20. Kapitel
Die Schokoladenfabrik, zwei Tage später,
am 18. August 1936
Ungläubiges Entsetzen erfasste Judith, als sie mit ihrem Auto an diesem Morgen auf das Eingangstor der Schokoladenfabrik zusteuerte. Schwarze Schriftzüge verunstalteten die hellen Mauern, nicht nur außen, für jedermann sichtbar, sondern auch im Innenhof. BAUHAUS-SCHANDOBJEKT! KEINE JUDEN IN DEUTSCHEN FABRIKEN! KAUFT KEINE ROTHMANN SCHOKOLADE!
Geistesabwesend grüßte sie den besorgt dreinblickenden Pförtner, der ihr das elektrisch betriebene Tor öffnete. Dann parkte sie ihren Wagen. Als sie gerade ausgestiegen war, kam ihr Betriebsleiter Ferdinand Schmitz auf sie zu.
»Wir werden die Schmierereien sofort entfernen, Frau Rheinberger.«
»Ja, bitte. So schnell wie möglich! Wann ist das denn passiert, Herr Schmitz? Heute Nacht? «
»Offensichtlich. Als der Pförtner seine letzte Runde gemacht hat, war noch nichts zu sehen.«
Judith schüttelte den Kopf.
Während der vergangenen Wochen hatte es so gut wie keine Angriffe gegen jüdische Mitbürger mehr gegeben, sämtliche Boykott- und Verbotsschilder waren abgehängt worden, die Aufrufe in den Zeitungen verstummt. Vorgestern noch hatte die Regierung mit viel Pomp und Ehren die Schlussfeier der Olympischen Spiele inszeniert. Das olympische Feuer war noch keine achtundvierzig Stunden erloschen – und nun das.
Judith holte tief Luft. »Danke, Herr Schmitz.«
Der Betriebsleiter nickte. »Die Flugblätter haben wir bereits eingesammelt, Frau Rheinberger.«
»Welche Flugblätter?«
»Die Frühschicht hat auf dem gesamten Werksgelände Flugblätter gefunden. Der Inhalt war dem ähnlich, was auf den Wänden steht.«
»Noch vor wenigen Jahren hätte man in solchen Fällen Anzeige erstattet«, seufzte Judith. »Inzwischen muss man davon ausgehen, dass die Polizei diese Aktionen unterstützt.« Sie rang die Hände. »In welchen Zeiten leben wir eigentlich?«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung, Frau Rheinberger«, erwiderte Schmitz mit gedämpfter Stimme. »Es ist nur so … möglicherweise müsste man wirklich darüber nachdenken, die Mitarbeiterschaft … anzupassen.«
»Wie meinen Sie das?«, herrschte Judith ihn an. »Soll ich unsere jüdischen Arbeiter etwa auf die Straße setzen? Das ist doch unmenschlich.«
»Ich möchte Ihnen wirklich nicht zu nahe treten, Frau Rheinberger, aber vielleicht haben wir eines Tages keine andere Wahl, als den Vorgaben der Oberen zu folgen.« Schmitz wirkte gekränkt. »Das wird noch ein Tanz auf dem Vulkan.«
»Ich kann und ich werde mich nicht verbiegen lassen«, antwortete Judith aufgewühlt, zumal sie spürte, dass Schmitz recht haben könnte. »Wir können doch nicht unsere Werte aufgeben und alles, was wir für richtig halten, über Bord werfen. Das ist ja …«
»Genau das ist es.« Schmitz sprach noch leiser. »Es ist eine Diktatur. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Ich entschuldige mich für meine Offenheit, Frau Rheinberger. Aber die Situation ist zu ernst.«
Das Gespräch mit Schmitz ließ Judith den ganzen Vormittag nicht los. Nachdenklich ging sie ihrer Arbeit nach, kontrollierte Rechnungsbelege, prüfte die Mahnungen, gab Bestellungen frei. Aber ihr Kopf war anderswo.
War das wirklich die Zukunft? Die völlige Unterdrückung durch ein Regime, das jede Menschlichkeit vermissen ließ? Fast war ihr, als hörte sie Victors Stimme, der den Tag der Machtergreifung durch Adolf Hitler im Januar dreiunddreißig mit deutlichen Worten kommentiert hatte: »Eine andere Ära ist angebrochen. Möge Gott geben, dass ich mich täusche, aber ich befürchte, es kommen verdammt schwere Zeiten auf uns zu. «
Es ließ sich nichts mehr schönreden oder verdrängen. Sein Gespür hatte ihn nicht getrogen.
Judith warf einen Blick auf die Kakaolieferungen. Viktoria hatte eine ganze Reihe von Nachbestellungen getätigt, aber keine einzige war bestätigt worden. Wenn sie nicht bald Kakaobohnen erhielten, würde die Produktion demnächst stillstehen. Ganz abgesehen davon, dass sie Bestellungen nur unter Vorbehalt annehmen konnten, sodass die Kunden zur Konkurrenz abwanderten. Die Situation war wirklich bitterernst.
