42. Kapitel
Die Klavier- und Flügelmanufaktur A. Rothmann,
am Spätnachmittag des 23. November 1936
Der typische Geruch nach Leim, Lack und Holz erweckte sofort ein warmes, vertrautes Gefühl in Judith. Zügig durchquerte sie den großen Ausstellungsraum von Antons Klavierfabrik, in dem Besucher von neuen und gebrauchten Tasteninstrumenten empfangen wurden. Sie sah Anton an einem großen, schwarz lackierten Flügel stehen, ins Gespräch mit einer älteren Dame vertieft, die das prächtige Instrument gerade interessiert in Augenschein nahm.
»Gehst du schon voraus, Judith?«, rief er ihr zu. »Die anderen sind in der Wohnung.«
Judith nickte und verließ die Ausstellung in Richtung Werkstatt. Wie vermutet, saß dort ihr Neffe Emil und bastelte mit einigen Holzresten.
»Was wird denn das?«, fragte sie interessiert.
»Ein Turm«, antwortete Emil und hämmerte konzentriert einen Nagel in die Bretter .
»Pass auf, dass du dir nicht auf die Finger haust«, ermahnte Judith.
»Ich hau mir nie auf die Finger.« Emil schien sich von ihrer Fürsorge gestört zu fühlen.
»Na, dann ist es ja gut.« Judith fuhr ihm mit der Hand durch seinen dunklen Haarschopf. »Ich schaue mir deinen Turm an, wenn ich wieder gehe, einverstanden?«
»Ja, Tante Judith.« Emil schüttelte den Kopf, als wolle er das zerzauste Haar wieder ordnen, und suchte in dem neben ihm liegenden Bretterstapel nach dem nächsten passenden Stück.
Judith drückte ihm rasch ein paar Schokoladenbonbons in die Hand und machte sich dann auf den Weg in die Wohnräume im zweiten Stock der Manufaktur.
Ihre Schwägerin empfing sie herzlich und bat sie gleich ins Speisezimmer, wo Karl bereits an der gedeckten Tafel saß. Es duftete nach Apfelkuchen und Kaffee.
»Judith!« Karl stand sofort auf und drückte sie herzlich.
»Schön, dass du gut angekommen bist, Karl«, meinte Judith. »Man weiß ja nie, was unterwegs passiert.«
»Natürlich sind die Grenzkontrollen streng, aber ich bin vorsichtig. Mach dir keine Sorgen!«
Sie setzten sich, und noch während Serafina den Kaffee ausschenkte, kam Anton herein. »Ich bin etwas verspätet, tut mir leid. Aber einen großen Flügel verkaufe ich derzeit nicht mehr alle Tage.«
Serafina servierte den frisch gebackenen Apfelkuchen, während alle sich nach dem gegenseitigen Befinden erkundigten .
»Ihr hattet hier ja recht viel Aufregung zu verkraften«, meinte Karl. »Ehrlich gesagt mussten auch wir diese ganzen Neuigkeiten erst einmal schlucken. Das mit deinem Sohn, und dann auch noch die Sache mit Mutter …«
»Allerdings«, seufzte Judith und legte ihre Kuchengabel auf den Tellerrand. »Es war ein Schock für alle und natürlich habe ich so etwas wie … ein schlechtes Gewissen. Aber selbst dann, wenn ich noch einmal vor derselben Entscheidung stünde, wüsste ich nicht, ob ich anders handeln würde. Unter den damaligen Umständen blieb uns eigentlich keine große Wahl.«
»Die Entscheidung habt ihr, du und Victor, gemeinsam getroffen, daran hat keiner etwas zu kritisieren«, erwiderte Karl. »Dennoch hätte ich zumindest eurem Sohn irgendwann die Wahrheit gesagt, spätestens als er volljährig wurde. Ich finde, ein Kind hat ein Anrecht darauf.«
Seine Worte trafen Judith. »Im Nachhinein hast du sicherlich recht. Aber irgendwann hatten wir alles so verinnerlicht, diese Lüge, wenn du so willst, dass es keine Rolle mehr spielte. Es stand schlichtweg nicht mehr zur Debatte, darüber noch ein Wort zu verlieren.«
»Ist schon gut, Judith«, meinte Karl versöhnlich. »Es war schwer genug für euch damals. Wer weiß, was wir gemacht hätten in so einer Situation. Aber sag, wie geht es Martin jetzt?«
»Er ist mit Mathilda nach Paris abgereist«, antwortete Judith. »Die beiden haben einen Umweg über die Schweiz gemacht, um Mathildas Eltern in Zürich zu besuchen. Ansonsten scheint es, als habe er alles recht gut verkraftet. Er … hält Kontakt zu Max Ebinger, das scheint ihm wichtig zu sein. Was wirklich in ihm vorgeht, kann ich nicht sagen. Das weiß man bei Martin nie so genau.«
»Zum Glück ist Mathilda bei ihm«, stellte Serafina fest, und Judith nickte.
