenden Ruf einer Eule, ein Zeichen, dass die Morgendämmerung weit weg war und noch immer die Nacht regierte. Sie döste, bis sie vom klagenden Gurren der Tauben geweckt wurde, die sich gegen fünf Uhr als graues Gestöber auf dem Wassertrog für die Hühner niederließen. Dann, kurz vor der Morgendämmerung, begann Red Head Ned, ihr stets pflichtbewusster Zwerghahn, zu krähen. Es lag am Wind, an den Vögeln und den Hühnern, dass sie nicht schlafen konnte, redete sie sich ein, nachdem sie vollends erwacht war. Nicht an dem Jungen. Als ihr dieser Gedanke kam und sich auf ihrer Brust niederließ wie eine eigensinnige Katze, die nicht aufstehen will, ergab sie sich schließlich dem Wachzustand. Der Junge. Sie schwang die Füße aus dem Bett und setzte sich seufzend auf. Natürlich war der Junge der Grund. Auch gestern bei der Arbeit hatte sie den ganzen Tag an ihn gedacht.
Alice kochte Kaffee, setzte sich mit aufgestützten Ellbogen an ihren Resopaltisch und spähte in den Garten hinaus. Dem Jungen ging es eindeutig gut. Der Rollstuhl war vermutlich auch in Ordnung, aber sie hatte keine Zeit gehabt, darüber zu reden, bevor vorgestern Abend die Schreierei losgegangen war. Sie begriff, dass seine Mutter sich einfach Sorgen um ihn gemacht hatte. Was der schwachsinnige Vater zu ihr gesagt hatte, störte sie nicht weiter. Aber sie machte sich Gedanken um Jakes Wohlergehen. Was tat er den ganzen Tag lang? Hatte er einen Job? Ging er zur Schule? Sie glaubte sich zu erinnern, dass er einen Highschool-Abschluss erwähnt hatte. Aber womit füllte er sein Leben aus? Wie mochte das Leben mit einem solchen Vater sein?
»Alice, Liebling. Was willst du denn für diesen Jungen tun?«
Sie konnte die Stimme ihres eigenen Vaters beinahe hören, den schnellen Rhythmus seiner Worte und den Rest eines deutschen Akzents.
»Du bist nicht für ihn verantwortlich. Er hat eine Familie.«
Genau das hätte Al gesagt. Dabei hatte er gut reden. Obwohl er darauf bestand, dass die Leute sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern sollten, war Al Holtzman ein notorischer Menschenfreund gewesen. Er hatte sich in die Probleme anderer Leute hineinziehen lassen. Er hatte sich in ihre Lösungen hineinziehen lassen, wie er es auszudrücken pflegte. Nach und nach hatte Alice verstanden, dass ihr Vater diese Frage – was willst du denn tun? – nur deshalb stellte, weil er helfen würde, sollte sich eine konkrete Möglichkeit dazu bieten. Er tat es auf seine ruhige Art, denn er wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er wusste, dass Mrs Travis von einer Witwenrente lebte, und wenn ihr weißer Lockenkopf in der Kassenschlange im Little Bit so weit hinter ihm war, dass sie ihn nicht hören konnte, bezahlte er ihren Lebensmitteleinkauf. An einem kalten Herbsttag lud er ein Klafter Holz vor Tom Connollys zugigem Haus ab und beklagte sich darüber, dass es verdammt noch mal nicht anständig brennen wollte. Er zahlte das Pfandrecht auf Juan Garcias Autowerkstatt ab. Marina fuhr aus der Haut, als sie davon hörte. Aber Al sagte nur, Garcia sei ein netter Mensch und habe vier kleine Kinder. Er hatte mit einem Bandscheibenvorfall im Krankenhaus gelegen. Wo Al solche Dinge erfuhr, blieb ein Rätsel. Ihr bescheidener Vater wusste um die Unwägbarkeiten des Lebens, mit denen sehr viele Leute zu kämpfen hatten.
»Was willst du denn für diesen Jungen tun, mein Liebling?«
Wenn es keine klare Antwort gab, war es sinnlos, weiter über diese Frage nachzudenken. Das war der Rat, den Al ihr gab, sogar aus dem Grab heraus.
