18. Kapitel
Das Fotografische Atelier Otto Scholl in der Rotebühlstraße,
am 14. August 1936
Es roch nach Chemie und Papier. Mathilda rümpfte unwillkürlich die Nase, als sie zusammen mit Martin dem jungen Burschen folgte, der sie durch die Atelierräume zu Otto Scholl führte, dem Inhaber des gleichnamigen Fotoateliers. Doch der Geruch war rasch vergessen angesichts der außergewöhnlichen Kulissen, welche das riesige Fotografenstudio beherbergte.
Für nahezu jede Gelegenheit, so schien es Mathilda, konnte ein passendes Szenenbild kreiert werden.
Auf großen Holzplatten waren unterschiedliche Hintergründe aufgebracht, die auf schmalen Schienen liefen. Dadurch ließen sich die einzelnen Elemente verschieben. Die Motive wirkten verblüffend echt. Landschaftsbilder, Stadtansichten, Straßenszenen, eine Rennstrecke – sogar der Weltraum mit unterschiedlichen Planeten. Besonders gut gefielen Mathilda die Kinoplakate. Um die Illusion perfekt zu machen, gab es eine Vielzahl passender Requisiten. Neben den üblichen Tischen, Stühlen und Brüstungselementen entdeckte Mathilda ein Automobil älterer Bauart, ein Motorrad, eine Zapfsäule, eine Straßenlaterne, die Theke einer Bar. Es gab eine Ecke mit diversen Instrumenten, hohen Kerzenleuchtern und Pflanzen. Eine Wand war verspiegelt, eine andere mit künstlichen Fenstern und Spitzenvorhängen versehen, eine dritte zeigte Reliefs, die an alte Burgen erinnerten. Dazwischen standen Fotokameras und Scheinwerfer zur Beleuchtung.
»Das ist ja wie in einem Filmstudio«, wisperte sie Martin zu.
»Ja, er lässt sich immer etwas Neues einfallen, der Scholl«, raunte Martin zurück. »Daher kennt er den Alois. Der hilft ihm bei manchen technischen Sperenzchen.«
Vorbei an drei Säulen eines dorischen Tempelfragments gelangten sie in ein Hinterzimmer. Der Lehrjunge, der sie begleitete, klopfte zweimal an die Tür. Auf ein kurzes »Ja« hin öffnete er die Tür und ließ Mathilda und Martin eintreten. Dann zog er sich zurück.
»Grüß Gott, Herr Rheinberger«, sagte der lange, schmale Mann, der an einem geöffneten Schrank stand und durch dicke Brillengläser einen Stapel mit Fotografien betrachtete.
»Guten Tag, Herr Scholl«, erwiderte Martin. »Ich habe jemanden mitgebracht.«
Der Fotograf drehte sich zu ihnen um. »Ah?«
»Das ist meine Ziehschwester«, stellte Martin vor. »Mathilda Fetzer. «
Mathilda grüßte, doch Scholl streifte sie nur mit einem kurzen Blick. »Hat alles funktioniert?«, fragte er Martin dann übergangslos und ohne seinen Platz am Schrank zu verlassen.
»Es sollte alles in Ordnung sein«, gab Martin zurück. »Ich habe die Aufnahmen allerdings selbst angefertigt. Ich hoffe, sie sind verwendbar.«
»Dann werden wir sie uns gleich einmal ansehen.« Scholl zog eine der breiten Schubladen auf, die das Schrankinnere beherbergte, und suchte weitere Fotografien heraus. Nach einer kurzen Inspektion nickte er zufrieden, schloss Schubladen und Schrank und ging an einen Tisch, auf dem neben einer schlichten Lampe einige Schreibutensilien lagen. Ohne sich hinzusetzen, nahm er einen Bleistift und begann, die Rückseiten der Bilder zu nummerieren. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er und Mathilda bemerkte, dass er ganz leicht lispelte. »Aber diese Bildersammlung wird gleich abgeholt. Ich bin sofort bei Ihnen.«
Wenige Minuten später legte er den Bleistift weg, sortierte die Fotografien in einen Pappkarton und wandte sich ihnen zu. »So, dann geben Sie mir bitte die Kamera.«
Martin trat zu ihm und stellte seine neu erworbene Rolleicord Spiegelreflexkamera auf den Tisch. Scholl nahm das Gerät vorsichtig in die Hand. »Kommt mit!«, sagte er knapp.
Sie verließen den Raum und querten noch einmal das Atelier. Unterwegs wies Scholl seinen Burschen an, den Karton mit den Fotografien aus dem Hinterzimmer zu holen. Dann schob der Fotograf rasch drei der bemalten Holzhintergründe zur Seite und legte eine in wildem Blumenmuster tapezierte Wand frei. Mathilda sah Martin fragend an, doch der zuckte nur mit den Achseln.
Derweil griff Scholl hinter den Schirm einer Wandlampe. Dort musste irgendein versteckter Mechanismus sitzen, denn mit einem leisen Klacken sprang die Wand plötzlich einige Zentimeter auf.
»Eine Tür!«, sagte Mathilda überrascht zu Martin. Der drückte unauffällig ihre Hand.
Scholl griff in den Spalt und schob die eine Hälfte der Wand in die andere. Dann nickte er Martin und Mathilda zu. Sie folgten dem Fotografen in einen spärlich beleuchteten, schmalen Flur. Mit einem erneuten Knopfdruck verschloss Scholl die große Schiebetür zum Atelier.
