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RAUB

Bienen neigen derart stark dazu, sich gegenseitig zu berauben, dass der Imker ohne umfassende Vorsichtsmaßnahmen des Öfteren einige seiner vielversprechendsten Bestände verlieren wird.

L. L. LANGSTROTH

 

Der Tag des Protests dämmerte so kalt herauf, als wolle der Frühling das Tal nur widerstrebend loslassen, obwohl sich die blühenden Obstgärten und Farmen bereits dem Sommer zuneigten. Nachdem der Wind die ganze Nacht lang geweht hatte, war er zu einer säuselnden Brise abgeflaut und fand den Weg in jede Ecke der Farm. In den Beuten war es still, denn die Bienen warteten darauf, dass die wärmende Sonne sie hervorlocken würde.

Alice saß auf dem Rand ihres Betts und betrachtete die Fotos auf ihrer Kommode – Bilder ihrer Eltern, ihrer Neffen und von Buddy. Die jüngste Aufnahme von ihm war etwa eine Woche vor seinem Tod gemacht worden. Grinsend wie ein Teenager stand er neben der Fahrerkabine des langen Fernlasters, den er einige Monate zuvor gemietet hatte.

»Ich fühle mich hinter dem Steuer dieses Dings unglaublich männlich«, hatte er an jenem Tag lachend zu Alice gesagt.

Die Hände in die Hüften gestemmt und mit gereckter Brust stand er da. »Na komm schon. Bin ich nun ein echter Kerl oder nicht?«

»Du bist ein zu groß gewordener Junge, Bud Ryan. Und wenn du nicht aufpasst, wollen bald alle männlichen Kinder in diesem Tal in deinem neuen Spielzeug durch die Gegend fahren«, versetzte Alice.

Bud hatte sie auf eine lange Tour durch die Stadt mitgenommen, bevor er zu seinem ersten Job aufbrach, der ihn als Vertragsspediteur für The Home Depot nach Salt Lake City und wieder zurück führte. Alice musste zugeben, dass die Aussicht von dem hohen Sitz großartig war, und sie wusste, dass Bud, der leidenschaftlich gern fuhr, sich auf offener Strecke prächtig amüsieren würde. Als er von dieser ersten Tour zurückkam, entlockte ihr seine ansteckende Begeisterung das Versprechen, ihn bei der nächsten Fahrt hinunter in den Südwesten zu begleiten. Sie werde sich Urlaub dafür nehmen, sagte sie. Aber dazu kam es nicht. Sie hatte viel zu tun, und er war weiterhin unterwegs. Irgendwann trat Bud jene letzte Reise nach Las Vegas an, und danach war alles aus.

Alice konnte sich immer noch nicht erinnern, was er als Letztes zu ihr oder sie zu ihm gesagt hatte. Sicherlich etwas Routinemäßiges, ein paar nette Worte. Sie stritten sich nie. Sie konnte sich weder erinnern, ihn zum Abschied geküsst zu haben, obwohl sie das bestimmt getan hatte, noch wusste sie, was sie getragen hatte. In den ersten Wochen nach seinem Tod wurde sie wach gehalten von dem Zwang, sich solche Dinge ins Gedächtnis zu rufen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit wanderte sie im Haus umher und versuchte sich zu erinnern. Aber jetzt begriff sie, dass all das keine Rolle spielte. Bud war tot, und nichts würde daran etwas ändern, ebenso wenig wie an der Tatsache, dass sie einander geliebt hatten.

Alice fuhr sich mit einer Bürste durchs Haar. Bud hätte gutgeheißen, was sie nun tat. Der Gedanke stärkte sie. Die letzten zwei Wochen waren vergangen wie im Flug. Treffen mit Stan und seinen Partnern, Besuche bei Obsterzeugern überall im Tal, dazu Textnachrichten zwischen ihr und Ron, der Wort gehalten hatte und mit anpackte, indem er einigen Farmern persönlich einen Besuch abstattete. Alice hatte auch Chuck Sauer und die Imkergruppe für die Aktion angeworben. Jakes junge Freundin Celia hatte für sie den Kontakt zur Mexican American Workers Union hergestellt. Die Leute von Riverkeeper brachten Collegestudenten aus Portland mit. Alice war gewappnet. Sie fühlte sich, als zöge sie in eine Schlacht.

Mit Cheney auf der Ladefläche brachte sie die Jungs zum öffentlichen Festgelände draußen in der Nähe der Highschool, wo der Protestmarsch beginnen würde. Ungefähr einhundert Menschen standen in Gruppen zusammen und unterhielten sich, während sie darauf warteten, dass es losging. Harry holte Jakes Rollstuhl, und Alice sagte, sie würde zu dem weißen Zelt in der Mitte der quirligen Ansammlung von Demonstranten gehen und sie anmelden.

Auf dem Weg durch die Menge kam ihr die Atmosphäre nahezu festlich vor, das Ganze ähnelte eher einem Umzug als einer Umweltdemo. Sie winkte ein paar Männern vom Imkerverein zu und erblickte den lieben Doug Ransom mit Victoria, seiner ältesten Tochter.

»Gute Arbeit, meine Liebe«, sagte er freudestrahlend.