»Auch wenn die Umstände gewiss nicht glücklich waren, so finde ich es gut, dass endlich alles ans Tageslicht gekommen ist.« Anton sah Judith an. »Serafina und ich wussten übrigens schon … länger davon.«
Judiths Kuchengabel fiel mit einem leisen Klirren auf den Porzellanteller. »Ihr wusstet es?«
»Ja. Durch Zufall.« Serafina legte ihr in einer beruhigenden Geste die Hand auf den Arm.
»Nach dem großen Brand habe ich in Victors Arbeitszimmer auf euch gewartet«, sagte Anton. »Und auf dem Schreibtisch lagen alle möglichen Papiere. Ich war an der Hand verletzt, ein Stapel rutschte mir herunter, und da … fiel das Papier aus einer Mappe.«
»Das ist ja nicht schlimm. Aber warum habt ihr nichts gesagt?«, fragte Judith.
»Es war eure Angelegenheit. Allerdings haben wir dadurch manches besser verstanden. Euer Verhältnis zu den Ebingers zum Beispiel.«
»Nun ist es ohnehin nicht mehr zu ändern«, meinte Karl ruhig. »Weder die Tatsache, dass ihr es verschwiegen hattet, noch die Umstände, unter denen es bekannt geworden ist.«
»Wie geht es denn deiner Mutter, Judith?«, wollte Serafina wissen. »Sie war bei uns, gleich nachdem alles herausgekommen war bei Herrn Ebingers Geburtstag, und hat sich von Anton nach Degerloch bringen lassen.«
»Nicht so gut«, antwortete Judith. »Sie ist recht schnell abgereist, ohne Groll zwar, aber völlig durcheinander. Sie konnte mit der Situation einfach nicht umgehen. Wir haben inzwischen einige Male telefoniert. Sie hat Schuldgefühle. Und ich glaube zudem, dass sie noch immer nicht ganz über die Liaison mit Max hinweg ist.«
»Sie sollte mir leidtun«, meinte Karl. »Aber ich kann kein Mitleid empfinden. Wie man sich bettet …«
»Ich kann es ihr schon nachfühlen«, widersprach Anton. »Und ich wünsche ihr, dass sie ihren Frieden damit machen kann. Aber lasst uns jetzt über das sprechen, weshalb wir heute hier zusammengekommen sind: Die Entwicklung in New York. Du hast mit Vicky telefoniert, Karl. Würdest du uns auf den neuesten Stand bringen?«
»In der Tat«, erwiderte Karl. »Andrews Süßwarenfabrik ist wohl zur Zielscheibe von Immobilienspekulanten geworden, die dafür gesorgt haben, dass die Umsätze im letzten Jahr rasant zurückgegangen sind. Die Gefahr ist groß, dass Andrew alles verliert. Jetzt stehen grundsätzliche Überlegungen im Raum, wie man die SweetCandy retten könnte.«
»Ich gehe davon aus, dass mein Darlehen weiterhin gestundet werden soll«, stellte Judith fest.
»Ganz genau. Damit hätte er zunächst neuen Handlungsspielraum. Zunächst bis zum ersten Januar.« Karl hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt .
»Wie beurteilen Herr Stern und Vicky dieses Vorgehen?«, fragte Judith.
