30. Kapitel
Die SweetCandy Ltd. in New York,
am 23. September 1936
Die Entwicklungsabteilung von Andrews Süßwarenfabrik war ein Paradies. Schon bei der ersten Besichtigung der weitläufigen Räume hatte Viktoria gespürt, dass hier ihr Platz war. Im Gegensatz zur Versuchsküche der Schokoladenfabrik in Stuttgart war die Produktneuentwicklung der SweetCandy unglaublich groß und mit modernster Technik ausgestattet, darunter mehrere elektrische Kühlschränke, ein Luxus, den sie sich in Deutschland nicht hatten leisten können.
Bereits am Tag nach ihrer Ankunft in New York hatte Andrew ihr hier einen festen Arbeitsplatz einrichten lassen, den Viktoria seither aufsuchte, wann immer sie Zeit dafür fand. Eine lange Tischplatte, die wahlweise gekühlt oder erwärmt werden konnte, bot genügend Platz für Kreativität. Der Bereich war zudem üppig ausgestattet mit Töpfen, Schüsseln und Pfannen in unterschiedlichen Größen,
Blechen, Kuchenformen und zahlreichen Utensilien für die Pralinenherstellung. An metallenen Haken an der Wand hingen Schneebesen, Kochlöffel, Paletten und vieles mehr. Unmittelbar an die Tischplatte schloss ein Elektroherd an. Viktoria fühlte sich wie im Schokoladenwunderland.
Heute Nachmittag war ein Gespräch mit Isaak Stern und Andrews Anwalt John Carollo anberaumt, um die Möglichkeiten der SweetCandy auszuloten und die nächsten Schritte zu planen. Den Vormittag aber wollte Viktoria dazu nutzen, die Rezeptur ihrer weißen Schokolade weiter auszufeilen, nachdem die ersten Versuche in Stuttgart misslungen waren.
Sie band eine weiße Schürze vor ihr hellblaues Baumwollkleid und setzte eine weiße Haube auf ihr Haar, das sie im Nacken zu einem geschlungenen Knoten zusammengesteckt hatte. Dann stellte sie die Zutaten zusammen. In der Versuchsphase arbeitete sie mit kleinen Mengen, deren Verhältnis sie genau notierte, sodass im Erfolgsfall eine rasche Adaption für die Produktion im größeren Stil vorgenommen werden konnte.
Sie wog Zucker ab und zerrieb ihn mit dem Mörser zu Zuckerstaub. Anschließend schlitzte sie eine Vanilleschote auf und kratzte das Mark heraus. Dann füllte sie eine der Pfannen mit Wasser, erhitzte es auf dem Elektroherd, stellte eine Schüssel mit Kakaobutter hinein und wartete, bis diese flüssig wurde. Mit einem Schneebesen rührte sie Staubzucker und Milchpulver ein und achtete darauf, dass sich alle Zutaten gut verbanden. Schließlich goss sie die Masse in eine Langtafelform und schob sie vorsichtig in den Kühlschrank
.
»Guten Morgen, Viktoria! Du bist aber schon früh bei der Arbeit!«
Überrascht sah Viktoria über die Schulter. »Guten Morgen, Grace! Ja, Andrew hat mich heute Morgen mitgenommen.«
Viktoria blieb Andrews Cousine gegenüber distanziert. Obwohl Grace sie von ihrer ersten Begegnung an mit offenen Armen empfangen hatte, brauchte diese nicht zu wissen, dass sie die Nächte bei Andrew verbrachte.
»Was hast du denn heute Morgen schon Gutes gezaubert?«, fragte Grace.
»Eine weiße Schokolade.«
»Eine weiße Schokolade? Wie ist denn das möglich? Schokolade muss doch braun sein, oder?«
»Das habe ich zunächst auch gedacht. Eigentlich ist es aber recht simpel: Man verwendet nur Kakaobutter und Milchpulver. Keine Kakaomasse.«
»Das hört sich sehr interessant an. Lass mich wissen, ob dein Experiment geglückt ist, okay?«
»Wenn es geglückt ist – gern.« Viktoria wischte sich die Hände an einem Handtuch ab.
»Weißt du, wann die Sitzung heute ist?« Grace ließ ihren Blick noch einmal über Viktorias Arbeitsfläche schweifen, fast so, als wolle sie ihre Ausstattung überprüfen. »Also die bei Andrew?«
»Die ist um zwei Uhr am Nachmittag.« Viktoria begann, Topf, Schüssel und Arbeitsutensilien in das Spülbecken zu stellen
.
»Um zwei Uhr am Nachmittag? Bist du dir sicher?«
»Ja, natürlich. Andrew hat mich heute Morgen noch einmal darauf hingewiesen. Warum fragst du?«
»Oh my god!