Alice sah die jungen Frauen von Riverkeeper, ein paar Fischer und Naturschützer und einen Typen vom Nationalpark. Als sie der jungen Frau, die für den Check-in verantwortlich war, ihre Namen nannte, war sie überrascht, in der Sitzreihe hinter sich Casey zu entdecken, den rothaarigen Praktikanten. Er starrte auf einen Laptop und tippte gleichzeitig wild auf seinem Handy herum. Als er Alice sah, winkte er verlegen.

»Hast du dich dem Widerstand angeschlossen, Kleiner?«

Er stand auf und verschränkte die Arme. »Na ja, nächste Woche ist mein Praktikum zu Ende, und da dachte ich mir: Warum nicht? Ich kümmere mich für Stan um die Sozialen Medien. Ich werde das gesamte Event live twittern.«

Alice nickte. »Ich habe zwar keine Ahnung, was das heißt, aber trotzdem: Danke, dass du uns hilfst.«

Casey zog den Kopf ein und wandte sich erneut seinen Bildschirmen zu.

Direkt vor dem Zelt begegnete Alice Stan, der stirnrunzelnd auf ein Stück Papier blickte. Als er sie sah, hellte seine Miene sich auf.

»Alice! Heute ist ein guter Tage für eine Meuterei, nicht wahr?«

Stan bat sie, während des Marsches die Obsterzeuger und Bienenzüchter anzuführen, und wies sie auf einen Tisch hin, an dem Studenten aus Portland Schilder für die verschiedenen Gruppen angefertigt hatten. Alice begegnete Dennis Yasui, Vic Bello und einigen anderen Obstbauern, außerdem den Mitgliedern des Imkervereins. Sie rief alle zusammen und händigte ihnen Schilder aus, auf denen zu lesen war: »Marschieren für die Bienen!« und »Zwei Drittel der Nutzpflanzen in Amerika sind von Honigbienen bestäubt!« und »Keine Farmen = Kein Essen!« Bald darauf stieg Stan auf einen Stuhl vorn im Zelt, winkte und stieß einen Pfiff aus. Die Stimmen erstarben.

»Vielen Dank euch allen! Danke, dass ihr heute hierhergekommen seid, um den Wasserschutzverband von Hood River, Riverkeeper Portland und die Clean Air Alliance zu unterstützen. Außerdem nehmen Vertreter der Konföderation der Native Americans von Warm Springs teil, die Mexican-American Workers Union, die Clínica del Cariño und der Imkerverein von Hood River. Außerdem danken wir den Collegestudenten der Portland State University, die ebenfalls hergekommen sind, um uns zu helfen. Ich weiß, dass ihr euch vom Job oder der Schule freigenommen habt, um hier zu sein, und das rechne ich euch hoch an. Applaus für euch alle, die ihr euch für die Umwelt einsetzt!«

Die Menschenmenge klatschte und jauchzte. Alice sah in die lächelnden Gesichter um sich herum und spürte die Energie, die sie alle durchströmte. Sie fühlte sich wie ein Teil von etwas Gutem.

Stan erläuterte die Route des Demonstrationszuges. Die Gruppe würde die Fir Mountain Road bis zu Randy Osakas Zufahrt hinuntermarschieren. Sie würden keinen Hausfriedensbruch begehen, sondern lediglich die Straße blockieren, sodass der Tanklaster mit dem Spritzmittel nicht vorbeikommen würde. Stan rief allen in Erinnerung, dass es sich um eine friedliche Protestkundgebung handelte und man weder Beschimpfungen noch Gewalt dulden werde. Er machte ihnen klar, dass sie wegen der Blockade der Landstraße festgenommen werden konnten. Wer es sich anders überlege und nicht mehr teilnehmen wolle, würde von niemandem dafür verurteilt, dass er die Segel streiche. Er blickte Alice an. Sie wusste, dass er die Wahrheit sagte. Ron hatte mit den Obsterzeugern als Privatmann gesprochen, ihnen aber deutlich zu verstehen gegeben, dass er ihnen darüber hinaus nicht helfen konnte. Sie straffte den Rücken. Sie war von diesem Vorhaben überzeugt. Es war sinnvoller als alles andere, was sie in diesem Jahr getan hatte.

»Okay! Dann geht es jetzt los!«, rief Stan.

Er sprang von dem Stuhl und führte die Gruppe vom Parkplatz hinunter. Weiter hinten rief jemand: »Yippie!«, und die Leute jubelten. Jemand schlug eine Trommel. Alice sah Harry und Jake, die von hinten aufrückten, Noah im Schlepptau. Sie wartete, bis die Jungs sie eingeholt hatten. Der angeleinte Cheney richtete sich auf und leckte ihr übers Gesicht. Die Leute klatschten im Rhythmus der Trommel, jemand stimmte Give Peace a Chance an, und zahlreiche Demonstranten stimmten mit ein. Die Studenten der PSU gingen Hula-Hoop-Reifen kreisend und Regenbogenfahnen schwingend vorbei.

Als die Maisonne auf den Demonstrationszug herabschien, verzog sich die morgendliche Kühle. Sie kamen an der Highschool vorbei, wo Kinder auf dem Parkplatz standen und auf das Klingeln zur ersten Stunde warteten. Einige hüpften leichtfüßig auf die Protestierenden zu und reihten sich ein. Alice sah, wie sich eine einsame Gestalt mit schlaksigem Körper und kurzem Haarschopf auf einem Skateboard vom Boden abstieß und den Hügel hinunterrollte. Kurz vor Jake hielt sie an und hüpfte von dem Brett. Dem Jungen waren seine Gefühle deutlich anzusehen.

