47. Kapitel
Andrews Büro, am 22. Dezember 1936,
gegen neun Uhr am Vormittag
»Wach auf, meine Liebe!« Wie durch dichten Nebel drang Eleanors Stimme an Viktorias Ohr.
»Mhm«, machte Viktoria, ohne die Augen aufzuschlagen. Eigentlich wollte sie nur ihre Ruhe haben.
»Viktoria! Komm schon! Das kann hier doch nicht bequem sein!«
Viktoria blinzelte nun doch und sah in Eleanors verschwommenes Gesicht. Langsam richtete sie sich in Andrews Schreibtischstuhl auf, in dem sie eingeschlafen war. Alle ihre Glieder schmerzten.
»Na also«, Eleanor zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber. »Geht es dir gut?«
Viktoria antwortete nicht und rieb sich stattdessen die Augen. »Was machst du denn schon so früh hier, Eleanor?«,
»Ich wollte fragen, wie die Vorbereitungen für Brendas Debüt laufen. «
»Gut.« Viktoria gähnte.
»Gut?«, hakte Eleanor nach. »Ich hoffe doch, es läuft alles ganz fantastisch!«
»Ja. Es läuft alles ganz fantastisch«, erwiderte Viktoria müde.
Eleanor sah sie prüfend an. »Was ist los, Viktoria?«
Viktoria holte tief Luft. »Andrew ist im … Gefängnis.« Auf einmal strömten die Tränen. Erschöpfung, Angst und Sorge brachen sich Bahn.
Eleanor kam sofort zu ihr auf die andere Seite des Schreibtisches und legte tröstend den Arm um sie. »Möchtest du mir erzählen, was passiert ist?«
Viktoria nickte, brachte aber keinen Ton heraus.
»Weißt du was?«, meinte Eleanor fürsorglich. »Jetzt gibt es erst einmal einen Kaffee und etwas zu essen. Nach einem anständigen Frühstück sieht die Welt gleich ganz anders aus.«
»Ich … ich kann nicht«, erwiderte Viktoria. »Ich muss weitermachen mit den Vorbereitungen für Brenda.«
»Nein.« Eleanor schüttelte energisch den Kopf. »In diesem Zustand wird dir ohnehin nichts gelingen. Wir gehen frühstücken und du erzählst mir, was passiert ist. Und dann werde ich hier mit dir eine mehrseitige Reportage über die German Chocolate Queen machen. Diese Werbung, Viktoria, wird eure Firma nach vorn katapultieren, glaub mir.«
»Wirklich? Das tust du für mich?«
»Dafür wirst du auch etwas für mich tun. Denn ich möchte mit dir eine exklusive Schokoladenlinie entwickeln, so wie die Sportschokolade, von der du mir erzählt hast.« Sie grinste und Viktoria war sich nicht sicher, wie ernst sie das mit der Sportschokolade meinte.
»Du willst wirklich eine eigene Schokolade herausbringen? Eine, die deinen Namen trägt?«
»Genau. Näheres besprechen wir dann, wenn Brendas Debüt vorüber ist.« Eleanor lächelte. »Und jetzt lass uns rasch in die Cafeteria gehen. In etwa einer Stunde kommt einer unserer Fotografen hierher. Er wird sagenhafte Bilder von dir und deiner Arbeit machen. Du wirst sehen – bald sind eure Auftragsbücher voll.«
Sie verließen Andrews Büro und gingen zum Aufzug. Plötzlich griff Viktoria sich an Stirn: »Ich muss Sally Bescheid geben. Wir wollten uns um zehn Uhr wieder treffen.«
Eleanor nickte. »Natürlich. Ich warte in der Halle.«
Eine Stunde später waren sie wieder zurück in der SweetCandy. Viktoria fühlte sich deutlich besser. Zum einen hatte das Frühstück tatsächlich ihre Lebensgeister geweckt, zum anderen hatte sie Eleanor von der Sache mit Andrew berichten und sich damit ein wenig Ballast von der Seele reden können. Eleanor hatte sich zuversichtlich gezeigt, dass Andrew aufgrund der Kautionszahlung bald auf freien Fuß kommen würde.
In der Eingangshalle der Firma wartete bereits der Fotograf – er stellte sich als Mike vor, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg in die Entwicklungsabteilung. Unterwegs schoss Mike bereits die ersten Bilder .
