10. Kapitel
Eine Stunde später im Küchentrakt der Rothmann-Villa
»Fräulein Rheinber…!«
»Pssst, Gerti. Nicht so laut.«
»Aber, Fräulein Rheinberger«, sagte die Köchin nun im Flüsterton. »Warum schleichen Sie sich denn hier zum Hintereingang herein?«
»Das erkläre ich Ihnen gleich.« Viktoria sah sich in der Küche um, konnte aber keine Spur der anderen Dienstboten entdecken. »Wer ist noch im Haus?«
»Theo ist unterwegs, Besorgungen machen. Tine deckt im Speisezimmer. Dora ist bei ihr. Ihre Mutter ist im Arbeitszimmer.«
»Ist mein Bruder da?«
»Nein. Er ist weggefahren.«
»Das ist schlecht«, meinte Viktoria. »Gerti – ich habe ein Problem.«
»Sie? Um Himmels willen!«
»Schschscht.« Viktoria legte den Zeigefinger an die Lippen, weil die Köchin in ihrer Aufregung wieder etwas lauter geworden war. »Ich muss jemanden in Theos Zimmer bringen.«
»Wie bitte?«
»Ich habe … Robert mitgebracht.«
»Wen?«
»Den Robert. Sie wissen schon. Mathildas Vater.«
»Den roten Robert?« Ungläubigkeit und Entsetzen standen der Köchin ins Gesicht geschrieben. »Ich dachte, den hätten sie eingesperrt, weil er doch ein Kommunist ist.«
»Ich erzähle Ihnen alles, aber zuerst müssen Sie mir helfen.«
Die Köchin schüttelte zwar energisch den Kopf, meinte aber dann: »Gut, ich pass auf, dass niemand etwas mitbekommt. Wie lange brauchen Sie?«
»Zehn Minuten. Nein … eher fünfzehn«, flüsterte Viktoria und machte sich sofort auf den Weg zurück zu ihrem Automobil, das sie in die Garage gefahren hatte.
»Kommen Sie«, sagte sie leise zu Robert Fetzer, der auf der Rückbank lag. »Ich bringe Sie in Theos Zimmer. Dann können wir besprechen, wie es weitergehen soll.«
Robert Fetzer richtete sich mühsam auf. Seine Augen wirkten glasig.
Viktoria reichte ihm ihre Hand, aber anstatt diese zu nehmen, stützte er sich keuchend auf seine Unterarme. Dann nahm er die letzten Kräfte zusammen und schob sich aus dem Wagen.
Gebeugt folgte er Viktoria über den Kiesweg zum Lieferanteneingang, dann durch die Küche über den Flur des Küchentrakts bis zu Theos Zimmer, das dieser schon seit Jahrzehnten bewohnte.
Mit einem leisen Seufzen schloss Viktoria vorsichtig die Tür und lehnte sich dagegen. »Gott sei Dank.«
»Ich muss … Ihnen wohl dankbar sein, Fräulein Rheinberger.« Robert Fetzer unterdrückte ein Husten.
»Das wäre angebracht.« Sie holte tief Luft. »Ich muss Sie dringend bitten, sich ganz ruhig zu verhalten, bis wir eine Lösung haben, wie es mit Ihnen weitergehen soll. Im Haus ist ein neues Hausmädchen, Tine. Wir sind uns nicht sicher, welcher Gesinnung sie anhängt. Auf jeden Fall ist es besser, wenn sie nicht erfährt, dass Sie hier sind.«
Robert nickte und zeigte mit zittriger Hand auf einen schmalen Holzstuhl, der in einer Ecke der schlicht, aber wohnlich eingerichteten Kammer stand. »Darf ich …?«
Viktoria sah, dass er wieder in sich zusammensank, stieß sich rasch von der Tür ab und packte ihn am Oberarm. Sie deutete auf Theos Bett: »Legen Sie sich doch hin.«
Robert Fetzer schüttelte den Kopf.
