8. Kapitel
Vor der Villa Ebinger,
eine halbe Stunde später
Judith startete ihren Wagen. Josefine Ebinger hatte die großen Tore zur Zufahrt des Anwesens öffnen lassen, damit sie bequem wenden konnte. Als sie schließlich die Humboldtstraße hinunterfuhr und den Weg nach Degerloch einschlug, leuchtete der Himmel in zarten Gelb- und Orangetönen, die sich noch intensiviert hatten, als sie vor ihrem Zuhause ankam, das Victor immer Die Schokoladenvilla
genannt hatte. Auch hier standen die großen, schmiedeeisernen Gitter der Zufahrt bereits offen, sodass sie gleich die Garage ansteuern konnte.
Der Stellplatz neben Judiths war leer – Viktoria war noch nicht nach Hause gekommen. Offensichtlich dauerte das Inventarisieren der Edelkakaosorten länger als geplant.
Judith stieg aus und stellte fest, dass auch das grüne Cabriolet fehlte. Die Abdeckung lag schlampig hingeworfen in einer Ecke. Vielleicht hatte Martin es abgedeckt, um eine Spritztour damit zu unternehmen – wenngleich er die Plane
bestimmt aufgeräumt hätte, in solchen Dingen war er nicht nachlässig. Aber auch er wirkte unkonzentriert und fahrig, seit das Familienleben in tausend Stücke zersprungen war. Es würde einige Zeit brauchen, es wenigstens notdürftig zusammenzusetzen.
Judith seufzte. Die Frage, warum Victor hatte sterben müssen – sie rumorte Tag und Nacht in ihrem Kopf, raubte ihr den Schlaf und ließ sie auch tagsüber nicht los. Victor, ihr Fels, ihr Geliebter, ihr Vertrauter. Der Mann, der ihr die Hand gereicht hatte, als sie am Abgrund stand. Wie sollte sie ohne seine Kraft, seinen Humor, seinen Weitblick jemals wieder echte Freude empfinden?
Sie rief sich zur Ordnung, versuchte die schweren Gedanken einzufangen. Victor würde zu Recht erwarten, dass sie Stärke zeigte. Für das, was sie gemeinsam erschaffen hatten, für ihre beiden Kinder und für alle, denen sie Verantwortung schuldete.
Nachdenklich ging sie hinüber zum Haus. Dora hatte ihr Kommen schon bemerkt und hielt ihr die Türe auf. »Guten Abend, Frau Rheinberger.« Ihr Lächeln wärmte Judiths Herz. Bei aller innerer Not – sie war nicht allein.
»Guten Abend, Dora. Wie schön, dass ich so liebevoll empfangen werde.«
Dora ließ sie vorbeigehen und schloss dann die Tür hinter ihr. »Sie waren lange aus.«
»Ich bin noch bei den Ebingers vorbeigefahren.«
Dora nahm Judith die Handtasche ab. »Wie geht es dem Herrn Ebinger?
«
»Nicht so gut. Die Lunge …«
»Ja, die macht ihm schon lange Malheur.«
Judith nickte seufzend, während sie ihre Handschuhe auszog. »Ach, Dora. Jetzt, da es ihm so schlecht geht und weil … Victor … nicht mehr …« Sie unterbrach sich und trat vor den großen Spiegel in der Eingangshalle, den zwei große, chinesische Porzellanvasen mit verschlungenen Drachenmotiven flankierten.
»Wegen Ihrem Sohn?«, fragte Dora vorsichtig nach.
Judith nickte. »Sie denken, dass es jetzt an der Zeit wäre, die Wahrheit zu sagen.« Sie zog die Nadel aus dem kleinen schwarzen Filzhut mit schmaler Krempe, der seitlich auf ihrem Haar saß. Im Spiegelbild sah sie die Haushälterin etwas versetzt hinter sich stehen. Dora, die schon so viele Jahre an ihrer Seite war, einst als Zofe, und dann, als sich die Ereignisse in ihrem Leben überschlagen hatten, auch als Vertraute, Mitwisserin, Ratgeberin. Dora hatte das Drama um Martins Geburt hautnah mitbekommen und war nicht zuletzt deshalb eine der Konstanten in Judiths Leben. So wie es Victor gewesen war.
»Diese Frage ist doch immer wieder aufgekommen, Frau Rheinberger. Oder nicht?«
»Aber jetzt noch einmal all diese Dinge aufwühlen …« Judith reichte Dora Hut und Nadel. »Wir müssen uns doch erst einmal neu finden und sehen, wie alles weitergeht …«
»Ich möchte Ihnen nichts vorschreiben, doch ich kann das Ehepaar Ebinger schon verstehen. Vor allem, wenn es dem Herrn Ebinger schlechter geht.
