1. Kapitel
Die Chocolaterie Bonnat in Voiron, Frankreich,
Anfang Juni 1936
Verheißungsvoll floss die Schokolade über den hellen, mit Vanillecreme gefüllten Biskuit und umhüllte ihn mit einer glänzenden Schicht. Getrocknet würde sie für ein feines Knacken sorgen, sobald man in den kleinen Kuchen hineinbiss – deshalb musste sie hauchdünn sein. Und dazu perfekt aussehen, ohne Tropfen oder andere Unregelmäßigkeiten.
Mit geübten Handgriffen überzog Viktoria ein Gebäckstück nach dem anderen, beobachtete konzentriert, wie sich die Kuvertüre verteilte und die überschüssige Schokolade abtropfte. Anschließend dekorierte sie jedes der Küchlein liebevoll mit einem kleinen Zuckergitter und einer Mandel und schob sie in die Kühlung – jedes ein köstliches Unikat. Morgen früh würden sie alle ihren Platz in der Theke der Chocolaterie
finden und zwischen anderen exklusiven Schokoladenträumen auf ihre Käufer warten
.
Mit einem leisen Seufzen naschte sie die Schokoladenreste von ihren Fingern, wusch sich die Hände und nahm ihre Schürze ab.
Es war so weit.
»Es-tu triste?
« Ihre Kollegin Colette trat neben sie ans Spülbecken. »Du wirkst so … melancholisch.«
»Oh ja«, antwortete Viktoria. »Mein letzter Tag.«
»Wir werden dich vermissen.« Colette verteilte Seife auf ihren Händen und hielt sie unter den Wasserstrahl. »Besonders Luc. Er ist übrigens schon gegangen. Habt ihr heute noch etwas vor, ihr zwei?«
»Ich habe eigentlich keine Zeit.« Viktoria zog ihre Jacke an.
Colette zwinkerte ihr wissend zu, drehte das Wasser ab und nahm sich ein Handtuch.
»Hast du dich eigentlich schon von Maître
Bonnat verabschiedet, Viktoria?«, fragte sie dann. »Er ist in seinem Büro.«
»Ich weiß. Ich gehe gleich zu ihm hinein.«
»Er hält so große Stücke auf dich! Du wirst nicht leicht zu ersetzen sein.«
Viktoria nickte. Sie wusste, dass Maître
Bonnat ihre Arbeit schätzte.
»Manchmal sucht man sich seine Wege nicht aus«, sagte sie matt. »Bist du nachher noch da, Colette? Oder muss ich mich jetzt schon von dir verabschieden?«
Über Colettes Gesicht zog ein Lächeln. »Verabschiede dich in Ruhe vom Maître
«, meinte sie. »Ich warte hier auf dich, dann können wir gemeinsam nach Hause gehen.«
Colette wohnte nicht weit von Viktoria entfernt, in der Rue Carabonneau.
»Gut. Es wird nicht allzu lange dauern.«
Viktoria verließ die Produktionsräume der Chocolaterie
und machte sich auf den Weg zum Büro des Inhabers. Feine Düfte begleiteten sie über die Stufen ins Obergeschoss, in dem die Verwaltung des alteingesessenen Unternehmens untergebracht war.
Vor einer schweren Eichentür blieb sie stehen und stutzte. Sie meinte, Stimmen aus dem Inneren des Zimmers zu hören, aber sicher war sie sich nicht. Sollte sie den Maître
stören, wenn er Besuch hatte?
Schließlich klopfte sie doch, wartete auf das vertraute »Entrez
!« und drückte die Türklinke.
»Da ist sie!«, tönte es ihr vielstimmig entgegen.
»Viktoria!«
Ein Champagnerkorken knallte, und eh sie sich’s versah, war sie umringt von Menschen. Maître
Bonnat, seine Frau, die Chocolatiers
, die Verkäuferinnen, die beiden Laufburschen. Einzig Luc fehlte.
Hinter ihr kam Colette herein und lächelte breit. »Na?«, fragte sie Viktoria leise. »Freust du dich?«
Viktoria war sprachlos.