»Jetzt haben Sie sich nicht so. Wenn Sie mit einem lauten Knall vom Stuhl fallen, ist wirklich niemandem geholfen.«
Robert Fetzers Augen verengten sich. Es war ihm sichtlich zuwider, sich von ihr Anweisungen geben zu lassen, doch sein Zustand ließ ihm keine Wahl. Noch einmal sammelte er seine Kräfte, schüttelte ihre Hand ab, schleppte sich die wenigen Schritte bis zu Theos Bett und legte sich erschöpft hin .
»Gut.« Viktoria wandte sich zum Gehen. »Ich lasse Sie jetzt allein. Später bringt Ihnen Gerti etwas zu essen. Und dann sehen wir, wie es weitergeht.«
Robert war kalt. Immer wieder überlief ihn ein Zittern. Er versuchte zu schlafen, fand aber keine Ruhe. Daher lauschte er auf die Geräusche im Haus, die ihm aus fernen Tagen noch eigenartig vertraut waren. Wie lange war es her, dass er hier als Laufbursche gedient hatte? Mehr als dreißig Jahre mussten es sein.
Er legte sich eine Hand über die Stirn und schloss die Augen.
Sich den Herrschaften hier anzuvertrauen, war wahnwitzig. Wer wusste schon, auf welcher Seite die standen. Wenn es um ihre Vorteile ging, waren sie doch alle gleich, die Kapitalisten. Aber in Stuttgart, nein, im ganzen Land fand man kaum mehr sichere Verstecke. Einer wie er fiel auf, gezeichnet durch die Jahre im Lager und im Gefängnis. Ein Wunder, dass ihm die Flucht geglückt war, zusammen mit diesem Doktor Ackermann, dem Zeitungsmenschen, mit dem man ihn vom Gefängnis in Welzheim nach Dachau hatte verlegen wollen. Auf freier Strecke war ihr Transport angehalten worden, es hatte einen Tumult gegeben, dann hatte man Ackermann aus dem Wagen gezogen. Robert war hinterhergestolpert und einfach gerannt. Weg, nur weg. Erst in einem Waldstück war er stehen geblieben, mit rasendem Herzen und schmerzender Lunge, und hatte ängstlich gelauscht, ob ihm jemand gefolgt war.
Doch es war niemand hinterhergekommen. Er war allein gewesen. Und – frei.
Wer auch immer hinter diesem Überfall gesteckt hatte, Ackermanns Helfer oder sonst irgendwer – er würde es wohl nie erfahren.
Frei!
Die Ungeheuerlichkeit dieser Erkenntnis war ihm erst nach und nach bewusst geworden, unterwegs, als er sich auf müden Beinen in Richtung Nordwesten geschleppt hatte. Die Sonne war sein Kompass gewesen, Hunger und Durst quälende Begleiter. Bis er sicher wusste, wo er sich geografisch befand, hatte es eine ganze Weile gedauert. Ulm war nicht weit gewesen, das hatte ihm Hoffnung gegeben, bis nach Hause laufen zu können. Was folgte, war eine einzige Quälerei gewesen. Er hatte seine schwache Konstitution verflucht und die noch immer spürbaren Folgen seiner Zitterkrankheit aus der Zeit des großen Krieges. An manchen Tagen hatte er kaum einen Kilometer geschafft,
Hin und wieder war er auf Bauernhöfe gestoßen, deren Bewohner zwar wortkarg und abweisend gewesen waren, aber dennoch meistens einen Kanten Brot oder einen Becher mit Milch für ihn übrig gehabt hatten. Die Nächte hatte er auf dem Waldboden verbracht, nur hin und wieder hatte er sich als heimlicher Gast auf einen Heuboden gewagt. Er konnte von Glück sagen, dass es sommerlich warm gewesen war. Im Winter hätte er diesen Marsch nicht überlebt .
Robert wandte den Kopf und hob die Lider. Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt. Er war wohl doch eingenickt.
Das Kissen unter seinem kahlen Schädel fühlte sich so zart und weich an. Nach all den Jahren in den Lagern Heuberg, Kuhberg und zuletzt im Welzheimer Gefängnis wusste er gar nicht mehr, wie es war, in einem richtigen Bett zu liegen, anstatt auf einer brettharten Pritsche.
Schon wollten ihm die Augen wieder zufallen, als er auf dem Flur plötzlich Schritte vernahm. Alarmiert setzte er sich auf und lauschte.