Alice seufzte. »Mir fällt nichts ein, Dad.«
Sie schüttete etwas Knuspermüsli in eine Schüssel und begann zu essen. Dann gab sie einen Löffel Zucker in eine weitere Tasse Kaffee. Sie wusste, dass sie schreckliche Essgewohnheiten hatte, aber es war ihr egal. Gestern Abend hatte sie die Minikekse aufgegessen, einen nach dem anderen, als müsste sie eine Arbeit zu Ende bringen. Die Leere, die sie ständig empfand, war kein Hunger, das wusste sie, aber Zucker war zumindest vorübergehend eine Lösung.
Um ihren Tag zu planen, ging Alice mit ihrem Notizbuch hinaus in den Bienengarten. Sie war dankbar, dass Samstag war und sie nicht ins Büro musste. Der Wind hatte sich gelegt, es war ein herrlicher Morgen. Sonnenlicht fiel durch die Äste der Pappeln an dem kleinen Fluss. Es wärmte die weißen Seiten ihrer Bienenstöcke, sodass die Mädels in voller Stärke ausgeschwärmt waren. Ihre goldgelben Leiber irrlichterten über den Klee hinweg, in Doug Ransoms Obstplantage hinein und darüber hinaus bis wer weiß wohin. Auf Futtersuche konnten sie mehr als fünf Kilometer weit fliegen. Alice wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, ihnen zu folgen und ihre Bienengeheimnisse zu erfahren. Kleine Webcams, dachte sie, und musste an Jakes Witz über Lassos und winzige Treibhunde denken.
Sie saß auf einem Baumstumpf und sah sich ihre Notizen von gestern an. Am frühen Morgen, noch vor der Fahrt zur Arbeit, hatte sie die Ableger eingesetzt.
Freitag, 11. April 2014, Sonnenaufgang: 6:27 Uhr, Temperatur: 17 °C / 6 °C, Windstärke: 3 bis 4, Niederschlag: 0 cm, Sonnenuntergang: 19:47 Uhr. Anzahl Bienenstöcke bis jetzt: 24. Bemerkungen: 12 Russische Ableger an der Nordostseite des Bienengartens. Jede Beute mit fünf Rähmchen Brut, Pollen und Honig. Bienenstöcke datiert und mit Nr. 13 bis 24 versehen. Überführung ohne besondere Vorkommnisse.
Der letzte Satz entlockte ihr ein ironisches Lachen. Der Transport der Ableger war zwar problemlos verlaufen, dennoch hatte sie das Gefühl, sie müsste das ungewöhnliche Ereignis zumindest erwähnen, bei dem sie in der Nacht vor dem Einsetzen der neuen Ableger einen Teenager im Rollstuhl von der Straße gedrängt hatte. Sie setzte ein Sternchen hinter das Wort »Vorkommnisse« und fügte die Bemerkung »(*Jake Stevenson)« als Fußnote hinzu, ehe sie sich an den Eintrag für diesen Tag machte.
»Samstag, 12. April 2014«, schrieb sie und notierte rasch den Zeitpunkt des Sonnenaufgangs, die vorhergesagten Höchst- und Mindesttemperaturen und die Windstärke. Dann fuhr sie fort: »Aufgaben: vollständige turnusgemäße Überprüfung der Bienenstöcke 1 bis 12«. Damit würde sie einige Stunden beschäftigt sein.
Alice setzte ihren Imkerhut mit Schleier auf, streifte sich die Handschuhe über und begann, sorgfältig ihre zwölf ursprünglichen Bienenkästen zu überprüfen, von denen jeder zwei übereinanderliegende Bruträume enthielt. Mit dem Stockmeißel löste sie die Blechhaube, legte sie beiseite und entfernte den Innendeckel. Sie lockerte ein Rähmchen und nahm es vorsichtig heraus. Sie hielt es hoch und suchte nach Eiern, Larven und verdeckelter Brut. Sie überprüfte auch den Bestand an Pollen und Honig, dann legte sie dieses Rähmchen ab und holte das nächste heraus. Während die Sonne am Himmel emporstieg, führte sie diese Arbeiten an allen zehn Rähmchen pro Zarge in den oberen und unteren Bruträumen der zwölf Bienenstöcke durch. Nur zwei wollten nicht recht gedeihen. Wahrscheinlich hatten die Königinnen den Winter nicht überstanden. Sie entdeckte jede Menge Drohnenbrut, das Anzeichen für Eier legende Arbeiterinnen, Königinnenzellen waren hingegen nicht angelegt worden. Alice beschloss, Rähmchen aus gesünderen Bienenstöcken hinzuzufügen, um die schwächelnden zu stärken.