»Hi Amri«, sagte er.

»Ich dachte mir, dass du es bist.«

»Woran hast du mich erkannt?«

Das Mädchen lächelte. »An dem Hund natürlich.«

»Ich schätze, du hast meine Textnachricht bekommen?«

»Ja, habe ich.«

»Hey Alice, das ist Amri«, sagte er. »Alice ist unsere Herbergsmutter.«

Alice schnaubte und nickte dem Mädchen zu. Sie verspürte einen Anflug von Beschützerinstinkt für Jake. Brich ihm ja nicht das Herz, dachte sie.

»Freut mich, dich kennenzulernen, Amri.«

Die Marschierenden strömten den Hügel hinunter und am Golfplatz vorbei. Die Mexican-American Workers Union hatte Sí se puede angestimmt, und der Rest der Gruppe begann mitzusingen. Aus vorbeifahrenden Wagen und Lkws wurde gehupt und gewunken, während die Gruppe sich die Straße hinunterschlängelte. Alice sah einen Honda rechts ranfahren, dem gleich darauf Pete Malone entstieg. Er gesellte sich zu dem Strom von Menschen, ging rückwärts und machte Fotos. Ein Schatten fiel auf Alices Gesicht, und als sie aufblickte, sah sie einen sehr großen, langhaarigen Mann in Board Shorts und Kapuzenpulli, der erst Harry und dann Jake abklatschte.

»Hombres! Das ist ja ’ne Revolution hier!«

Das muss Yogi sein, der Kitelehrer, der kein Kitelehrer ist, dachte sie. Sein breites Gesicht war zu einem Grinsen verzogen. Er unternahm keinen Versuch, auch Alice abzuklatschen, sondern schüttelte ihr höflich die Hand und verfiel dann in Gleichschritt mit Harry.

Wir sehen aus wie die Bremer Stadtmusikanten, dachte Alice.

Als sie sich Osakas Farm näherten, verlangsamte die Gruppe den Schritt und schloss sich enger zusammen. Stan hielt sich ein wenig abseits und wies die Leute an, sich hinzusetzen. Alice sah, dass Jake sich an die Spitze der Gruppe drängte. Cheney zerrte jaulend an der Leine, und Jake blickte über die Schulter.

»Ich will weiter nach vorn«, sagte er. »Nimm Cheney so lange für mich, okay?«

Er gab Harry die Leine und manövrierte den Rollstuhl nach vorn und in die Mitte. Alice folgte ihm. Dasselbe taten Harry, der von Cheney mitgerissen wurde, Amri und auch Yogi, der sanfte Riese. Alice sah Pete Malone ein Foto von ihnen schießen, und sie dachte, dass ihre Fünfergruppe aussah wie die Rädelsführer dieser zusammengewürfelten Bande von Demonstranten, bestehend aus Bienenzüchtern, Obstbauern, Umweltschützern, Farmarbeitern und Studenten. Sie hielten bunte Schilder in der Hand, auf denen zu lesen war: »Zur Hölle mit SupraGro!« und »Schützt unser Trinkwasser!« Jemand schwenkte eine Traube Heliumballons. Trommeln wurden geschlagen, und die Leuten sangen America the Beautiful. Lachend sah Alice sich um. Es war die reinste Party, auch wenn der Fahrer eines leuchtend orangefarbenen Lkws das vermutlich anders sah. Der Truck quälte sich den Hügel hinauf und näherte sich schwerfällig der Abzweigung zu Osakas Obstplantage, wo er um neun Uhr morgens mit dem Spritzen beginnen sollte.

Als der Fahrer abbremste, übertönte das Puffen der Kompressionsbremse des Tankwagens den Gesang. Besorgnis huschte über sein Gesicht, während er die Szenerie betrachtete. Er schaltete den Lastwagen in den Leerlauf, blickte auf die Menschenmenge hinunter und holte sein Handy heraus. Jubelschreie erklangen, und Stan rief allen zu, sie sollten sitzen bleiben.

In dem Durcheinander, das nun folgte, kam Alice flüchtig der Gedanke, dass der Fahrer Fred Paris angerufen hatte. Aber das konnte nicht sein. Wahrscheinlich hatte er sich bei seiner Firma erkundigt, was er tun sollte, da er schließlich nicht mit dem Tanklaster in eine Gruppe friedlicher Demonstranten fahren konnte, von denen noch dazu einige minderjährig waren.

Alice hörte Motorengeräusche hinter sich. Sie drehte sich um und sah aus der anderen Richtung eine Reihe von Pick-ups kommen. Sie fuhren auf den Seitenstreifen der Landstraße und um die Demonstranten herum, wirbelten Staub auf und parkten zwischen dem Tanklastzug mit dem Spritzmittel und den Leuten, die auf der Straße saßen. Türen öffneten sich, die Männer sprangen heraus und stellten sich in einer Reihe auf der anderen Straßenseite auf. Alice sah Fred Paris aus seinem weißen Ford steigen. Er stemmte die Hände in die Hüften und gesellte sich zu den anderen. Wütend starrte er die Demonstranten an, dann ging er hinüber zu dem Truck und winkte den Fahrer aus der Kabine.