»Das duftet aber fein!«, meinte Eleanor, als sie die Produktentwicklung erreichten.
»Das stimmt!«, bestätigte Mike. »Ich hoffe, wir dürfen auch ein wenig Schokolade probieren.«
Viktoria öffnete die Tür. »Selbstverständlich.«
»Viktoria!«, rief Sally, als sie den Raum betraten. Um sie herum standen einige der zehn Mitarbeiterinnen der Abteilung und schienen ihr bei irgendetwas zuzuschauen. »Wir sind gerade dabei, die weißen Hohlkörper zu füllen!«
»Das ist wunderbar, Sally«, antwortete Viktoria und wandte sich an Eleanor und Mike. »Gerade entsteht eine der Spezialitäten für Brendas Ball – weiße Erdbeertrüffel.«
»Das hört sich exquisit an!«, meinte Eleanor erwartungsvoll, schlug ihre Kladde auf und machte sich sofort einige Notizen.
Derweil drückte Mike bereits wieder auf den Auslöser und hielt fest, wie Sally mit einem Spritzbeutel zunächst einen Klecks Erdbeermarmelade und anschließend eine mit Champagner verfeinerte Ganache in die Pralinenhohlkörper füllte. Zuletzt wurde das Praliné mit etwas weißer Kuvertüre verschlossen.
Während die Mädchen Sally zur Hand gingen, stellte Eleanor Viktoria zahlreiche Fragen, insbesondere zu ihrem Werdegang und der Schokoladenfabrik in Stuttgart, und schrieb voller Begeisterung mit. Schließlich lenkte sie das Gespräch auf die Vorbereitungen für Brendas Büfett. Hier wollte Eleanor vor allem Bilder sprechen lassen, Aufnahmen, die die Neugier der Leser weckten, ohne zu viel zu verraten. Mike fotografierte die Zutaten und die arbeitenden Mädchen. Über die Verwendung der einzelnen Produktaufnahmen würde Eleanor dann entscheiden, wenn sie den Bericht fertiggestellt hatte.
Schließlich klappte Eleanor die Kladde zu und umarmte Viktoria. »Das war sehr eindrücklich, meine Liebe! Danke!«
»Ich muss dir danken, Eleanor! Ich bin schon sehr gespannt, was du daraus machst.« Sie winkte Sally zu sich. »Wir haben noch etwas vorbereitet.«
Sally überreichte Eleanor ein Schächtelchen mit Proben der Debütpralinen.
»Für euch und für die Redaktion«, meinte Viktoria.
Eleanor nahm es, hob kurz den Deckel und spähte hinein. »Oh, danke schön! Wir werden sie uns schmecken lassen!«
»Weißt du schon, wann der Bericht erscheint?«, fragte Viktoria, als sie Eleanor und Mike zum Ausgang begleitete.
»Anfang nächster Woche. Ich lasse dir eine Ausgabe zuschicken.«
Am Abend desselben Tages
Viktoria war zufrieden, aber völlig erschöpft, als sie sich am Abend auf den Weg nach Greenwich Village machte. Nachdem Eleanor und Mike gegangen waren, hatten sie und Sally noch stundenlang weitergearbeitet. Neben den Erdbeertrüffeln waren auch beide Varianten an essbaren Diamanten geglückt. Zudem hatten sich einige Mitarbeiterinnen der Entwicklungsabteilung nach einer Verkostung der Lavendelpralinés lobend geäußert – nur Sally war der Geschmack zu intensiv gewesen. Viktoria aber war sich sicher, dass die verwöhnte Festgesellschaft einen neuen Geschmack, vielleicht in Verbindung mit einem passenden Drink, ganz besonders interessant finden würde.
Draußen in der kalten Dezemberluft legte Viktoria ein rasches Tempo vor, weil sie schnell zu Hause sein wollte, und war schon fast an der Subway Station, als sie vor sich eine Frauengestalt in einem dicken Wintermantel wahrnahm, die ihr vage bekannt vorkam. Unwillkürlich passte sie sich den Schritten der Dame an. Doch erst in dem Moment, da die Fremde am Abgang zur Subway vorbeilief, erkannte sie im schwachen Licht der Straßenlaternen … Grace Miller.