Sie sah ihre Notizen durch und ermittelte die beiden stärksten Bienenstöcke. Im ersten fand sie Rähmchen, die von einem Kranz aus verdeckeltem Honig umgeben waren, darunter goldene und orangefarbene Streifen von Pollen und mehrere Reihen gesunde Brutzellen. Alice atmete den süßen Duft von Wachs und Honig ein. Dieser hier würde sich sehr gut entwickeln. Wenn die Königinnen in den kranken Bienenstöcken gestorben waren, konnten robuste Arbeiterinnen wie diese innerhalb von drei Wochen eine neue heranziehen. Sie notierte, dass sie in fünf Tagen erneut alles auf Königinnenzellen überprüfen musste, und machte sich dann summend an die Arbeit, indem sie gesunde Rähmchen in die beiden schwachen Bienenstöcke verlegte.
Alice hatte den problemlösenden Teil der Imkerei immer genossen. Jeder Bienenstock war ein lebendiger Organismus mit unterschiedlichen Bedürfnissen. Die Bienen faszinierten sie, diese zielstrebigen Geschöpfe, die allesamt unermüdlich für das Wohl des großen Ganzen arbeiteten. Sie erschufen so viel Schönes … die Honigräume, ja, aber auch die Mittelwände aus Bienenwachs und die glänzenden Pollenvorräte, deren Farbspektrum von Zitronengelb über Kürbisorange bis zu Rubinrot reichte. Sie staunte, dass ihr schlichtes Hobby, das mit einem einzigen Bienenstock angefangen hatte, bereits zu vierundzwanzig Beuten geführt hatte. Sie stand in der Sonne, und die Bienen summten um ihren verschleierten Kopf herum, während sie die Zahl auf sich wirken ließ. Vierundzwanzig, das war beinahe die Hälfte von fünfzig. Diese Zahl kam ihr vor wie ein Wendepunkt. Sie nahm den Hut ab, setzte sich in den mittäglichen Schatten, betrachtete ihren Bienengarten und kaute auf ihrem Bleistift herum. Hier war noch jede Menge Platz zum Wachsen. Wenn sie beim Teilen und Wiedereinfangen der Schwärme systematisch vorging, konnte sie am Ende des Sommers bei fünfzig Bienenstöcken angelangt sein.
Diese Vorstellung begeisterte Alice wie schon lange nichts mehr. Obwohl sie von Natur aus praktisch veranlagt war und Hindernisse gern von vornherein mit einkalkulierte, dachte sie nun lediglich: Warum nicht? Sie blätterte in ihrem Notizbuch zum letzten Sommer zurück, zu dem Tag, an dem sie Details der Honigernte notiert hatte, die pro Bienenstock eine Ausbeute von sechsundzwanzig bis achtunddreißig Liter ergeben hatte. Sie hatte den Honig für zwanzig Dollar pro Liter verkauft und nach Abzug der Unkosten sechstausend Dollar eingenommen. Ein anständiges Sümmchen. Ihre Aufregung wuchs. Was konnte sie mit mehr Bienenstöcken, mit mehr Honig erreichen? Der Gedanke kam ihr sofort: Dann konnte sie es sich leisten, einen Obstgarten anzupflanzen. Sie ließ den Blick über ihre Wiese schweifen, die flach und von der Sonne beschienen dalag. Nur etwas Kleines, nicht wie die legendäre Plantage der Familie Holtzman. Aber es würde ihr gehören. Ja. Warum nicht?
Sie würde Hilfe brauchen, so viel stand fest. Allein die Ernte im August war eine gewaltige Aufgabe, und im Herbst würde sie Hilfe beim Anpflanzen der Bäume brauchen. Aber angesichts der zu erwartenden Honigverkäufe und erst recht, wenn sie sich der Aufzucht von Königinnen widmete, konnte sie es sich leisten, jemanden einzustellen. Sie schritt den Bienengarten ab und überschlug, für wie viele Stöcke Platz war. Ihre Begeisterung wuchs.
Zurück im Haus rief sie auf ihrem Computer die Website des Wochenmarkts auf und sah die Kleinanzeigen durch. Die Löhne waren nicht besonders hoch. Zehn bis fünfzehn Dollar pro Stunde für einen WWOOFer, manchmal sogar weniger.
»Ihr könnt eure WWOOFer gern behalten«, sagte sie spöttisch.