»Beide befürworten es. Vicky sieht in den Verfahren und auch den Produktentwicklungen der SweetCandy großes Potenzial für die Zukunft. Herr Stern stützt die These, dass Andrew betrogen worden und ohne eigenes Verschulden in diese wirtschaftliche Notlage geraten ist. Im Augenblick versuchen sie, den oder die Urheber des Betrugs ausfindig zu machen.«
Judith ließ sich Karls Worte durch den Kopf gehen. Am liebsten hätte sie selbst mit ihrer Tochter, Andrew und Herrn Stern gesprochen, aber nach wie vor mussten sie davon ausgehen, dass Telefon und Briefverkehr überwacht wurden. Die Kommunikation über Karl in der Schweiz abzuwickeln, war der sicherere Weg.
»Angenommen, ich stunde bis Anfang des neuen Jahres«, stellte Judith ihre Überlegung in den Raum. »Wie will die SweetCandy ihre Liquidität erhalten? Da gab es doch bereits im Sommer Probleme. Allein mit der Kreditverlängerung wird es dann wohl nicht getan sein.«
»So ist es. Du müsstest noch einmal Geld zuschießen«, sagte Anton.
»Ah.«
»Zunächst einmal geht es darum, Bankkredite abzulösen«, erläuterte Karl. »Die Hudson Bank, also das Geldinstitut, das diese Kredite gewährt hat, verfolgt womöglich eigene Interessen, da sie eine Grundschuld auf das Fabrikgrundstück eingetragen hat. Würdest du diese auslösen, wäre die Gefahr beseitigt, dass sie sie geltend macht. «
»Zugleich ginge die Grundschuld auf mich über?«
»Ganz genau. Und damit hast du nicht nur den Zugriff auf die einundfünfzig Prozent der Fabrik und der Gesellschaft SweetCandy durch eine mögliche Umwandlung deines Darlehens, sondern auch auf das Grundstück.«
»Dann ist die Entscheidung eigentlich klar«, konstatierte Judith.
»Das denke ich auch«, erwiderte Karl. »Allerdings braucht die SweetCandy darüber hinaus eben weitere Mittel, um den Betrieb aufrechtzuerhalten.«
»In Summe würden unsere Kapitalreserven fast vollständig dort eingesetzt«, sagte Judith. »Damit gehen wir ein hohes Risiko ein. Und nehmen uns die Möglichkeit, die Schokoladenfabrik in Stuttgart zurückzukaufen.«
»Wir wissen, dass du dir Hoffnung auf einen Rückkauf machst, Judith«, antwortete Anton. »Aber es wäre in der augenblicklichen Situation falsch, darauf zu spekulieren. Ein Investment dieser Größenordnung in New York …«
»… bedeutet, dass die Rothmann Schokoladenfabrik künftig in New York ihren Sitz hat«, stellte Judith fest. »Dann möchte ich aber auch, dass sie Rothmann Schokolade heißt. Das bin ich Victor schuldig.«
»Das ist dein gutes Recht«, erwiderte Karl. »Ich denke, darüber werdet ihr sicherlich sprechen können.«
»Das müssen wir«, entgegnete Judith. »Wir investieren eine enorme Summe und geben hier in Stuttgart fast alle Möglichkeiten auf. «
»Über die Ausgestaltung muss natürlich diskutiert werden, Judith«, sagte Karl. »Da kann und wird sich Andrew nicht querstellen. Was das Wagnis angeht, so ist ein Grundstück in Manhattan von enormem Wert, da die Preise ständig steigen. Damit wäre dein Geld abgesichert.«
»Eine große Unbekannte bleibt dennoch«, erklärte Judith. »Die Frage, wer die SweetCandy in den Ruin treiben will.«
»Möglicherweise hat der Spuk ein Ende, sobald der Hudson Bank der Zugriff auf das Grundstück genommen ist«, meinte Anton.
»Wie schätzt ihr die Chancen dafür ein?«, fragte Judith und sah von Anton zu Karl.
»Das ist von hier aus schlecht einzuschätzen«, erwiderte Karl. »Aber alles in allem …«
»… müssen wir etwas wagen«, unterbrach ihn Judith. »Ich werde eine Nacht darüber schlafen. Bis morgen treffe ich meine Entscheidung.«
Die Villa Rothmann,
gegen sieben Uhr abends am selben Tag
Nachdem Judith von ihrem Besuch bei Anton zurückgekehrt war, hatte sie das Auto in der Garage geparkt und war über den Seiteneingang in den Dienstbotentrakt der Schokoladenvilla gelangt. Unzählige Gedanken waren ihr auf der Fahrt durch den Kopf gegangen, die sie erst einmal ordnen musste.