Der Flur mündete in eine steile Treppe, die wiederum in einem gut gefüllten Weinkeller endete. Hinter einem der Weinregale versteckte sich ein ähnlicher Mechanismus wie zuvor in der Atelierwand. Das Regal rutschte rumpelnd zur Seite und machte eine weitere Tür zugänglich. Scholl schloss sie auf.
Hatte Mathilda der Geruch in den oberen Studioräumen bereits gestört, so verursachte er ihr hier unten richtiggehenden Brechreiz. Martin zog ein Taschentuch aus seinem Jackett und gab es ihr. Sie hielt es vor Nase und Mund.
»Hier unten gibt es keine gute Lüftung«, sagte Scholl entschuldigend, setzte sich an einen der zwei Schreibtische, die in dem relativ großen, lang gezogenen Raum standen, und knipste eine kleine Lampe an. »Der Pass ist so weit vorbereitet. Sobald ich das Passbild entwickelt habe, kann ich ihn fertigstellen.«
Martin räusperte sich. »Es sind zwei Personen. Robert und Luise Fetzer. Hat Alois das nicht gesagt?«
»Nein«, entgegnete Scholl, der ein passähnliches Dokument aus einer Schütte nahm, die auf dem Schreibtisch stand. »Ein Ehepaar?«
»Es handelt sich um meine Eltern«, sagte Mathilda.
»Das dachte ich mir«, meinte Scholl. »Wir können einen zweiten Pass ausstellen, das ist kein Problem. Die Kosten …«
»Übernehme ich«, warf Martin sofort ein. »Das notwendige Foto habe ich bereits aufgenommen. Die Geburtsurkunde fertigen Sie auch an?«
»Selbstverständlich. Die gehört immer dazu.«
Mathilda ließ das Taschentuch sinken und machte einen Schritt zu Scholl hin, der noch immer mit dem Pass ihres Vaters beschäftigt war.
»Kommen Sie ruhig her.« Der Fotograf winkte sie näher. »Sehen Sie, das ist ein unglaublich leichter Karton, speziell für täuschend echte Schweizer Pässe. Fest und biegsam zugleich.«
Er ließ sie das Büchlein befühlen. Es hatte tatsächlich eine andere Haptik als die Ausweisdokumente des Deutschen Reichs. Sie blätterte hinein und las die persönlichen Angaben. Aus Robert Fetzer war Leonhard Schnyder geworden, wohnhaft in Zürich.
»Das ist unglaublich.« Mathilda wurde erst jetzt richtig bewusst, dass sie sich in einer Fälscherwerkstatt befand. Mitten in Stuttgart. Alois hatte viele Kontakte, aber dass er sich auf solch gefährliches Terrain begab, hätte sie nicht erwartet.
»Es ist nicht einfach, aber wenn man es ein paarmal gemacht hat, wird es zur Routine«, erklärte Scholl. »Man muss auf die richtige Papierqualität achten. Dann lassen sich die Wasserzeichen und die Strukturen der Stempel gut aufarbeiten.«
»Und das alles hier«, Mathilda deutete auf die verschiedenen Apparate im Raum, »brauchen Sie dafür?«
»Ja. Fotogravur, Lichtdruck … immer wieder kommt ein Gerät dazu, das uns besser macht.«
»Konstruiert und hergestellt von Alois Eberle?«, fragte Martin.
»Ohne Alois wären wir längst nicht so gut ausgestattet«, erwiderte Scholl. Dann sah er Mathilda und Martin an. »Er hat mir versprochen, dass ich Ihnen vertrauen kann.«
»Das können Sie«, versicherte Martin.
Mathilda war klar, in welch große Gefahr sich jeder begab, der mit dieser Fälscherwerkstatt befasst war. Fast wäre es ihr lieber gewesen, man hätte sie nicht hierhergeführt.
»Gibt es eigentlich kein Problem mit dem Lehrbuben?«, fragte Martin. »Ihm wird doch sicherlich nicht entgangen sein, dass es hier ein … Speziallabor gibt.«
Scholl sah ihn ernst an. »Er ist der Sohn eines Freundes. Halbjude. Die Eltern möchten nach Amerika emigrieren, sitzen aber in England fest. Sobald es möglich ist, reist er ihnen nach. So lange lebt er hier – als mein Neffe, dessen Eltern verstorben sind.«
Mathilda merkte, wie sie ein leichtes Grauen überlief. Dieser junge Bursche, der vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war, musste unter falscher Identität leben. Und das im Land seiner Geburt, das ihm Heimat war, dessen Sprache er sprach und dessen Traditionen er kannte. Mit welchem Recht wurde er auf einmal ausgesondert? Gewiss, auch ihr Vater lebte im Untergrund. Aber seine Verfolgung basierte nicht auf der Religion eines Elternteils. Er hatte eine freie persönliche Entscheidung getroffen, deren Konsequenzen er nun tragen musste.
»Wissen Sie, Herr Rheinberger«, sagte Scholl in die entstandene Stille hinein. »Das hier – das mache ich aus Überzeugung. Und zwar aus vollster. Und wenn ich dafür ins Lager gehen muss oder erschossen werde, so habe ich doch getan, was ich konnte, um dieser Unmenschlichkeit etwas entgegenzusetzen. Und wenn nur ein einziges Menschenleben dadurch gerettet werden konnte.«
»Sie haben bereits mehr Leben gerettet«, stellte Martin fest. »Viel mehr, nicht wahr?«
Scholls Gesicht wurde weich. »Sehr viel mehr.«