Sie sah sich nochmals genau die Bestände an. Dann nahm sie den Telefonhörer ab und ließ sich mit dem Hamburger Handelskontor verbinden, das ihnen die Ware lieferte.
»Hier Hansen, Handelskontor.«
Judith kannte Herrn Hansen bereits seit vielen Jahren. »Rothmann Schokolade in Stuttgart, hier spricht Judith Rheinberger.«
»Guten Morgen, Frau Rheinberger. Was darf ich für Sie tun?«
»Ich habe soeben festgestellt, dass unsere Lieferungen nicht bestätigt worden sind, Herr Hansen. Weder für den Arriba noch für die venezolanischen Sorten. Das ist bisher noch nie vorgekommen. Würden Sie bitte prüfen, woran das liegen könnte?«
»Einen Augenblick, Frau Rheinberger.«
Judith wartete einige Minuten, bis ihr Gesprächspartner sich wieder meldete.
»Ich bedauere, Frau Rheinberger. Ihre Bestellungen dürfen nicht ausgeliefert werden. «
»Was soll das heißen, Herr Hansen? Wieso sollten wir nicht mehr beliefert werden? Wer hat das angeordnet?«
»Ich darf Ihnen keine weiteren Auskünfte dazu erteilen.« Trotz seiner hanseatischen Höflichkeit war ihm sein Bedauern anzumerken. »Es tut mir leid.«
»Das kann doch nicht wahr sein. Herr Hansen, Sie beliefern uns seit Jahrzehnten, mein Mann war mehrfach bei Ihnen in Hamburg. Wir haben immer pünktlich bezahlt.«
»Daran liegt es nicht, Frau Rheinberger. Selbst wenn ich wollte – ich darf Ihnen nichts dazu sagen.«
»Herr Hansen.« Judith atmete hörbar ein. »Sollten Sie irgendeine Möglichkeit finden, uns doch noch zu beliefern, dann zahle ich vorab. Und über Preis.«
»Ich würde gerne mehr für Sie tun, Frau Rheinberger, aber uns sind die Hände gebunden. Ich wünsche Ihnen alles Gute.«
»Warten Sie, Herr Han…« Noch bevor sie ihren Satz beendet hatte, hörte sie ein leises Knacken in der Leitung. Hansen hatte aufgelegt.
Ungläubig starrte Judith auf den Telefonhörer in ihrer Hand. War es möglich, dass Webers Arm bis nach Hamburg reichte? Dass Herr Hansen ihnen in diesem Augenblick die Zusammenarbeit aufgekündigt hatte?
Sie versuchte, die aufkeimende Verzweiflung im Zaum zu halten. So schnell würde sie sich nicht geschlagen geben. Sobald Viktoria im Haus war, sollte sie sämtliche Kakaoimporteure in Deutschland abfragen. Irgendjemand musste ihnen doch Kakaobohnen verkaufen! Sie würde von vornherein einen Preis anbieten, den niemand ablehnen konnte, der auch nur ein Minimum an Geschäftssinn besaß. Restlos alle Händler im Deutschen Reich konnte auch ein Ortsgruppenleiter Weber nicht beeinflussen. Geld öffnete immer Türen. Notfalls mussten sie nach Holland ausweichen. Den Kakao von dort zu beziehen, käme sie zwar um einiges teurer, wäre aber immer noch besser, als wenn die Maschinen stillstünden. Vor allem, wenn Weber sie mit dieser Aktion in die Knie zwingen wollte.
Müde barg Judith den Kopf in ihren Händen. Über Stirn und Schläfen zog ein drückender Schmerz, ihre Schultern fühlten sich verkrampft an. Wohin sollte das alles führen?
Sie schloss erschöpft die Augen, und bald zogen Bilder vorbei, flüchtig, und doch so klar, als wäre alles erst gestern gewesen. Der Tag, an dem Victor den schwer verletzten Karl nach Hause gebracht hatte und sie sich das erste Mal begegnet waren. Die Blicke, mit denen er sie stets angesehen hatte, wenn sie sich in der Schokoladenfabrik begegnet waren. Victor, der sie in ihrer dunkelsten Stunde bei Schwester Henny abholte …
»Mama?« Viktorias Stimme holte Judith in die Wirklichkeit zurück. »Schläfst du?«
»Ach, Kind …« Judith hob die Lider. Seit Victors Tod hatte sie furchtbar schlechte Nächte. »Ich bin wohl … einen Moment eingenickt.«
Viktoria hatte einen Aktenordner dabei, den sie auf ihren Schreibtisch legte.