In der Küche fand sie Theo und Gerti vor, die miteinander zu Abend aßen. Kurz entschlossen setzte sie sich zu ihnen an den Tisch.
»Ich bringe Ihnen gleich etwas hinauf, gnädige Frau!« Gerti war es sichtlich unangenehm, dass Judith sie beim Essen überrascht hatte.
»Ach, Gerti«, meinte Judith. »Warum soll ich denn oben alleine essen? Dora besucht eine Verwandte. Ich würde gerne bei euch bleiben, wenn es recht ist?«
»Ja, selbstverständlich!«, nuschelte Theo, der sich gerade einen Wurstzipfel in den Mund gesteckt hatte.
Gertis Wangen röteten sich zwar, aber auch sie nickte. »Natürlich. Ich hol Ihnen nur schnell einen Teller.«
Sie besorgte Teller, Besteck und Becher und deckte Judiths Platz. »Ich habe eine Sülze gemacht …«
»Fein. Das ist jetzt genau das Richtige für mich.« Judith nahm sich von der Sülze und eine Scheibe Brot und aß mit gutem Appetit. Seit Martin, Mathilda und auch ihre Mutter abgereist waren, fühlte sie sich in dem großen Anwesen manchmal ein wenig verloren, erst recht dann, wenn Dora nicht da war.
»Die Fanny ist heute schon nach Hause gegangen«, erklärte Gerti. »Sie hat sich nicht wohlgefühlt.«
»Vielleicht bekommt sie die Grippe«, meinte Theo.
»Na, hoffentlich nicht«, erwiderte Gerti .
Eine Weile aßen sie schweigend. Dann klopfte es auf einmal laut und heftig an die Tür des Dienstbotentrakts.
Gerti sah verwundert zu Theo. Der zuckte mit den Schultern und stand auf, um die Tür zu öffnen.
Schon von Weitem erkannte Judith Tines Stimme. Was um Himmels willen hatte das ehemalige Dienstmädchen hier zu suchen?
»Frau Rheinberger, gnädige Frau«, stammelte Tine verlegen, als Theo sie in die Küche führte. »Entschuldiget Sie, dass ich einfach so daherkomm. Aber ich muss Ihne dringend ebbes sagen.«
»Worum geht es denn?«, fragte Judith.
»Ich wollt Sie warnen.«
»Warnen? Wovor?«
»Da gibt es Leut, gnädige Frau, die wollet Ihnen Böses.«
Judith merkte, wie sie unruhig wurde, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. »Inwiefern wollen diese Leute mir Böses, Tine? Du musst mir schon genauer Auskunft geben.«
»Also. Ich hab einen Freund, der ist bei der … SA.«
»Ich weiß«, brummelte Theo. »Hab dich im Sommer ja mit ihm gesehen.«
»Der hat mir jedenfalls gsagt, ich muss ein paar Buben suchen, damit die hier blöde Sachen auf die Wände schreiben.«
»Tine!«, rief Gerti. »Was soll denn das nun wieder heißen?«
»Ha, so Sprüch halt. Die die gnädige Frau Rheinberger ärgern, und ihr auch Angst machen. Was genau, wollt der mir noch aufschreiben. Also, mein Freund wollt des aufschreiben. «
»Darf ich dich fragen, warum du mich warnen willst, Tine?«, fragte Judith ruhig.
Nun fing Tine an zu schluchzen. »Der hat mi verlassen, der hundsliederliche Seggl . Und jetzt … und jetzt … bin ich i einfach so unglücklich.«
»Also hast du Liebeskummer«, stellte Judith fest. »Und möchtest dich an ihm rächen, indem du mir seine Pläne verrätst?«
»Vielleicht …« Nun zögerte Tine. »Der hat eine neue Freundin in Stuttgart unten.«
»Jetzt sag doch das, was für die gnädige Frau wichtig ist«, schimpfte Gerti. »Dein Liebeskummer interessiert niemanden.«
»Es ist … es ist«, schnupfte Tine. »Es ist ja noch mehr gewesen …«
»Dann raus damit!« Theo klang mittlerweile genauso ungeduldig wie Gerti.