In Oregon war das offene Tragen von Waffen erlaubt, und Alice sah mehr als nur eine Pistole samt Halfter. Mehrere Männer hatten Baseballschläger dabei. Ein paar der Sitzenden machten Anstalten, aufzustehen, aber die anderen hielten sie zurück. Verwirrtes Gemurmel erhob sich. Stan hatte ihnen nicht gesagt, was sie in einer derartigen Situation tun sollten, wahrscheinlich, weil er mit dieser Art von Bürgerwehr nicht gerechnet hatte. Weitere Pick-ups tauchten auf und umkreisten die Menge, die mitten auf der Fir Mountain Road saß, fest entschlossen, das Sit-in aufrechtzuerhalten. Auch Alice straffte Rücken und Schultern. Sie hörte, wie Stan alle zur Ruhe ermahnte, konnte ihn aber nicht sehen. Erneut begann jemand, Give Peace a Chance zu singen, verstummte aber, als niemand in den Gesang einstimmte.

Steifbeinig entfernte sich Fred vom Fahrer des Tanklasters und ging zurück zu den in einer Reihe stehenden Männern.

»Verpisst euch von der Straße!«, brüllte er. »Ihr blockiert hier ein Privatgrundstück!«

Dann winkte er die Männer nach vorn. Sie schoben sich zwischen die Demonstranten und fingen an, sie zu stoßen und nach ihnen zu treten.

»Das hier ist ein friedlicher Protest!«, hörte Alice jemanden rufen. Yogi sprang auf und stürzte sich auf die Eindringlinge. Jemand schubste Harry, und Cheney bäumte sich bellend auf. Yogi holte von oben aus und verpasste Fred Paris einen Schlag ins Gesicht. Dann verlor Alice sie alle aus den Augen. Die Leute schubsten und drängelten, um von der Straße zu kommen. Aber hinter ihnen tauchten noch mehr von Freds Kumpanen auf. Die Zeit schien langsamer zu vergehen. Alice versuchte sich aufzurappeln und bekam einen Ellbogen ins Auge. Sie hörte Sirenen, sah Blaulicht, und während sie sich mühsam auf den Beinen zu halten versuchte, trat ihr jemand gegen den Kiefer. Sie stürzte in das Gewimmel von Körpern, versuchte sich freizukämpfen und rang verzweifelt nach Luft. Mitten im Gewühl sah sie Amri, die junge Frau mit den grünen Augen und dem dunklen Haar, die ihr Skateboard schwang und es einem Mann, der doppelt so groß war wie sie, auf die Schulter schlug. Alice fing schallend an zu lachen.

Halb aus dem Rollstuhl hinausgeschleudert lag Jake auf der Seite. Er versuchte, den Kopf zu heben. Amri hatte er aus den Augen verloren, und wo war Cheney? Zwei große Hände griffen nach ihm, zogen ihn in seinen Rolli und stellten ihn wieder auf. Yogi, dessen lange Haare strähnig vor Schweiß waren, lächelte ihn unter einer klaffenden Wunde in seiner Augenbraue hervor an.

»Kumpel, du musst hier raus! Diese Idioten sind wirklich …«

Eine Faust traf ihn am Mund. Yogis Kopf wackelte hin und her, ehe er vor Freude zu knurren und auf einen kleineren Mann einzuschlagen begann. Er packte Jakes Rollstuhl und bugsierte ihn aus dem Gewühl.

»Ich komme wieder und hole dich!«, brüllte er, ehe er sich erneut in den Kampf stürzte.

Jake hielt nach Noah, Alice und den anderen Ausschau, aber er konnte sie nirgends entdecken. Die Leute boxten, schubsten und schrien, und er sah niemanden, den er kannte.

Auf einmal landete eine Hand auf seiner Schulter. Als er den Kopf hob, sah er einen Mann mittleren Alters in einer Sheriffuniform, der finster auf ihn herabblickte.

»Setz den hier in den zweiten Transporter!«, schnauzte der Sheriff und ging dann weiter.

Plötzlich tauchte Ronnie neben dem Rollstuhl auf. Er wirkte verlegen.

»Tut mir echt leid, Mann! Ich muss. Er ist mein Chef. Und mein Dad«, sagte er und schob Jake aus der Menschenmenge hinaus.

Kurz bevor der Sheriff auftauchte, war Harry aufgefallen, dass es den fiesen Typen soeben gelungen war, eine Schneise zu Randy Osakas Zufahrt zu schlagen. Es war so ungerecht, dass es in seinen Eingeweiden brannte. Die Menge war auf diesen Kampf nicht vorbereitet und stand kurz davor, ihn zu verlieren. Am Rand des Chaos entdeckte er Jake. Und Yogi, der fröhlich die muskulösen Arme schwang. Alice oder Cheney sah Harry nicht. Irgendwo im Gewühl hatte sich der Hund losgerissen. Sirenen plärrten, und dann brüllte der Sheriff per Megafon etwas in die Menge. Harry drehte sich um und betrachtete den großen orangefarbenen Tanklaster, der im Leerlauf auf der Straße stand.