»Ich war bei Anton«, sagte sie. »Er hat seinen Stuttgarter Anwalt konsultiert und ihn das Schreiben von Weber prüfen lassen.«
Judith merkte auf. »Und? Was kam dabei heraus?«
»Er wird die Übernahme anfechten und alle damit verbundenen Termine. Allerdings meinte er, dass die Gerichte inzwischen fast ausschließlich zugunsten von nationalsozialistischen Interessen entscheiden.«
»Also bekommen wir lediglich einen Aufschub?«
»Ich würde sagen, wir bekommen etwas Zeit, um die nächsten Schritte zu planen.«
»Hat der Anwalt gesagt, wie groß dieses Zeitfenster sein wird?«
»Nein. Das ist im Augenblick nicht abschätzbar. Wir müssen die Fristen, die Weber gestellt hat, auf jeden Fall im Hinterkopf behalten.«
Es klopfte.
Lydia Rosental trat ein, sie hatte die Post dabei. Ihr Gesicht war kreideweiß und ihre Hände zitterten, als sie Judith die Umschläge übergab.
Judith nahm den Stapel entgegen. »Fühlen Sie sich nicht gut, Fräulein Rosental? Machen Sie sich wegen der Schmierereien Gedanken?«
»Das … das ist es nicht. Jedenfalls nicht nur. Entschuldigen Sie bitte, Frau Rheinberger …« Fräulein Rosental wollte den Raum wieder verlassen, aber Viktoria war rasch bei ihr und fasste sie fürsorglich am Arm.
»Möchten Sie uns erzählen, was passiert ist?«
Da Lydia Rosental nicht gleich antwortete, führte Viktoria sie an ihren Schreibtisch und ließ sie dort Platz nehmen.
»Gestern Abend wurde … die Apotheke meiner Eltern in Ludwigsburg überfallen«, brach es aus ihr heraus. »Einige vermummte Gestalten. Vermutlich war es SS.«
»Mein Gott! Wie geht es Ihren Eltern jetzt?« Viktoria war entsetzt.
»Sie sind beide nur leicht verletzt und zu Hause. Aber ihre Apotheke … ist vollkommen zerstört. Die Polizei weigert sich zu ermitteln.«
»Brauchen sie Hilfe? Finanzieller Art, meine ich?«, fragte Judith.
Lydia Rosental schüttelte den Kopf. »Das wird nichts nützen. Selbst wenn man alles wieder aufbauen würde – wer sollte denn in Zukunft dort einkaufen? Seit gestern hängen die Boykottschilder wieder an vielen Läden.« Sie schluckte. »Und jetzt werden auch hier solche … Botschaften hinterlassen. Und deshalb …« Sie holte tief Luft. »Deshalb werde ich Deutschland … verlassen. Frau Rheinberger, ich muss meine Stelle zum Ende des Monats kündigen. Ich werde mich um meine Eltern kümmern und zugleich um die Möglichkeit der Ausreise in ein Land, in dem wir sicher sind und ganz …«, sie rang mühevoll nach Luft, »… normal leben können.«
»Sie werden gehen?«, fragte Viktoria ungläubig.
»Sie sind eine unserer besten Kräfte!«, ergänzte Judith. »Möchten Sie es sich nicht noch einmal überlegen?« Zugleich wurde ihr klar, dass sie selbst nicht anders entschieden hätte .
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber wir haben keine Wahl.« Lydia Rosental hatte wieder etwas Farbe im Gesicht, als sie aufstand. »Auch wenn es bedeutet, die Heimat zu verlieren. Wir leben seit vielen Generationen in Ludwigsburg und Stuttgart, haben uns nichts zuschulden kommen lassen. Warum wir hier nicht mehr erwünscht sind, nur weil wir ein anderes Bekenntnis haben, werden wir nie verstehen.«
»Es wird sehr schwierig werden, die Lücke, die Sie hinterlassen, zu füllen.« Judith ging zu Lydia Rosental und legte ihr die Hand auf den Arm. »Sie können so lange hier arbeiten, bis die Abreise unmittelbar bevorsteht, Fräulein Rosental. Wir sind froh um jeden Tag, den wir sie haben.« Dann ging sie zu ihrem Schreibtisch und nahm eine Kassette heraus, in der sich immer eine gewisse Summe privaten Geldes befand. Ihr entnahm sie eintausend Mark und legte die Scheine in die Hand ihrer Mitarbeiterin.
Lydia Rosental wollte etwas entgegnen, aber Judith unterbrach sie sofort. »Dies hier ist kein Almosen, sondern der Dank für eine jahrelange, großartige Zusammenarbeit. Ich möchte Ihnen wenigstens so viel mit auf den Weg geben, dass Sie die ersten Wochen in aller Ruhe nach einem neuen Auskommen suchen können. Ganz egal, wohin Ihr Weg Sie führt.«