Ehrenamtliche Helfer von WWOOF – Worldwide Opportunities on Organic Farms. In letzter Zeit hatte sie die häufiger gesehen. Es waren Jugendliche aus Australien, die die Stände auf dem Wochenmarkt betreuten. Schmutzige Haare und Hippieklamotten, genau wie Joyful. Sie arbeiteten für Kost und Logis. Nein, vielen Dank, dachte sie. Sie wollte weder als Fremdenführerin tätig sein, noch war sie scharf darauf, jemanden bei sich zu Hause aufzunehmen. Alice war gern allein hier unten in dem kleinen Tal. Bei dem Ausdruck »gemeinschaftliches Wohnen« bekam sie eine Gänsehaut. Schon als kleines Kind hatte sie die Einsamkeit geliebt. Alice Island, hatte ihre Mutter sie geneckt. Alice Ganz Allein. Ihr Vater hingegen verstand sie. Auch seine Eltern waren Einzelgänger gewesen. Ihr gefiel es ziemlich gut. Meistens jedenfalls.
Sie öffnete das Formular für die Kleinanzeigen und tippte: »Hilfe gesucht: Bienenfarm sucht Hilfskraft für den Sommer. Teilzeit. Erfahrung nicht erforderlich. Muss bis zu einem Zentner heben können. Grundlegende Baukenntnisse von Vorteil. 13 bis 15 Dollar Stundenlohn, Verhandlungssache. Info unter 541-555-2337 oder per E-Mail an al.holtzman@gorge.net.«
Für diesen Lohn würde sie vermutlich einen Schüler bekommen, und nach den Ferien würde der Großteil der Arbeit erledigt sein.
An diesem Nachmittag machte Alice Besorgungen. Schmirgelpapier und Pinsel kaufte sie bei Ace Hardware, dem örtlichen Baumarkt, und obwohl ihr davor graute, besorgte sie in dem verdammten Supermarkt diesmal noch etwas anderes als Müsli. Sie fand es schrecklich, den Little Bit betreten zu müssen, und das nicht nur wegen der Panikattacke. In Hood Rivers einzigem Supermarkt ging es zu wie auf dem Marktplatz, und Alice hasste Small Talk. Alte Leute kauften morgens ein, junge Familien nachmittags. Zu beiden Tageszeiten begegnete sie zuverlässig irgendeiner Freundin ihrer Mutter oder jemandem, den sie noch von der Highschool kannte. Daher erledigte sie ihre Einkäufe normalerweise spätabends und niemals am Wochenende. Unter der Woche waren abends nur junge Männer und Latinofamilien unterwegs. Auch sie wollten nicht stehen bleiben, um zu plaudern, jedenfalls nicht mit ihr. Aber der Kühlschrank war leer, also würde sie mit den Leuten zurechtkommen müssen.
Vor Ace Hardware sprang sie in den Pick-up und ließ die Papiertüte mit den Einkäufen auf den Boden fallen. Um Platz zu machen, legte sie ihre Windjacke auf die Rückbank. Da sah sie den kleinen Rucksack. Er musste Jake gehören, also öffnete sie ihn und holte das Portemonnaie heraus. Zum Vorschein kam das breite Lächeln des Jungen und diese verrückte Frisur, die nur zum Teil auf das Bild gepasst hatte. Jacob Todd Stevenson, geboren am 2. Februar 1996. Braune Augen, schwarze Haare. Größe: 1,78 Meter, Gewicht: 66 Kilo. Aber sicher, Junge. Vielleicht, wenn du einen Bleigürtel trägst. Jungen und Frauen logen, wenn es um ihr Gewicht ging, natürlich in entgegengesetzter Richtung. Ich werde ihm das Ding zurückbringen müssen, dachte sie, und aus irgendeinem Grund wurde ihr leichter ums Herz.
Als Alice sich durch den Supermarkt quälte, begegnete sie Mary Condon. Mary war eine Freundin ihrer Mom gewesen und erzählte ihr, sie sei kürzlich an der Hüfte operiert worden. Es machte Alice nichts aus, ihr zuzuhören. Das fiel ihr leichter, als sich mit ihren eigenen alten Freunden zu unterhalten, die sie nur traurig ansehen und am Arm berühren würden.
»Wie geht es dir, Alice?«, würden sie fragen. Als ob sie die Antwort nicht längst wüssten.
Sie steuerte gerade auf den Gang mit dem Müsli zu, da sah sie von hinten Debi Jeffreys, die Büroleiterin der Planungsabteilung des Countys. In ihrem Einkaufswagen türmten sich die Waren. Drei kleine Jungs hingen seitlich daran und johlten wie Piraten. Alice beschloss, dass sie doch kein Müsli brauchte, und reihte sich in die Kassenschlange ein.