Viktoria war perplex. Andrews Cousine sollte eigentlich in Boston sein. Was hatte sie denn noch hier in New York zu suchen?
Ohne groß darüber nachzudenken, heftete sie sich an Graces Fersen. Einsetzender Schneefall und das Halbdunkel des Winterabends machten es schwierig, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Glücklicherweise dauerte es nicht lange, bis sie an der Ecke eines riesigen Gebäudekomplexes stehen blieb, den Schnee von ihrem pelzbesetzten Mantel streifte und dann in einen der überdachten Zugänge einbog, zwischen denen jeweils die amerikanische Flagge wehte. Bevor sie endgültig hineinging, hielt Grace noch einmal inne und sah sich vorsichtig um.
Viktoria, die an der gegenüberliegenden Straßenseite der West 23rd Street stand, senkte den Kopf, beobachtete Graces Gestalt aber weiterhin aus den Augenwinkeln. Denn diese stand direkt vor dem London Terrace , jenem exklusiven, mächtigen Wohnkomplex mit Swimmingpool, Sporthalle und diversen Restaurants, in dem Grace im Vorjahr angeblich für einen Freund ihres Großvaters ein Apartment gemietet hatte.
Was ging hier vor?
Bewohnte Grace das Apartment hier am Ende selbst? Oder stattete sie jenem Freund einen Besuch ab?
Grace war mittlerweile im Gebäude verschwunden. Viktoria wartete noch einige Minuten, ging dann langsam über die Straße und betrat durch eine Doppeltür aus Messing und Glas die Lobby des Häuserblocks.
Der Eingang wurde von Portiers flankiert, die Uniformen im Stil der englischen Polizei trugen. Von Grace war nichts mehr zu sehen, vermutlich war sie bereits mit dem Aufzug auf dem Weg in eines der oberen Stockwerke.
Viktoria überlegte kurz, was sie nun tun sollte und stand dabei offenbar sichtlich unschlüssig in der Halle herum, sodass einer der doormen sie ansprach: »Kann ich Ihnen helfen, Miss?«
»Äh, nein … ja.« Viktoria überlegte fieberhaft, was sie antworten sollte. »Ich habe im Vorbeilaufen zufällig eine fr ühere Freundin hier hineingehen sehen und wollte sie ansprechen – aber sie ist nun schon weg.«
»Wie heißt denn Ihre Freundin?«
»Grace Miller.«
»Ich bedauere, aber in diesem Haus wohnt niemand mit Namen Grace Miller.«
»Nein?«
»Ich muss Sie leider bitten, das Haus zu verlassen, Miss.«
»Bitte. Es ist sehr wichtig.«
»Noch einmal. Es tut mit leid.« Der Ton des Portiers wurde bestimmter.
»Dann besucht sie … eine Freundin«, versuchte Viktoria es noch einmal. »Ja, sie besucht hier sicherlich eine Freundin. Ich werde … einfach nach oben fahren und nachsehen.«
»Das ist nicht möglich, Miss.« Der Portier stand wie eine Wand zwischen Viktoria und den Aufzügen. »Bitte verlassen Sie diese Lobby. Sonst muss ich die Polizei rufen.«
Viktoria tat einen Schritt zurück.
War es möglich, dass Grace unter falschem Namen hier lebte? Oder mit dem Freund des Großvaters bekannt war, der sich angeblich hier eingemietet hatte? Viktoria ärgerte sich, dass sie Andrew nicht nach dem Namen dieses Mannes gefragt hatte. Dann wäre es jetzt womöglich einfacher. Im Augenblick konnte sie nichts ausrichten.
»Danke«, murmelte sie und wandte sich zum Gehen.
Als sie auf die Straße trat, hatte dichtes Schneetreiben eingesetzt. Sie hätte sich ein Taxi anhalten können, aber sie zog es vor, zu Fuß zur nächsten Subway Station zu gehen – sie brauchte Bewegung und frische Luft, dann konnte sie besser denken.
Sie musste unbedingt den Mietvertrag heraussuchen. Mit diesem sollte es möglich sein, an den doormen vorbeizukommen.
Völlig durchfroren und durchnässt erreichte sie schließlich Andrews Apartment in Greenwich Village.