In den Monaten nach seiner Verhaftung in New York hatte ihn niemand gefragt, warum er sich bereit erklärt hatte, seinen Freunden bei dem gescheiterten Raub zu helfen. Vor allem wollte niemand wissen, warum er sich hinter das Steuer des mit Elektronik vollgestopften Trucks gesetzt hatte, den seine Freunde zu stehlen beschlossen hatten. Seine Mutter fragte ihn zwar, was er sich dabei gedacht hatte. Aber das war nicht dasselbe, wie wenn sie ihn nach seiner Motivation gefragt hätte.

Obwohl niemand es von ihm hören wollte, wusste Harry genau, warum er das getan hatte. An jenem Tag mit Marty und Sam in der Bar war er tatsächlich gerade im Gehen begriffen. Er leerte sein Pabst Blue Ribbon Bier und stellte die leere Dose auf die Theke. Plötzlich fragte ihn Marty: »Hast du etwa eine bessere Idee, Stokes? Du hast doch in deinem ganzen Leben noch keinen originellen Gedanken gehabt. Also tu nicht so, als wärst du etwas Besseres als wir.«

Harry schwieg, dachte aber, dass Marty recht hatte. Er war nichts Besonderes. Was für ein Leben würde er führen mit seinem bescheidenen Abschluss, draußen in der Vorstadt bei seinen Eltern? Die Wirtschaft lag am Boden, und Harry hatte nichts vorzuweisen, womit er sich von den Tausenden anderen Arbeitslosen in seinem Alter abheben könnte. Also, warum nicht?

Nachdem er monatelang im Gefängnis darüber nachgedacht hatte, wurde ihm klar, dass er diese Entscheidung aus Selbsthass getroffen hatte. Sie war leichtsinnig und verletzend, mit Sicherheit für seine Eltern, aber auch für ihn selbst. Man konnte nicht einfach aufhören, sich anzustrengen, um etwas zu erreichen. Man musste an etwas glauben. Und wenn man sich selbst nicht mochte, wie konnte man dann von anderen erwarten, dass sie es taten?

Nun betrachtete Harry das Chaos auf der Fir Mountain Road. Er wusste, dass Jake ihn verstehen würde, wenn er es ihm erklärte. Auch Alice würde es kapieren. Vielleicht würde er irgendwann in der Lage sein, es ihnen zu erzählen. In diesem Augenblick aber wusste er, was als Nächstes anstand, und diesmal war seine Motivation sonnenklar. Es war Liebe.

Der Fahrer des Trucks stand mit dem Rücken zur Straße, brüllte in sein Handy und bemerkte nicht, dass Harry sich in die Fahrerkabine schwang. Er hörte nicht, wie er den Gang einlegte. Als der Typ sich umdrehte, hatte Harry bereits Fahrt aufgenommen und fuhr den langen Anstieg zurück in die Stadt hinauf.

Harry wusste, dass er mit dieser Tat seine Bewährung aufs Spiel setzte. Ihm war klar, dass er wahrscheinlich erneut im Gefängnis landen würde, diesmal für mindestens zwei Jahre. Alice und Jake würden herausfinden, dass er ein Lügner und ein Verbrecher war. Er würde seiner Mutter ein weiteres Mal das Herz brechen. Aber er tat es trotzdem. Harry, der den meisten Fragen des Lebens unsicher gegenüberstand, der jede Entscheidung infrage stellte, die er je getroffen hatte, und sich selbst für einen Deppen der Güteklasse A hielt, wusste ohne jeden Zweifel, dass er in diesem Augenblick genau das Richtige tat. Selbst wenn es das Spritzen nur um einen oder zwei Tage hinauszögerte, würde seine Tat ein Zeichen setzen. Alice und Jake würden verstehen, dass er es für sie getan hatte, für sie und die Bienen, einfach, weil er es konnte.

Und als er die Hood River Bridge überquerte und die Maut bezahlte, blickte die Bedienstete nicht einmal von ihrem Bildschirm auf, ehe Harold Courtland Stokes III den Fluss überquerte und in einem gestohlenen Sattelschlepper voller Pestizide durch die großen dunklen Wälder des Gifford Pinchot National Forests fuhr.

Weit oben auf dem Highway 141 lenkte er den großen Lkw auf die Lichtung, auf der einst der Wohnwagen seines Onkels gestanden hatte. Er stellte den grollenden Motor aus und fuhr das Fenster herunter. Die hübsche kleine Talmulde war nun frei von Müll und zerbrochenem Glas. Verschwunden waren die ramponierten »Betreten verboten«-Schilder und die Reste rosafarbenen Isoliermaterials. Keine lose Verkleidung mehr, die im Wind hin und her schlug. Er hörte das Rauschen der Wildwasserbahn hinter der Lichtung. Über dem wirbelnden Wasser erhob sich der Schrei eines Fischadlers bei der Jagd. Harry lehnte den Kopf an den Fensterrahmen und blickte in die hohen, dunklen Bäume hinauf. Er dachte an das geheime Leben der Geschöpfe, die der Wald in seinem Inneren verbarg, daran, wie schön es wäre, aus dem Lkw zu steigen und für immer in diesen Wäldern zu verschwinden.