«
»Ich ja auch.« Judith tat einen tiefen Atemzug. »Aber Martin würde eine solche Nachricht schockieren.«
Ein lautes Klirren ließ die beiden Frauen aufschrecken.
»Des war koi Absicht!« Das Hausmädchen hockte am Übergang der Eingangshalle zum großen Flur auf dem Boden und sammelte die Scherben eines Kruges ein. »Aua!« Sie steckte einen Finger in den Mund, offensichtlich hatte sie sich geschnitten.
»Tine!«, sagte Dora streng. »Was hast du hier zu suchen? Wohin wolltest du mit dem Krug? Du hattest eigentlich den Auftrag, im Dorf Eier und Milch zu besorgen.«
»Der Krug ist rumgstanden. Weiß i doch net, wer den vergessen hat.« Tine richtete sich auf und wickelte ihre weiße Schürze um den verletzten Daumen. »Und Eier und Milch könnet mir doch liefern lassen. Da muss i doch net extra ins Dorf gehn!«
Judith war unwohl. Wie viel hatte das Hausmädchen von ihrer Unterhaltung mitgehört? Es fehlte gerade noch, dass Gerüchte im Ort die Runde machten. Sie traute Tine nicht recht. Die Siebzehnjährige kam aus einem kleinen Weiler auf der Schwäbischen Alb, lebte bei Verwandten in Degerloch und sprach einen kaum verständlichen Dialekt. Über das hätte Judith hinweggesehen, nicht aber über zwei Eigenarten, die sich immer mehr herauskristallisierten: Tine hatte ihre Augen und Ohren überall. Und sie war recht geschwätzig. Judith war längst klar, dass sie mit Dora über eine Neubesetzung der Hausmädchen-Stelle sprechen musste. Sie warf ihrer Haushälterin einen sorgenvollen Blick zu
.
Dora verstand sofort. »Du gehst jetzt in die Küche und lässt dir von Gerti den Finger verbinden«, befahl sie dem Hausmädchen. »Dann machst du die Scherben hier weg und besorgst alles, was dir aufgetragen wurde. Anschließend polierst du das Silberbesteck. Und bevor du nach Hause gehst, möchte ich noch einmal mit dir sprechen.«
Das Flackern in Tines Blick, der von Dora zu ihr wanderte, ließ ein ungutes Gefühl in Judith zurück. Sie atmete auf, als sich das Hausmädchen endlich zum Gehen wandte.
Auch Dora sah Tine nach, bis diese in Richtung des Küchentrakts verschwunden war. Judith nickte ihr zu und ging voraus zu der breiten, geschwungenen Treppe, die zur Beletage
und weiter in die Schlafräume im zweiten Stock führte.
»Ich bin mir nicht sicher, was sie mitgehört hat«, meinte Dora mit gedämpfter Stimme, als sie kurz darauf in Judiths Zimmerflucht angelangt waren.
»Wir müssen davon ausgehen, dass sie etwas aufgeschnappt hat, Dora. Die Frage ist, ob sie etwas damit anfangen kann. Ich denke nicht.«
»Mag sein.« Dora legte Hut und Handtasche auf der Kommode ab und räusperte sich. »Darf ich ganz offen sein, Frau Rheinberger?«
»Natürlich. Das weißt du doch.«
»Ich glaube, es wäre nicht gut, wenn Martin durch Gerüchte erfahren würde, dass es etwas gibt, das … wie soll ich es sagen … das verschwiegen wird.«
Judith schluckte. »Nein … nein, das sollte er nicht.
«
»Es muss ja nicht gleich heute sein, Frau Rheinberger.«
Judith schüttelte den Kopf und schloss einen Moment lang die Augen. Ausgerechnet jetzt, wo sie ohnehin an allen Ecken und Enden zu kämpfen hatte, rüttelte das Leben plötzlich an diesem verborgenen Kapitel ihrer Vergangenheit. Nicht nur durch den Vorfall mit Tine. Auch das Gespräch mit Artur und Josefine Ebinger vorhin hatte Judith mehr bewegt, als sie sich eigentlich eingestand. Die beiden wollten ihren Enkel endlich anerkennen.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Judith schließlich zu Dora, die gerade zum Ankleidezimmer ging, um ein Kleid für das Abendessen herauszusuchen.
»Das ist gut«, erwiderte Dora über die Schulter.
Während diese nebenan zugange war, entledigte sich Judith ihres Kostüms. Die Miederwäsche und die Strümpfe behielt sie an und setzte sich auf das breite Doppelbett.
Sie fühlte sich überfordert. Die Sache mit Weber, der ihr die Firma wegnehmen wollte. Das Alleinsein. Und jetzt noch Martin …
»So, Frau Rheinberger.« Dora kehrte mit einem wadenlangen Kleid aus schwarzem Wollstoff zurück.
