Roe Valley, County Derry, Nordirland | 27. Oktober | 11.35 Uhr
Ein Fluss, ein Wald und eine Kollektion von Herbstfarben sind die perfekten Zutaten für ein gutes Bild. Der Fluss wird bei diesen Motiven oft nur als unterstützendes Bildgestaltungselement benutzt, als leitende Linie, die Ordnung in die Komposition bringt. An diesem nasskalten Tag im Spätherbst war die Roe nach einigen Tagen starken Regens aber viel zu beeindruckend, um sie nur als Begleitobjekt für den Herbstwald zu benutzen. Der normalerweise ruhige Fluss hatte sich in einen reißenden Strom verwandelt. Das Tosen des Wassers war ohrenbetäubend. Mein Ziel bei diesem Bild war es, die Kraft des Wassers zu einem Bestandteil des Bildes zu machen und sie als Gegengewicht zu dem ruhigen, besinnlichen Herbstwald zu setzen – so eine Art »Die Schöne und das Biest«.
Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, wäre eine kurze Belichtungszeit gewesen, um die Bewegung des Wassers, das Spritzen des kleinen Wasserfalls und die Bewegung des strudelnden Wassers einzufrieren. Ich entschied mich allerdings für eine besonders lange Belichtungszeit. Der Wald, der das Flussufer säumt, ist bereits sehr unruhig: ein Gewirr aus bunten Blättern, Ästen und Stämmen. Die Struktur des Wassers, wie wir es mit den Augen wahrnehmen und wie eine kurze Belichtungszeit es wiedergegeben hätte, war der Struktur des Waldes sehr ähnlich. Ich wollte aber eine deutliche Differenzierung zwischen den beiden Hauptelementen des Bildes erreichen. Die sehr lange Belichtungszeit gibt dem Wasser zwar eine ruhige Oberfläche, akzentuiert allerdings auch seine Bewegung und die schieren Wassermengen, die der Fluss an diesem Tag mit sich trug.
Herbstbilder haben in der Regel eine ruhige, besinnliche Atmosphäre. Der Fluss bringt hier aber eine Wildheit ins Bild – ein netter Gegensatz zu dem friedlichen Herbstwald. Ein kleiner Nachteil, der sich aus der langen Belichtungszeit ergab, war eine Bewegungsunschärfe im Laub einiger Bäume, z.B. in der linken oberen Bildecke, verursacht durch eine leichte Brise. Das ist allerdings ein Mangel, mit dem ich leben kann.
Das zweite Bild entstand einige Jahre später an der Corrib, einem Fluss im Westen Irlands. Der Inhalt und die Komposition des Bildes sind dem Roe-Valley-Bild sehr ähnlich. Der große Unterschied ist allerdings, dass die herbstlichen Bäume hier dominieren und der Fluss nur eine unterstützende Rolle spielt. Zum Großteil beruht dieser Effekt auf der Bildaufteilung. Im Roe-Valley-Bild ist das Verhältnis von Bäumen zu Wasser etwa 1/3 zu 2/3, in diesem Bild ist es genau umgekehrt. Allerdings spielt auch das Erscheinungsbild des Wassers eine Rolle. Das Wasser der Roe wirkt durch die lange Belichtungszeit (und die vorherrschenden Wassermengen) deutlich kraftvoller als das Wasser der Corrib (die weit weniger Wasser führte als die Roe), das mit einer sehr viel kürzeren Belichtungszeit abgelichtet wurde.
Für das quadratische Format entschied ich mich deshalb, da sich im originalen Bild ein Flecken Himmel in der rechten oberen Bildecke nicht vermeiden ließ, der dem Bild jegliche Ausgewogenheit nahm.