Sie fuhr die Twelfth Street hinunter und bog in den Greenwood Court ab. Auf der Stoßstange des gelben Ford Focus vor der Hausnummer Elf klebte ein Sticker mit der Aufschrift: »Gott ist mein Co-Pilot.« Beim Gedanken an die Szene, die sich vorgestern Abend hier abgespielt hatte, beschleunigte sich ihr Puls, und sie atmete tief durch. Sie stellte den Motor aus und blieb sitzen, ließ ein paar Sekunden verstreichen. Das war Kleinstadt-Höflichkeit: Wenn man sich nicht angekündigt hatte, wartete man in der Einfahrt. Nach einigen Minuten öffnete sich die Tür. Die Mutter des Jungen kam heraus und beschattete mit einer Hand ihre Augen. Sie winkte, kam die Stufen hinab und lächelnd auf Alice zu. Die stieg aus ihrem Pick-up und hielt den Rucksack hoch wie eine Fahne der Kapitulation.
»Hi!«, rief sie. »Ich möchte nicht stören. Ich wollte nur rasch das hier abgeben.«
Jakes Mutter lächelte immer noch. Als sie beinahe bei Alice angekommen war, streckte sie eine Hand aus.
»Ich bin Tansy. Tansy Stevenson«, sagte sie. »Und Sie sind Alice, richtig?«
Alice nickte und lächelte ebenfalls. Tansy griff nach ihrer Hand und schüttelte sie. Eine Sekunde zu lange hielt sie sie fest, was Alice in Verlegenheit brachte, weil es sich so intim anfühlte. Tansy schien nicht aufzufallen, wie eilig sie die Hand wieder zurückzog.
»Es tut mir wirklich leid wegen neulich abends. Als Jacob mir erzählt hat, was passiert war, fühlte ich mich schrecklich. Edward und ich sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie ihn sicher nach Hause gebracht haben. Wir danken dem lieben Gott, dass Sie da waren und ihm geholfen haben.«
Alice bezweifelte, dass Tansys Ehemann dem lieben Gott für irgendetwas dankte, aber sie sah, dass der Frau mit der rosa gerahmten Brille und dem gelockten Pony die Tränen kamen, und sie empfand Mitleid. Tansy war jünger als sie, trug einen Polyesterrock in A-Linie und Nylonstrümpfe zu flachen Absätzen. Auf einmal war sich Alice überdeutlich ihres schmutzigen Arbeitsanzugs und des Sonnenhuts bewusst, unter dem ihre Haare hervorlugten.
»Das war das Mindeste, was ich tun konnte«, sagte sie. »Die ganze Sache tut mir schrecklich leid. Ich habe ihn da draußen in der Dunkelheit einfach nicht gesehen.«
Seufzend legte sich Tansy die Finger an die Schläfen und schüttelte den Kopf. »Er sollte mir eigentlich versprechen, nicht mehr allein durch die Gegend zu fahren, aber er ist nun mal schrecklich stur.«
Sie versuchte zu lachen, doch Alice sah, dass in ihren Augen noch immer Tränen glänzten.
»Und in letzter Zeit gibt es nur wenig, was Jacob noch genießt …« Ihre Stimme verklang.
Alice wusste nicht, was sie sagen sollte. Der Schmerz in der Stimme der Frau sprach Bände über das junge, zum Stillstand gekommene Leben ihres Sohnes.
»Also. Ich zahle gern für alle nötigen Reparaturen an seinem Rollstuhl«, sagte Alice.
Lächelnd holte Tansy ein Papiertaschentuch aus dem Ärmelaufschlag und tupfte sich die Augen ab. »Mit dem Stuhl scheint alles in Ordnung zu sein, aber trotzdem danke für das Angebot.«
»Wir sollten für alle Fälle unsere Nummern austauschen«, sagte Alice und ging zurück zum Wagen, um einen Stift zu holen. Rasch schrieb sie ihre E-Mail-Adresse und Telefonnummer auf die Baumarkt-Quittung, und ihr wurde klar, dass sie Zeit zu gewinnen versuchte, weil sie den Jungen zu sehen hoffte. Da öffnete sich quietschend die Fliegengittertür, und Jake tauchte auf, mit Irokesenschnitt und allem Drum und Dran. Sie bemerkte seine dunklen Augenringe und das blasse Gesicht. Er lächelte zögerlich.