Wie viel Zeit war vergangen, ehe sich ein Fahrzeug näherte? Harry wusste es nicht. Es kam ihm vor wie ein ganzes Leben und zugleich wie wenige Minuten. Er blickte in den Spiegel und sah genau das, worauf er gewartet hatte – den Jeep des Sheriffs mit den blau und rot blinkenden Lichtern. Seufzend kletterte er aus der Fahrerkabine. Ihm war schwer ums Herz. Und gleichzeitig leicht. Die Hände zur Kapitulation erhoben, ging er seiner Zukunft entgegen.

 

Das Gerichtsgebäude von Hood River County war ein großer, imposanter Bau mit neoklassizistischen Säulen, einer kunstvoll verzierten Fassade und einem großen Wandgemälde, das die qualvolle Reise auf dem Oregon Trail darstellte. Weiße Siedler kämpften gegen Präriebrände, über die Ufer tretende Flüsse und schneebedeckte Bergpässe, um das grüne, vermeintlich unbesiedelte Ackerland von Oregon zu erreichen. In der ersten Version des Gemäldes aus den Fünfzigerjahren waren die Siedler im Kampf gegen feindselige amerikanische Ureinwohner dargestellt worden. In den Achtzigerjahren hatte man es umgearbeitet, und nun zeigte es Mitglieder der Stämme der Wasco und Wishram, die ihre neuen weißen Nachbarn willkommen hießen. Auch das war nicht die ganze Wahrheit, tendierte aber in die richtige Richtung. Bei der Ankunft der ersten Weißen begegneten ihnen die örtlichen Stämme neugierig und hilfsbereit. Zum Dank dafür wurden sie missverstanden, misshandelt und schließlich ihres Landes beraubt.

Die Erbauer des Gerichts hatten den wilden Westen eindeutig vorhergesehen und im Keller des Gebäudes einen weitläufigen Gefängnistrakt errichtet. So voll wie jetzt war er bisher nur an einem Tag im Jahr 1942 gewesen. Damals hatte das County seine japanisch-amerikanischen Einwohner hinter Gitter gebracht, ehe es sie per Zug zu Internierungslagern überall im Land transportierte. Auch dieses Kapitel der Ortsgeschichte wurde auf dem Wandgemälde nicht dargestellt.

Jake wartete im Keller des Gerichtsgebäudes mit den anderen Männern, die an dem Vorfall auf der Fir Mountain Road beteiligt waren. Er kannte keinen von ihnen, aber es war leicht zu erraten, wer zu welcher Partei gehörte. Die Typen, die den Streit vom Zaun gebrochen hatten, saßen dicht zusammen und starrten die anderen wütend an. Jake saß so weit wie möglich von ihnen entfernt bei den Studenten der PSU und einem Typen namens Casey, der behauptete, er habe mit Alice zusammengearbeitet. Casey saß auf seinen Händen, als wollte er verhindern, dass seine Khakis schmutzig wurden.

»Ein Schuljunge«, höhnte einer der älteren Männer. Seine plumpe Nase saß ihm schief im Gesicht, sein Kragen war zerrissen.

Casey wurde blass, drehte sich jedoch gleich wieder zu Jake.

»Ich habe den Protestmarsch live getwittert«, sagte er leise, und seine Miene hellte sich auf. »Das Ding ist förmlich explodiert! Wir wurden von einem Reporter der Associated Press aus Los Angeles und von Reuters in New York retweetet.«

Casey sagte, Leute im ganzen Land hätten sein Video von dem Angriff auf die Demonstranten bereits geteilt, bevor ein Deputy sein Handy und seinen Laptop konfiszieren konnte.

Jake reckte den Hals und sah sich in dem Raum um. Seit Ronnie ihn einem seiner Kollegen übergeben hatte, hatte er weder Noah noch Harry oder Yogi gesehen. Der Hilfssheriff hatte Jake weder fotografiert noch seine Fingerabdrücke genommen. Er hatte ihn nur aufgefordert, ein Papier zu unterschreiben, um zu bestätigen, dass er wegen Ruhestörung ins Bezirksgefängnis eingeliefert worden war.

Jake hatte sich geweigert, sein Ärger grenzte an Wut. Der Deputy hatte ihn aus seinem Rollstuhl gehoben, auf dem Vordersitz des Transporters angeschnallt und den Vorgang im Gefängnis in umgekehrter Reihenfolge wiederholt. Dann hatte er ihn im Gebäude unsanft die Treppe hochgewuchtet. Die ganze Sache fühlte sich an wie ein Überfall.

»Ich unterschreibe das nicht. Ich sollte überhaupt nicht hier drin sein. Ihr hättet beinahe meinen Rollstuhl ruiniert, und außerdem habt ihr meinen Hund einfach da draußen gelassen.«

»Wie du willst«, sagte der Deputy und schob ihn den Flur hinunter bis zur Zelle. Jake brüllte, er würde ihn wegen Diskriminierung Behinderter verklagen, aber der Typ verschwand einfach.

Beim Gedanken an Cheney wurde ihm beinahe übel. Er hatte keine Marke an seinem Halsband. Vielleicht hatte Harry ihn noch bei sich, wo auch immer er sein mochte. Er würde es nicht ertragen, Cheney ein weiteres Mal zu verlieren. Er dachte auch an Amri, die in diesem Riesenschlamassel gelandet war, weil er sie dazu eingeladen hatte. Ob es ihr gut ging?