»Also, schon als ich hier gearbeitet hab, hat er mir, also mein Freund, immer gsagt, ich soll meine Augen offen halten. Aber ich hab net gwusst, was er genau meint. Ich hab ihm halt erzählt, was es bei der Herrschaft zum Essen gibt und welche Kleider das Fräulein Viktoria neu gekauft hat …«
»Und das hat ihn nicht besonders interessiert«, mutmaßte Gerti.
»Noi. Der hat gsagt, ich soll im Arbeitszimmer beim Saubermachen gucken, oder zuhorchen, wenn jemand da ist und die Herrschaft sich mit dem unterhält. Aber ich hab mir des doch nie richtig merken können, was die alles verzählt haben. Und so schnell konnt ich au net lesen, wenn da was auf dem Schreibtisch gelegen ist …«
»Ein Glück ist dieses Kind so dumm«, hörte Judith Theo leise murmeln.
»Und als ich jetzt keinen gfunden hab, der was auf die Villa schreibt, da hat er rumgebrüllt und gsagt, dass er Ärger kriegt und dass ich mir mehr Mühe geben soll und dass ich zu allem zu blöd bin … und dass er mi jetzt verlässt.«
Theo verschluckte sich vor Kopfschütteln beinahe an einem Stück Brot.
»Tine«, begann Judith vorsichtig. »Weißt du vielleicht, ob es die Idee deines Freundes war, unsere Wände zu beschmieren? Oder gibt es jemanden, der ihn damit beauftragt hat?«
»Ich weiß doch au net …« Tine wischte sich mit dem Handrücken über die rot geweinten Augen.
»Hat er irgendwann einmal einen Namen genannt?« Judith ließ nicht locker.
Tine überlegte und knetete dabei ihr Taschentuch, das sie im Laufe ihres Gefühlsausbruchs aus der Tasche ihres Rockes gezogen hatte.
»Es ist immer einer aus Stuttgart unten raufgekommen. Mit dem hat er sich in der Wirtschaft getroffen, zum Bier. Ich glaub, der hat … Weber geheißen. Aber genau kann i des nimmer sagen.«
Obwohl sie mit dieser Möglichkeit gerechnet hatte, überlief es Judith heiß und kalt.
»Weber?«
Tine schnäuzte sich. »Ja, ich glaub. Der hat immer von einem Weber gschwätzt. Des fällt mir deshalb ein, weil er gsagt hat, dass ich den Namen nie sagen darf. Zu nie-man-dem.« Die letzten Wortsilben dehnte sie, so wie es im Schwäbischen oft geschah, wenn sich jemand um eine deutliche Aussprache bemühte.
»Ist gut, Tine. Du kannst gehen.« Judith suchte zwei Mark aus ihrer Tasche heraus und gab sie dem Mädchen.
Tine machte einen schiefen Knicks. »Danke, gnädige Frau.«
»Wenn du noch einmal etwas hörst, Tine, dann kommst du gleich zu uns, hörst du?«, sagte sie eindringlich.
»Ja, Frau Rheinberger.«
Nachdem das ehemalige Dienstmädchen gegangen war, sahen sich Gerti und Theo sorgenvoll an.
Judith seufzte.
Konnte es sein, dass Weber seine Niederlage nicht verwunden hatte und Rache suchte? Dass sie sich auf einen Kleinkrieg mit einem in seiner Ehre gekränkten Ortsgruppenleiter einlassen musste?
In Stuttgart, das wurde immer deutlicher, gab es kaum mehr eine Zukunft für sie. Victor war tot, die Schokoladenfabrik verkauft, ihre Familie in alle Winde verstreut.
Was blieb vom Glück? Ein Grab, verlorene Träume, unzählige Erinnerungen.
Aber auch Hoffnung. Zart, verwundbar, und zugleich voller Kraft. Gespeist aus einem ursprünglichen Wunsch nach Leben, den Judith in sich fühlte.
Es half nichts, am Gestern festzuhalten.
Gestalten konnte sie nur das Morgen.