»Wir werden heute etwas später essen«, meinte Judith, als sie sich in das schlichte Gewand helfen ließ. »Vicky ist noch nicht zu Hause, und Martin scheint ebenfalls unterwegs zu sein.«
»Das stimmt, Frau Rheinberger«, erwiderte Dora. »Er ist weggefahren und hat das Fräulein Mathilda mitgenommen. Ich hatte vergessen, es Ihnen zu sagen.
«
»Das macht nichts. Es ist gut, wenn die beiden sich verstehen.« Judith drehte Dora den Rücken zu, damit diese den langen Reißverschluss schließen konnte. »Ich werde mich noch etwa eine halbe Stunde ins Arbeitszimmer zurückziehen, um zu telefonieren. Würdest du bitte dafür sorgen, dass gegen neun Uhr im Speisezimmer serviert wird? Ich weiß, das ist sehr spät.«
»Es ist ja eine Ausnahme, Frau Rheinberger. Ich gebe Gerti Bescheid.«
Kurz darauf saß Judith an Victors Schreibtisch und nahm den Hörer des Telefons ab. Die Verbindung nach München war rasch vermittelt. »Hélène Bachmayr am Apparat.« Ihre Mutter war zu Hause.
»Maman?
Wie schön, dich zu hören!«
»Judith, mein Kind! Was gibt es denn?«
Eine sorgenvolle Pause entstand. »Nichts Besonderes, Maman
. Wir kämpfen uns durch.«
»Ich denke viel an euch, Judith. Es hat mir so leidgetan, dass wir nach der Beerdigung sofort zurückfahren mussten, wegen des Ladens.«
»Ja, das war schade. Auch Karl und Elise konnten nicht bleiben. Deshalb möchte ich gerne, dass die Familie noch einmal zusammenkommt. Es gibt einige Dinge, die wir besprechen sollten.«
»Steckst du in Schwierigkeiten?
«
»Nein, nein. Mach dir keine Sorgen. Aber die neue Situation betrifft doch uns alle.«
»Wir wollten ohnehin noch einmal nach Degerloch kommen, Judith. Hast du schon einen Termin im Auge?«
»Wie wäre der dreiundzwanzigste August? Das ist ein Sonntag. Karl hat bereits zugesagt.«
»Einen Augenblick, ich schaue kurz in unseren Kalender.«
Judith hörte ein Rascheln. Anschließend fragte ihre Mutter ihren Ehemann Georg leise nach seinen Plänen für die nächste Zeit.
»Judith?«
»Ich bin noch dran.«
»Also bei Georg steht an diesem Samstag zwar eine Theatervorstellung an, ein Sommertheater, aber er hat ohnehin keine großen Ambitionen hinzugehen. Wenn es dir recht ist, kommen wir bereits am Freitag davor.«
»Das passt ganz wunderbar, Maman
. Ehrlich gesagt wäre es schön, dich hier zu wissen. Wie lange könnt ihr bleiben?«
»Ich bleibe, solange du mich brauchst, Judith, nur Georg müsste am Sonntag wieder zurück nach München fahren. Die Verhandlungen wegen des Verkaufs unserer Buchhandlung gehen dem Ende zu, da kann er nicht lange wegbleiben.«
Judith fühlte sich sofort leichter. Ihre Mutter stand ihr recht nah, auch wenn das Verhältnis nicht immer unbelastet gewesen war. Hélène hatte ihre Familie vor über dreißig Jahren verlassen, um am Gardasee ein neues Leben zu beginnen und Judith und ihre beiden kleinen Zwillingsbrüder
in Degerloch zurückgelassen. Inzwischen waren die Wunden verheilt, auch wenn es viele Jahre und noch mehr Gespräche gebraucht hatte, bis Judith klar geworden war, dass eine Gemütskrankheit ihrer Mutter keine andere Wahl gelassen hatte. Gefangen in einer unglücklichen Ehe mit einem cholerischen und herrischen Mann, hatte Hélène durch diese Flucht versucht, sich zu retten, auch um den Preis, ihre Kinder nicht wiederzusehen. Judith hatte ihr längst vergeben.
»Ich freue mich, Maman
. Danke! Und bring deine Staffelei mit!«
»Aber natürlich! Ich ohne meine Farben, das wäre ja wie ein Jahr ohne Sommer.«
Judith meinte, Hélènes feines Lächeln am Telefon zu spüren. »Vicky wird die Gelegenheit sicherlich nutzen und sich ein paar Malstunden von dir geben lassen, Maman
.«
»Gern! Du wirst sehen, Judith, wir machen uns die Zeit so schön wie möglich. Es wird brauchen, bis die Wunden heilen, aber glaub mir, irgendwann wird es besser.«
»Ich … hoffe es.«
»Ich teile dir im Laufe der nächsten Woche unsere Ankunftszeit mit.«
»Ja, das ist gut. Grüß mir Georg und habt noch einen schönen Abend!«
»Das richte ich gerne aus. Umarme Vicky und Martin von mir. Bis bald!«
Judith legte auf und ging an einen kleinen Beistelltisch, auf dem Victor immer eine exzellente Auswahl an Wein und
Spirituosen bereitgehalten hatte. Konzentriert schenkte sie sich einen 1930er Armagnac ein.