« Grace griff sich an die Stirn. »Ich dachte, sie wäre erst um fünf Uhr. Das ist aber ungünstig! Ich habe heute am frühen Nachmittag einen Termin bei einem wichtigen Kunden in New Jersey. Und du weißt ja, wie es im Moment um die SweetCandy steht. Den kann ich unmöglich absagen.«
»Hat Andrew dir denn nicht Bescheid gegeben?«
»Doch, doch … natürlich hat er das. Aber ich bin mir sicher, dass er fünf Uhr gesagt hat und nicht zwei. Vermutlich hat er sich einfach vertan.« Sie dachte nach. »Dürfte ich dich um einen Gefallen bitten, Viktoria?«
»Nun ja, wenn ich helfen kann …«
»Wäre es dir möglich, die Sitzung für mich zu protokollieren? Dann kann ich alles nacharbeiten.« Sie sah Viktoria fragend an. »Ich hoffe, es macht dir nicht allzu viel Umstände?«
»Wenn dir Stichworte reichen?«
»Ja, natürlich.« Grace umarmte sie. »Oh, ich danke dir so sehr! Kann ich mir die Mitschrift dann gleich morgen Vormittag holen?«
Viktoria war die Nähe unangenehm, die Grace herstellte. »Ich muss schauen …«, sagte sie daher reserviert.
»Ich bräuchte die Aufzeichnungen nur für zwei Stunden, Viktoria. Einfach, um sie durchzulesen. Danach bekommst du alles sofort wieder zurück.«
»Nun …«, Viktoria zögerte noch immer, wollte es sich ab
er nicht mit Grace verscherzen. Schließlich war ihr Wunsch nachvollziehbar. »Also gut. Dann hole sie dir morgen früh.«
»Gut. Bist du wieder hier zu finden? Oder in Andrews Büro?«
»Morgens bin ich vermutlich wieder hier.«
»Das wäre ideal, Viktoria. Sagen wir, um neun Uhr hier, dann verpassen wir uns nicht. Und wir brauchen Andrew ja nicht mit solchen banalen Dingen zu belästigen wie einem Protokoll. Er hat genug zu tun.«
»Allerdings. Dann um neun Uhr.«
Zur selben Zeit in Andrews Büro
»Eleanor!« Andrew sah überrascht auf, als Eleanor Jarrett flotten Schrittes in sein Büro kam. Seine Sekretärin machte eine hilflose Handbewegung, so, als wäre es ihr nicht gelungen, die temperamentvolle Besucherin aufzuhalten.
»Andrew!« Eleanor lachte breit. »Mit mir hast du offensichtlich nicht gerechnet.«
»Wahrlich nicht.« Weder hatte er mit ihr gerechnet, noch war es ihm sonderlich recht, dass sie ohne Vorankündigung hier hereinschneite. Zumal um diese doch recht frühe Stunde. »Was kann ich für dich tun?
«
»Du darfst mir erst einmal eine Zigarette anbieten.« Eleanor zwinkerte ihm zu und ließ sich auf einem der mit dunkelblauem Samt bezogenen Polsterstühle nieder, die sich in einer Ecke seines Büros um einen runden Tisch aus Mahagoniholz gruppierten.
Andrew blieb nichts anderes übrig, als sein Zigarettenetui zu nehmen und sich zu ihr zu setzen. »Du bist doch sicherlich nicht nur hier, um eine Zigarette zu rauchen?«
Sie zündete sich die Zigarette an und blies in einer eleganten Bewegung den Rauch in die Luft. »Natürlich nicht. Auch wenn mich wirklich interessiert hat, wie … es sich anfühlt, in deinem Büro zu rauchen.« Während sie über ihren Scherz lachte, schweifte ihr Blick durch den Raum, über die dicken Teppiche auf dem feinen Parkettboden und die ausgesuchten Möbel. »Hübsch!«
Andrew setzte sich zur ihr in die Sitzgruppe. »Nun, was führt dich her?«, hakte er nach.
»Kennst du Brenda Frazier?«
»Brenda Frazier?« Andrew meinte den Namen schon einmal gehört zu haben, konnte sich aber nicht mehr erinnern, in welchem Zusammenhang. »Nein. Zumindest nicht persönlich.«
»Brenda ist die Debütantin der Saison!«
»Nun ja, ich befasse mich nicht mit den … Debütantinnen der Saison.« Die High Society New Yorks, die Vanderbilts, die Rockefellers und wie sie alle hießen, die ihren Reichtum über die schweren Jahre der Weltwirtschaftskrise gerettet hatte, war ihm unsympathisch und fremd
.