»Hey Alice!«, rief er, kam über die Rampe heruntergerollt und bremste direkt vor ihren Füßen. Alice fiel auf, wie mühelos, ja, geradezu elegant er den Stuhl zu manövrieren verstand. Im hellen Tageslicht sah er noch jünger aus. Sie bereute, dass sie vorgestern so unvermittelt aufgebrochen war, was auch immer sein dummer Vater gesagt hatte.
Jake entdeckte den Rucksack, der neben seiner Mutter auf dem Boden lag.
»Danke. Den habe ich vermisst.«
»Kein Problem«, antwortete Alice und erwiderte sein Lächeln.
»Wie geht es den Ladys?«, fragte er. »Haben sich alle von ihrem großen Abenteuer erholt?«
Alice lachte leise. »Ja, sie leben sich gut ein.«
»Okay. Tapfere kleine Bräute, genau wie Sie gesagt haben. Alle schwer mit der Aufzucht der Kinder beschäftigt?«
Alice freute sich, dass er sich ihre Worte gemerkt hatte.
»Allerdings«, sagte sie.
Tansy blickte von Alice zu Jake und wieder zu Alice.
»Bienen, Mom! Hab ich dir doch erzählt. Sie ist Bienenzüchterin.«
Jake wedelte mit beiden Händen in der Luft herum, seine Augen waren geweitet. »Sie hat Tausende Bienen zu Hause. Tausende!«
»Nun, tatsächlich sind es sogar Zehntausende«, sagte Alice. »In jedem der Kästen in meinem Wagen befanden sich ungefähr zehntausend Bienen.«
»Heilige Scheiße! Das ist ja unglaublich!«
»Jacob. Pass auf, was du sagst.«
»Tut mir leid, Mom«, sagte er. »Aber mal ehrlich, es stimmt doch.«
Er legte den Kopf schief und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Du hättest mal sehen sollen, wie sie überall herumgeflogen sind, nachdem Alice gegen den Zaun gefahren war. Die Kisten purzelten alle durcheinander. Und sie ist einfach hingegangen, hat sie aufgehoben und wieder auf die Pritsche gestellt, als wäre nichts dabei.«
Tansy schauderte. »Stechen die Sie denn nicht?«
Alice zuckte mit den Schultern. Diese Frage kam immer zuerst. »Manchmal. Aber wie ich Jake bereits erklärt habe: Bienen stechen nur, wenn sie sich bedroht fühlen.«
So sehr Alice Small Talk hasste, so gern redete sie über Bienen. Sie könnte Tansy von den Wächterinnen erzählen, falls sie das Thema tatsächlich interessierte. Aber das erledigte bereits Jake für sie. Er warf Alice einen flüchtigen Blick zu.
»Ja, ich habe es gestern erst nachgeschlagen. Echt cool. Das ist wie bei Gandalf im Herrn der Ringe: ›Du kannst nicht vorbei!‹ Ich habe auch etwas über Wespen im Bienenstock gelesen. Was unternehmen Sie gegen die? Legen Sie Köder aus, oder lassen Sie die Bienen gegen sie kämpfen?«
Alice öffnete den Mund, um zu antworten, doch da hörte sie in der Auffahrt hinter sich das tiefe Brummen eines Dieselmotors. Sie drehte sich um und sah Jakes Vater wütend aus dem Fenster eines silberfarbenen Ford F-250 starren. Der Motor jaulte auf, als er zurücksetzte und auf der Straße parkte. Mit wutverzerrtem Gesicht kam er auf sie zu, jeder seiner Schritte schwer unter der Last dieser neuerlichen Unannehmlichkeit.
»… nicht mal in seiner eigenen Einfahrt parken, verdammt!«, murmelte er beim Näherkommen. Aus Jakes Gesicht war das Lächeln verschwunden, und Tansy wirkte nervös. Der Vater musterte die beiden mit finsterem Blick. Irgendetwas sagte Alice, dass so etwas ziemlich oft passierte.
»Was wollen Sie denn hier? Außer dass Sie meine verdammte Einfahrt zuparken?«
Seine Wrangler’s hatten eine Bügelfalte, an seinem karierten Hemd steckte ein Namensschild, auf dem in einer fröhlichen, feminin wirkenden Handschrift stand: »Hallo! Ich bin Edward!« Das Ding musste etwas mit einer Betriebsfeier zu tun haben. Der Kontrast zu seinem griesgrämigen Gesicht war so groß, dass Alice unwillkürlich lächelte.