War er hier in Sicherheit? Oder würden die Rothmanns ihn ausliefern? Leises Lachen, eine Tür schlug zu. Dann war es wieder still.
Robert atmete erleichtert aus und ließ sich zurück in die Kissen sinken.
Die Schokoladenfabrik war seine letzte Zuflucht gewesen, denn die Wohnung in Stuttgart-Ostheim, in der er mit seiner Frau Luise zuletzt gewohnt hatte, war mittlerweile an eine fremde Familie vermietet. Auch die meisten seiner Mitstreiter aus KPD-Zeiten waren nicht mehr aufzufinden – einige hatten sich ins Ausland abgesetzt, die meisten aber waren interniert worden, so wie er. Ja, die Kommunisten hatte man als Erstes geholt, damals, dreiunddreißig, nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren.
Das Stuttgart, das er kannte, gab es nicht mehr. Und einen Platz für ihn erst recht nicht. Einige Tage lang hatte er sich im Keller seines einstigen Arbeitgebers, der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria, verkrochen, die inzwischen liquidiert worden war. Die häufigen Durchsuchungen von Häusern in der Nähe hatten ihn jedoch weitergetrieben. Er war in den Weinbergen umhergeirrt, hatte nachts in Parks geschlafen. Längst hatte Verzweiflung das Gefühl von Freiheit verdrängt. Er war gefangen, ohne eingesperrt zu sein.
Wieder Schritte.
Verflucht. Was ging da vor? Er musste raus hier, verschwinden, bevor sie ihn fanden und mitnahmen.
Er richtete sich auf und schob die Beine über die Bettkante. Gerade, als er aufstehen wollte, öffnete sich mit einem heftigen Schlag die Tür.
»Robert? Meine Güte, Robert!«
»Luise?« Robert begann wieder zu zittern.
»Wie kannst du es wagen!«
»Wie … was …?«
»Du kommst also einfach hierher!« Luise Fetzer war außer sich. »Nach all den Jahren! Wo du doch immer so gegen die Rothmanns gewettert hast, erwartest du jetzt, dass sie dich hier verstecken! Weißt du, wie gefährlich das ist? Für das ganze Haus?«
»Ich …«
»Verachtet und beschimpft hast du sie! Während du deinen Klassenkampf  …«, sie betonte das letzte Wort, musste dann plötzlich schlucken und fuhr erst nach einem tiefen Atemzug fort, »… geführt hast, in Moskau warst und alles darangesetzt hast, die Zukunft unserer Tochter zu zerstören, haben wir hier immer eine Zuflucht gehabt! «
»Bitte, Luise, seien Sie leiser«, beschwichtigte nun Viktoria Rheinberger, die hinter seiner Frau ins Zimmer gekommen war. »Wir sollten keine Aufmerksamkeit erregen.«
»Ohne die Rothmanns …«, wisperte Luise nun gedämpft, aber nicht weniger erregt, »ich … ich weiß nicht, was aus uns geworden wäre. Und als sie dich geholt haben, Robert, da wäre ich auf der Straße gestanden, wenn ich hier nicht ein Zimmer bekommen hätte.«
»Luise …« Robert hatte das Gefühl, als zöge es ihm den Boden unter den Füßen weg.
»Ach, Robert. So viele Jahre habe ich ausgeharrt an deiner Seite, obwohl ich dieses Leben niemals haben wollte! Versammlungen, Heimlichkeiten, immer gegen alles wettern. Das ist doch kein Zustand.«
»Luise, ich denke, es ist genug«, hörte er eine weitere Stimme sagen und erkannte die Haushälterin Dora, die im Türrahmen stand. Sie wechselte rasch einen Blick mit Viktoria Rheinberger, dann musterte sie ihn scharf, kam näher und fasste Luise vorsichtig am Arm. »Kommen Sie, Luise …«
Luise wehrte sich nicht gegen die Berührung. Doch bevor sie ging, wandte sie sich noch einmal zu ihm um: »Eines noch: Sollte es irgendwann einmal möglich werden – dann lasse ich mich von dir scheiden!«