»In Brendas Fall solltest du es.« Sie machte eine bedeutungsvolle Geste mit ihrer Zigarette. »Denn die SweetCandy hat die einmalige Chance, dort mit ihren Produkten vertreten zu sein.«
»Wie bitte? Bei einem Debüt?«
»Ach, Andrew …« Sie verdrehte die Augen. »Nun sei doch nicht so abweisend. Ich habe die süße Brenda zusammen mit einem anderen Journalisten für das Life Magazine
interviewt, für das ich seit meiner Rückkehr aus Berlin hin und wieder arbeite.« Ihre Zigarette knisterte, als sie daran zog. »Sie wird übrigens als Belle of her Season
gehandelt, die Aufmerksamkeit ist ungeheuer groß. Sie macht Werbung für Woodbury
und Studebaker
. Im November wird sie auf der Titelseite der Life
erscheinen.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und sah ihn an. »Nun«, fuhr sie dann fort, »während des Interviews äußerte Brenda den Wunsch, am Abend ihres Debüts ein paar besondere Süßigkeiten zu präsentieren. Ihre Mutter, die sie durch die ganzen Vorbereitungen treibt, nahm diese Idee begeistert auf. Und da kamst du mir in den Sinn.«
»Aha.«
»Ich habe dich empfohlen, Andrew, und sie waren wirklich angetan. Wenn du Interesse daran hast, unterbreite ihnen doch ein Angebot.« Sie betrachtete die glimmende Zigarettenspitze. »Das ist alles.«
»Ähm … nun, ja, das ist sicherlich interessant.« Andrew räusperte sich.
»Na also.« Eleanor zog ein letztes Mal an ihrer Zigarette und drückte sie dann in den Aschenbecher aus Marmor auf
dem Tisch. Die Glut erlosch. »Es werden mehr als eintausend Gäste erwartet, die Illustrierten berichten bereits. Die Publicity könnte von unschätzbarem Wert sein.«
Andrew zögerte mit seiner Antwort. »Eleanor … ich weiß nicht, was dich dazu motiviert hat, ausgerechnet unser Unternehmen für einen so wichtigen Auftrag zu empfehlen. Aber … danke. Dies ist in der Tat eine interessante Möglichkeit, und ich werde darüber nachdenken.«
»Wunderbar!« Eleanor stand auf und zog die Handschuhe an, die sie in der Hand gehalten hatte. »Weißt du, ich habe dich von Anfang an gemocht. Du bist so erfrischend anders als andere Männer. Und du hast mir zugehört, damals auf dem Schiff, als es mir nicht gut ging.«
»Nachdem Brundage dich suspendiert hatte?«
Sie nickte. »Das war einer der Tiefpunkte meines Lebens.«
»So kam es mir damals gar nicht vor. Ich meine, du hattest ja schon einen neuen Plan.«
»Das Angebot der Associated Press
war meine Rettung. Dennoch hat mich Brundages Entscheidung tief getroffen. Weißt du, was es für eine Sportlerin bedeutet, nicht bei Olympia starten zu dürfen?«
»Ich kann es mir vorstellen …«
»Das kannst du nicht, aber das ist auch nicht schlimm. Auf jeden Fall hat mir unser Gespräch damals geholfen. Du hast mir einfach zugehört. Und mir einen Drink spendiert.«
»Ich glaube, das waren sogar zwei.« Andrews innere Anspannung ließ nach.
Eleanor lachte. »Das ist gut möglich.« Sie stand auf, ging
zu ihm hin und legte einen Augenblick lang ihre Hand auf seine Schulter. »Mag sein, dass ich manchmal ein wenig unbekümmert, vielleicht sogar aufdringlich erscheine. Aber ich lasse mich einfach nicht in die üblichen Schablonen pressen, die für uns Frauen vorgesehen sind. Mein Leben ist so bunt wie es die Gedanken in meinem Kopf sind. Betrachte meine Vermittlung zwischen Brenda und der SweetCandy einfach als ein kleines Dankeschön, okay?«
»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …« Andrew erhob sich ebenfalls.
»Ich würde mich freuen, viele Köstlichkeiten der SweetCandy auf Brendas Ball zu sehen.« Sie grinste.
»Ein solches Angebot abzulehnen, wäre geradezu leichtfertig.« Andrew zwinkerte ihr zu.
»Ganz genau. Ich lasse dir den Kontakt der Fraziers zukommen.«
»Danke.« Andrew begleitete sie zur Tür. Als er ihr diese aufhielt, blieb sie noch einmal stehen. »Mein Mann Art Jarrett spielt in den nächsten Wochen einige Konzerte hier in New York – komm doch vorbei, wenn du möchtest.«
Andrew kannte die Musik von Art Jarrett. Er war Leader einer ausgezeichneten Big Band und zudem ein begnadeter Sänger. Vor einigen Jahren hatte er mit seiner Version von Georgia on my Mind
sogar einen Platz in den Charts erreicht. Eigentlich wäre ein Konzert von Jarrett eine schöne Gelegenheit, Viktoria auszuführen. Sie liebte guten Swing, das hatte er an jenem Abend in Stuttgart gemerkt, an dem er mit ihrem Onkel Anton zunächst gespielt und anschließend
bis in die frühen Morgenstunden gefeiert hatte. »Eine gute Idee, Eleanor. Kannst du mir die Termine zukommen lassen?«
»Aber gerne!« Sie zwinkerte ihm zu, dann zog eine ungewohnte Ernsthaftigkeit über ihr Gesicht. »Ich wünsche dir wirklich von Herzen alles Gute. Du bist einer der wenigen ehrlichen Kerle, die mir begegnet sind. Und Kerle gab es einige.«