»Sie finden das wohl lustig, was?«
»Edward, Lieber«, sagte Tansy. »Alice hat Jacobs Rucksack zurückgebracht …«
»Ich glaube, ich sagte bereits, dass Sie aus meiner Einfahrt verschwinden sollen«, fauchte er, ohne seiner Frau Beachtung zu schenken. »Und damit meinte ich, dass Sie sich auch in Zukunft davon fernhalten sollen. Ist das wirklich so schwer zu verstehen, Lady?« Seine Stimme steigerte sich zu einem Heulen, und er sah aus wie ein bockiges Kind.
Alice schwieg. Abgesehen von seiner farbigen Ausdrucksweise, war sie selbst mit einem überaus liebenswürdigen Vater aufgewachsen. Aber auch sie war dieser Sorte Mann bereits begegnet, genau wie jede Frau in Amerika, die älter als fünfundzwanzig war. Sie hatte mit Männern gearbeitet, die Mobbing als normalen Führungsstil betrachteten. Testosteronvergiftung, pflegten sie und ihre Freundin Nancy zu scherzen. Dennoch waren es die Frauen, die hysterisch genannt wurden. Sie sind wie kleine Kinder, diese wütenden Männer, dachte sie. Ständig bekamen sie wegen irgendetwas einen Wutanfall.
In Alices Geist machte etwas klick. Kleine Jungs. Edward Stevenson. Eddie.
»Eddie Stevenson«, sagte sie laut. »Eddie Stevenson aus der Hatch Street.«
Edward blieb vor Überraschung der Mund offen stehen.
»Ich bin Alice Holtzman«, sagte sie und betrachtete ihn genauer. Ja, er musste Ende dreißig sein und damit ungefähr sieben Jahre jünger als sie.
»Ich war die Nachbarin Ihrer Babysitterin. Jeannine Sharp. Wissen Sie noch?«
Sie schnippte mit den Fingern und lachte. »Ich habe ihr geholfen, Sie zu baden, als Sie drei Jahre alt waren.«
In ihrem Kopf flackerte die Erinnerung auf. Die lustige Jeannine, die so viel Geduld mit kleinen Kindern hatte. Alice saß im Badezimmer auf dem Boden und sah zu, wie der Junge in der Wanne planschte, während Jeannine seiner kleinen Schwester die Windel wechselte.
Ed wurde blass und trat vor Unbehagen von einem Fuß auf den anderen. Jake wirkte skeptisch, so als könnte er nicht glauben, dass sein Vater jemals ein nacktes kleines Kind gewesen war. In Eds Gesicht sah Alice so etwas wie Scham. Und Furcht.
Was war damals passiert? Die hässliche Geschichte stieß ihr auf wie ein säuerlicher Geschmack. Sie war in der elften Klasse, als sie bei einem Footballspiel davon hörte. Die kleinen Jungs hatten nach dem Unterricht auf dem Schulhof eine verwilderte Katze gefangen. Und sie zu Tode gequält. Alice blickte ihn an und erkannte im Gesicht dieses Mannes den kleinen Jungen wieder. Sie stellte sich die Schmutzstreifen auf seiner Nase vor, den sonnenverbrannten Nacken, den Igelschnitt und die zerrissenen Shorts. Er musste damals etwa neun Jahre alt gewesen sein. Sie hatten ihn nach Spokane zu Verwandten geschickt, bei denen er fortan leben sollte.
»Ja«, sagte sie gedehnt. »Sie sind von der Schule geflogen, damals auf der May Street Elementary. Sie und Craig Stone.«
Eine solche Grausamkeit legten Kinder in dieser kleinen Stadt nur selten an den Tag, so etwas vergaß man nicht. Das arme, hilflose Geschöpf, das ein solches Ende nicht verdient hatte. Und Jake, der mit einem solchen Vater leben musste.
Alice schnürte es die Kehle zu, ihr Atem wurde flacher. Die Zeit schien langsamer zu vergehen. Sie hielt ganz still und wartete darauf, dass sie keine Luft mehr bekommen und ihre Brust sich zusammenziehen würde. Aber dazu kam es nicht. Das hier war etwas anderes. Anstatt sich zu trüben, wurde ihr Sehvermögen schärfer, und dasselbe galt für ihr Gehör. Sie hörte den höhnischen Schrei einer Krähe und spürte den frischen Atem des Frühlingschinooks im Nacken. Anstatt sich zu fühlen, als könnte sie in tausend Teile zerspringen, empfand sie ein Gefühl weiß glühender Geschlossenheit. Es schwebte über ihrem Kopf wie eine Segnung.