Mit dem Glas in der Hand trat sie ans Fenster und sah hinaus in den Garten. Die Sonne war noch nicht untergegangen. Das weiche Abendlicht lockte in die verspielte Anlage mit ihren verschlungenen Kieswegen, den Bachläufen, den raffiniert in Szene gesetzten Skulpturen und den natürlich gestalteten Blumenbeeten. Vielleicht würde sie später noch zu einem kleinen Spaziergang aufbrechen.
Der Armagnac brannte in ihrer Kehle. Sie trank nur selten Weinbrand oder Schnaps, und schon nach den ersten Schlucken ließ die drückende Traurigkeit in ihr ein wenig nach. Sie beschloss, sich noch einmal genau die Urkunden zu den Anteils- und Inhaberverhältnissen der Schokoladenfabrik anzusehen. Wenn Weber in den nächsten Tagen wiederkam, wollte sie vorbereitet sein.
Die Akten befanden sich im Tresor des Arbeitszimmers. Judith stellte das Glas auf dem Schreibtisch ab, holte die Unterlagen heraus und setzte sich auf den mit hellbraunem Leder bezogenen Bürostuhl. Martin hatte bereits einen Teil davon durchgesehen, allerdings wusste sie nicht, wie weit er gekommen war. Sie vertiefte sich in die Papiere.
Es war alles so, wie sie es vertraglich vereinbart hatten. Victors Anteile gingen im Falle seines Todes zu achtzig Prozent auf Judith über. Jeweils zehn Prozent entfielen auf Viktoria und Martin, wobei Judith Viktorias Anteile bis zu deren Volljährigkeit verwaltete. Mit ihrer Einberufung in die Geschäftsführung nach ihrem einundzwanzigsten Geburtstag
im Januar mussten Viktorias Anteile neu bewertet werden. Judiths Bruder Karl Rothmann war mit zwanzig Prozent Gesellschafter im Unternehmen, hatte aber keinen Posten in der Geschäftsführung inne und spielte mit dem Gedanken, seine Anteile an Judith zu verkaufen. Anton hatte seinen Erbteil bereits vor mehr als fünfundzwanzig Jahren auf Judith und Victor überschrieben, als er Kapital für die Gründung seiner Klavierfabrik benötigt hatte. De facto hielt sie also zweiundsiebzig Prozent der Firma und war im Augenblick alleinige Geschäftsführerin.
Sie legte die Dokumente zur Seite und leerte das Glas mit dem Armagnac. Dann ging sie noch einmal zum Tresor. Es gab eine Sache, die drängte und zu der sie keine Unterlagen in der Schokoladenfabrik hatte finden können: Es existierte eine Art der Beteiligung an einem amerikanischen Süßwarenhersteller in New York. Victor hatte ihr zwar seinerzeit von den Vereinbarungen diesbezüglich erzählt, aber Judith war mit ihren eigenen Aufgaben in der Schokoladenfabrik mehr als ausgelastet gewesen, sodass sie sich nicht weiter darum gekümmert hatte.
Nun war der amerikanische Geschäftspartner Victors auf dem Weg nach Stuttgart. Dabei handelte es sich wohl um einen der Enkel des Unternehmensgründers, der bestrebt schien, die Zusammenarbeit neu zu verhandeln. In einem Telegramm hatte er seinen Besuch für den fünften August angekündigt. Bis dahin musste sie umfassend im Bilde sein.
Aufmerksam durchforstete sie den Inhalt des Tresors aus
lackiertem Wurzelholz. Victor hatte alle seine Unterlagen stets fein säuberlich geordnet und beschriftet: Familienangelegenheiten, die Erbschaftssachen ihrer beider Väter, Versicherungsunterlagen, Bankdokumente, Aktien und Beteiligungen. Hier suchte sie als Erstes – ohne Erfolg. Dann endlich, zuunterst, auf dem mit grünem Filz bezogenen Boden des Faches, fand sie schließlich eine schwarze Mappe: SweetCandy Ltd. / Robert Miller, USA.
Das war es.
Sie atmete auf, kehrte an den Schreibtisch zurück und machte sich daran, den Vorgang durchzusehen. Eine Viertelstunde später nahm sie noch einmal den Telefonhörer zur Hand und rief ihren Bruder Anton an.