Der Typ, der Casey verhöhnt hatte, starrte nun zornig auf Jake. Er musterte ihn von oben bis unten und grinste gemein. »Krüppel«, fauchte er.

Jake spürte, wie ihm das Adrenalin durch die Adern strömte. Seinen Rollstuhl hatte er völlig vergessen. Er machte sich auch keine Gedanken mehr darüber, ob ihn jemand anstarrte oder nicht. Wie mochte er für diesen Kerl aussehen mit seinem rasierten Kopf, den Doc Martens, dem Anarcho-Shirt und dem Rollstuhl? Es hatte eine Zeit in seinem Leben gegeben, in der er sich gefragt hätte, was dieser Typ von ihm hielt. Jetzt kam ihm das absolut lächerlich vor. Es war ihm scheißegal. Ja, ein Krüppel, das bin ich, dachte er. Er spürte seine Stimme in der Kehle, und sie verdichtete sich zu einem Schrei. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte vor unbändiger Freude. Der Typ wich zurück. Danach ließ er Jake und Casey in Ruhe.

Alice verlangte, telefonieren zu dürfen.

»Ich möchte meinen Anwalt anrufen«, sagte sie zur Sekretärin des Sheriffs. Denise hatte alle Damen im Personalraum des Gerichts zusammengepfercht. Es waren nur ungefähr zwanzig Frauen, und sie sagte, sie fände es unhöflich, sie zusammen mit all den Männern in die Zellen im Keller zu sperren. Alice kannte Denise von einem mehrere Jahre zurückliegenden Event der Landjugend-Organisation 4-H. Sie waren zwar nicht befreundet, aber die Begegnung war nett gewesen.

»Komm schon, Neesie. Du kannst uns nicht einfach den ganzen Tag hier einsperren.«

Alice nahm wieder neben einer Frau namens Kate Platz, die zu Riverkeeper gehörte, und drückte sich eine Kältekompresse ans Kinn. Die Collegestudentinnen saßen allesamt im Schneidersitz auf dem Boden und redeten über ihre Pläne fürs Wochenende. Sie wirkten so sorglos, als warteten sie auf den Bus. Vermutlich waren sie in solchen Dingen geübter als Alice.

So viel also zum Thema »friedlicher Protest«. Sie dachte an den großen orangefarbenen Tanklaster und dessen Fahrer. Sie schaute auf die Uhr an der Wand. Es war bereits nach zwölf Uhr mittags. Der Truck war inzwischen vermutlich sowohl mit Osakas Plantage als auch mit den nächsten beiden an dieser Straße fertig. Ihr sank der Mut. Sie dachte an die Leute vom Imkerverein, die ihretwegen aufgetaucht waren. An den lieben Doug Ransom und seine Tochter. Und sie dachte an die Mexican-American Workers Union, die Leute, die auf den Plantagen das Obst pflückten und die größte Last trugen, weil sie es waren, die direkt von den Chemikalien geschädigt wurden. Es war, als spielten sie überhaupt keine Rolle. Mal wieder gewann das große Geld.

Alice dachte an ihre verbliebenen Bienenstöcke. Wurde SupraGro in großem Stil verwendet, vergiftete es unweigerlich alles, was ihre Sammlerinnen nach Hause brachten. Sie konnte versuchen, die Bienen zu füttern, obwohl sie nicht glaubte, dass das zusätzliche Zuckerwasser ihren Sammeltrieb unterdrücken konnte. Einige würden den Sommer vielleicht trotzdem überleben. So, wie ihre eigenen Träume verblassten, waren nun auch die Bienen vom Aussterben bedroht. Sie würde schützen, was ihr noch geblieben war. Mehr konnte sie nicht tun.

Jake stellte keine Fragen, als der Deputy ihn rief und aus dem Keller hinausführte. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, und er hielt nach Alice Ausschau, konnte sie aber nirgends entdecken. Die einzige andere Person in der Eingangshalle war ein Mann, den Jake noch nie gesehen hatte. Er stand auf und kam auf Jake zu. Er war schlank, hatte ein freundliches Gesicht und schulterlanges Haar und trug ein weißes Hemd mit blauer Krawatte. Er streckte eine Hand aus.

»Hi Jake, mein Name ist Ken Christensen«, sagte er. »Ich bin Amris Vater.«

Sie gaben sich die Hand.

»Freut mich, dich kennenzulernen, trotz der Umstände«, sagte Ken und reichte ihm einen braunen Briefumschlag. »Hier sind dein Handy und deine Brieftasche. Die haben sie mir am Empfang gegeben.«

»Danke. Ist Amri da drin?«

Ken schüttelte den Kopf, und Jake atmete auf.

Ken setzte sich auf eine Bank und holte einen gelben Notizblock heraus. »Hat sie dir gesagt, dass ich Anwalt bin?«

Jake schüttelte den Kopf. »Nein, nur dass Sie ein alter Hippie sind«, sagte er, ohne nachzudenken.

Als Ken lachte, sah Jake, dass er die gleichen dunkelgrünen Augen hatte wie seine Tochter.