»Mademoiselle Rheinberger! Sie wirken überrascht!«, sagte Maître
Bonnat und die Freude über die gelungene surprise
stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Aber wir lassen Sie natürlich nicht ohne einen ordentlichen Abschied ziehen!
«
»Ich … ich«, stotterte Viktoria, »ja, also, nein. Damit habe ich wirklich nicht gerechnet.«
»Umso besser!« Colette schenkte den Champagner ein. »Lass dich ein wenig feiern, meine Liebe!«
Sie drückte Viktoria ein randvolles Glas in die Hand und zog sie in die Mitte des Raumes. Maître
Bonnat bat um Ruhe.
»Mademoiselle Rheinberger«, hob er dann ohne Umschweife an, »als Sie einst zu uns gekommen sind, waren Sie voller Ehrgeiz und bereit, neue Erfahrungen zu sammeln. Zwei Jahre später haben Sie sich in der Tat zu einer ausgezeichneten Chocolatière
entwickelt.«
»Bravo!« Alle klatschten Beifall.
»Ihre Familie kann sich glücklich schätzen, Sie wiederzubekommen«, fuhr Maître
Bonnat fort. »Und für uns waren Sie eine Bereicherung. Sie verstehen Ihr Handwerk, aber nicht nur das. Sie haben einzigartige Ideen. Eine solche Kreativität ist ein Gewinn für jeden, der mit Ihnen arbeiten darf. Wir alle«, er erfasste die Anwesenden in einer Handbewegung, »wünschen Ihnen das Beste für die neuen Aufgaben, die Sie erwarten. Auch wenn wir wissen, dass es nicht leicht werden wird.« Er räusperte sich. »Aber vor allem … sagen wir merci
. Dafür, dass Sie ein Teil unserer Chocolatier
-Familie gewesen sind. Und wir sind stolz, dass etwas von Ihnen bei uns bleibt – in all den Kreationen, die Sie in den letzten Jahren entwickelt haben und die wir weiterhin herstellen werden. Auf Ihr Wohl!«
Das feine Klingen der Sektkelche erfüllte den Raum.
Völlig überwältigt nippte Viktoria an ihrem Champagner. Dieser Moment fühlte sich unwirklich an
.
Nach und nach verabschiedete sich einer nach dem anderen persönlich von ihr. Sie schüttelte Hände und verteilte bisous
, beantwortete Fragen nach ihrer Familie und der Schokoladenfabrik in Stuttgart, versicherte, dass sie ab und zu schreiben werde.
Schließlich stand Maître
Bonnat vor ihr, in der Hand ein kleines Holzkästchen. »Mademoiselle Rheinberger. Ich möchte Ihnen gerne eine Erinnerung mitgeben an Ihre Zeit hier in Voiron.«
»Oh … das wäre aber nicht nötig gewesen, Maître
…«
»Ich versichere Ihnen, es ist nötig.« Maître
Bonnat öffnete das Kästchen und ließ sie hineinsehen.
Auf blauem Samt lag eine Auswahl silberner Pralinengabeln mit Griffen aus Walnussholz, zehn an der Zahl. Eine jede war anders. Auf den gedrehten Schäften saßen zwei, drei oder vier Zinken, Spiralen, Ringe und sogar ein kleines Gitter. Ideal, um Konfekt und Zuckerwerk mit Kuvertüre zu überziehen und raffiniert zu dekorieren.
»Das … kann ich nicht annehmen …«, stammelte Viktoria, aber Maître
Bonnat lächelte nur mild.
»Natürlich können Sie das.« Er klappte das Kästchen wieder zu und drückte es ihr fest in die Hand. »Viel Freude damit!«
Viktoria strich über das fein geschmirgelte Holz. »Danke, Maître
. Ich werde es in Ehren halten.«
»Daran zweifle ich nicht. Gebrauchen Sie es häufig!« Er reichte ihr die Hand. »Aber erschaffen Sie uns damit keine allzu große Konkurrenz.
«
Nun war es an Viktoria zu lächeln. »Ich werde mein Bestes geben.«
Maître
Bonnat nickte. »Leben Sie wohl, Mademoiselle Rheinberger. Ich sage au revoir
und nicht adieu
. Es wäre schön, wenn wir Sie eines Tages wiedersehen. Hier bei uns, bei Bonnat.«