Ed schwieg noch immer, sein Gesicht wirkte blass und spitz. Er schien in sich zusammenzufallen. Alice spähte zu Tansy hinüber, die mit einer Hand das Geländer der Rampe für den Rollstuhl umklammert hielt. Ihre Augen waren geschlossen, die Wimperntusche hatte Spuren auf ihren Wangen hinterlassen. Sie wusste, wen sie geheiratet hatte.
»Was willst du denn für diesen Jungen tun?«, murmelte die Stimme ihres Vaters in ihrem Ohr. Alice trat einen Schritt zurück und atmete aus.
»Ich sollte jetzt lieber gehen«, sagte sie, löste den Blick von Ed und sah auf den Jungen im Rollstuhl hinunter. »Aber ich möchte dir einen Vorschlag machen.«
Sie gab Jake die Quittung von Ace, auf der ihre Telefonnummer und die E-Mail-Adresse standen.
»Die Sache ist die, ich möchte gern jemanden einstellen. Ich brauche Hilfe im Bienengarten. Erfahrung ist nicht nötig, und es handelt sich um einen Teilzeitjob. Ich habe die Anzeige heute erst aufgegeben. Geh auf die Stellenbörse bei gorge.net. Und wenn du es versuchen willst, ruf mich an.«
Sie hörte sich sagen, dass Kost und Logis als Teil des Lohns verhandelbar seien. Es spielte keine Rolle mehr, dass sie noch am Morgen die Nase gerümpft hatte bei der Vorstellung, einen WWOOFer einzustellen. Die Worte purzelten ihr einfach aus dem Mund.
Mit ausdrucksloser Miene betrachtete der Junge das Stück Papier. Er war definitiv genauso überrascht von dem Vorschlag wie Alice selbst.
Auf einmal erwachte Ed wieder zum Leben. »Lady, kümmern Sie sich verdammt noch mal um Ihre eigenen Angelegenheiten! Wenn Sie nicht sofort von meiner Zufahrt verschwinden, trete ich Ihnen in den Arsch, dass Sie bis nach Odell segeln!«
»Edward, bitte!« Tansy fasste ihren Mann am Arm.
Erneut spürte Alice, wie sich die weiß glühende Hitze auf sie herabsenkte, und sie gab sich freudig der Vorstellung hin, diesem Mann wehzutun. Sie hörte, wie die Nachbarn Fenster und Türen öffneten, um zu lauschen. Der vernünftige Teil ihres Selbst wusste, dass sie niemals in der Lage wäre, jemanden zu verletzen. Natürlich nicht. Sie war eine Holtzman. Dennoch strömte dieses seltsame Gefühl durch ihre Adern … eine Wildheit, die irgendwie dafür sorgte, dass sie völlig ruhig wurde. Sie blickte Ed unverwandt in die Augen.
»Falls Sie das wirklich tun«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme, »rufe ich den Sheriff. Er ist mein Schwager.«
»Lady, wenn Sie wissen, was gut für Sie ist …«, zischte Ed.
»Ich finde, das klingt super, Alice!«, rief Jake, der in seinem Rollstuhl neben ihr saß. »Tatsächlich komme ich gleich mit und sehe mich mal bei Ihnen um.«
Seine Mutter hatte sich zurückgezogen und lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen an der Veranda.
»Jacob«, schluchzte sie.
Ed starrte höhnisch auf seinen Sohn hinunter. »Ach, du willst also Arbeiter werden? Na, ob das wohl klappt?«
Jakes Augen funkelten vor Zorn, als er zu seinem Vater aufblickte. »Tja, das werden wir dann schon sehen, nicht wahr, Eddie?«
Alice sah, wie der Mann bei dem Namen Eddie erneut in sich zusammensank. Er machte den Mund auf, brachte aber keinen Ton heraus.
Jake richtete sich in seinem Rollstuhl auf, als hätte Alices Wut auch in ihm einen Funken entzündet. Das Feuer in seinen Augen brannte lichterloh und trieb ihn an.
Bald darauf verließ Alice in ihrem Pick-up den staubigen Hof, fuhr an dem zerstörten Esel vorbei und in die helle Aprilsonne hinein. Auf dem Beifahrersitz saß mit strahlenden Augen der achtzehnjährige Jake Stevenson, aus den Lautsprechern dröhnte Bruce Springsteen.
Was zum Teufel habe ich nur getan?, dachte sie.