»Dafür mache ich ihr die Hölle heiß«, sagte er grinsend. »Wie dem auch sei, Amri hat angerufen und gesagt, ihr Freund sei festgenommen worden und würde möglicherweise rechtlichen Beistand brauchen. Laut dem Aufnahmesachbearbeiter seid ihr alle wegen Ruhestörung angeklagt. Willst du mir erzählen, was passiert ist?«

Jake berichtete von der Initiative des Wasserschutzverbandes, dem Sit-in auf der Straße und von dem Angriff der Horde Männer.

Kens Miene verfinsterte sich. Während Jake redete, schrieb er rasch ein paar Stichworte auf.

»Klingt für mich, als könnten wir Anzeige wegen Körperverletzung erstatten«, sagte er.

»Eigentlich müssten Sie mit Alice reden«, entgegnete Jake. »Wahrscheinlich ist sie auch festgenommen worden, denn sonst hätte sie mich längst hier rausgeholt. Alice Holtzman. Ich wohne bei ihr.«

»Bin gleich zurück«, sagte Ken und verschwand im Inneren des Gebäudes. Wenige Minuten später kam er mit Alice zurück. Sie wirkte zufrieden.

»Dann hat Amri uns also gerettet? Offenbar habe ich deine neue Freundin schwer beeindruckt.«

Jake spürte, dass er rot wurde, und sagte kein Wort.

Amri saß vor dem Gerichtsgebäude auf einer Bank unter einem Kirschbaum, der vor rosa Blüten förmlich explodierte. In den Händen hielt sie locker Cheneys Leine, und der große Hund lehnte mit vollem Gewicht an ihren Knien, als wäre sie eine alte Bekannte. Bei Jakes Anblick lächelte sie. Es war, als täte sich die ganze Welt vor ihm auf.

»Hallo«, sagte sie und stand auf.

»Hey«, sagte Jake.

Cheney gähnte, wackelte mit dem Hinterteil und legte seinen Kopf auf Jakes Schoß, als hätte er ihn erst vor fünf Minuten gesehen.

»Danke, dass du dich um ihn gekümmert hast. Und dass du deinen Dad angerufen hast.«

»Na ja, Cheney hat mich in dem ganzen Krawall irgendwie gefunden.« Sie kraulte ihm die Ohren. »Außerdem sind Freunde doch genau dazu da.«

Amris grüne Augen leuchteten, und Jakes Herz fühlte sich auf einmal zu groß für seinen Körper an.

Auf dem Rückweg zum Festgelände saßen sie im Subaru ihres Dads nebeneinander im Fond, während Ken mit Alice über die Demonstration sprach. Jake war sich überdeutlich bewusst, wie nah sein Arm auf dem Sitzpolster neben ihrem lag. Er fühlte sich von ihrer Nähe so magnetisch angezogen wie eine Honigbiene, die auf eine Blume zusteuert. Als der Wagen über eine Unebenheit im Boden fuhr und sein Arm den ihren streifte, ging ein Ruck durch seinen Körper.

Als Ken sie bei Alices Pick-up absetzte, war die Geschichte bereits durch die Medien gegangen. Friedliche Demonstranten waren im Hood River Valley bei einem Sit-in gegen den Gebrauch von Pestiziden auf den örtlichen Plantagen von einer Bürgerwehr angegriffen worden. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte sich die Geschichte dank Caseys Live-Tweets bereits wie ein Lauffeuer verbreitet. Innerhalb von zwei Tagen erhielt Stan Hinatsu Anrufe von Reportern aus Seattle, Los Angeles, New York, London, Paris und Berlin. Die Geschichte von Hood River verlieh anderen Kleinstädten überall im Land den Mut, die Stimme zu erheben, und innerhalb einer Woche stand SupraGro unter heftigem Beschuss.

Bei einer Versammlung in den Büros des Wasserschutzverbandes in der Woche darauf saß Jake neben Alice und hörte Stan erneut berichten, dass SupraGro zwar jede formale Verbindung mit Fred Paris und seinen Schlägertypen leugnete, sich aber dennoch zu Entschädigungszahlungen an die Leute bereit erklärt hatte, die bei dem Angriff auf der Fir Mountain Road verletzt worden waren. Die Firma versicherte außerdem, man sei dabei, den Vertrag mit dem Hood River County noch einmal zu überprüfen.

»Sieht aus, als hätten wir sie gezwungen, auf die Pausentaste zu drücken. Das habt ihr alle zusammen geschafft, Leute! Ihr könnt verdammt stolz auf euch sein«, rief Stan.

Durch die feiernde Menge bahnte er sich einen Weg zu Alice und Jake. »Hey, wie wär’s jetzt mit einem Bier bei pFriem?«, fragte er lächelnd.

Und Alice sagte Ja.

Jake sah die beiden zwar an, war aber innerlich meilenweit entfernt. Er dachte daran, wie er sich selbst in den Pick-up gehievt hatte, während Alice Kontaktdaten mit Amris Vater austauschte. Als Ken losfuhr, kurbelte Amri das Fenster herunter, beugte sich aus dem Wagen und winkte ihm zu. Jake winkte zurück, und während sie auf der ansteigenden Straße allmählich verschwanden, fühlte es sich an, als führe sein Herz mit ihr und ließe seinen Körper so leer zurück wie ein flatterhafter Schwarm, der einen Bienenstock aufgibt.