48. Kapitel
Der Rockefeller Skating Pond,
am 25. Dezember 1936
»Na, was sagst du?«, fragte Eleanor erwartungsvoll. »Das ist doch großartig hier, nicht wahr? Da hat die Times
wirklich nicht zu viel versprochen.«
Viktoria zog gerade die Schlittschuhe an, die Eleanor ihr ausgeliehen hatte. »Ja, herrlich! Danke, dass du dir heute Zeit für mich genommen hast.« Sie sah Eleanor von unten herauf an. »Macht es deinem Mann denn wirklich nichts aus, dass er am Weihnachtstag allein ist?«
»Oh nein. Er genießt die Ruhe.« Eleanor zwinkerte ihr zu. »Außerdem versteht er, dass ich dich ablenken muss.«
»Ach, wenn das so einfach wäre«, seufzte Viktoria. »Aber es ist ein schöner Versuch.«
Andrew war noch immer in Haft, obwohl die Kautionszahlung eigentlich längst vorliegen müsste. John Carollo, den sie beinahe täglich anrief, meinte, dass die Weihnachtstage zu Verzögerungen geführt hätten, was Viktoria wiederum ganz
und gar nicht verstand. Allmählich fragte sie sich, warum Andrew noch immer an diesem Anwalt festhielt, der weder in der Betrugsgeschichte noch jetzt in der Strafsache irgendetwas zu bewegen schien.
»Bist du fertig?«, fragte Eleanor.
Viktoria zog die letzte Schleife fest und richtete sich auf. »Ja.«
»Dann los!«
Sie begaben sich auf die künstlich angelegte Eisfläche inmitten des weihnachtlich geschmückten Rockefeller Center. Der heutige Eröffnungstag des Skating Ponds lockte zahlreiche New Yorker an und entsprechend viel Trubel herrschte auf der Schlittschuhbahn.
Viktoria hielt sich zunächst am Rand, dann wurde sie schneller und mischte sich schließlich unter die eislaufenden Menschen. Die Männer trugen Anzug oder Knickerbocker mit hellen Pullovern, einige der Damen schwebten in knielangen, hochgeschlossenen Kleidern auf weißen Schlittschuhen über das Eis, andere wiederum bevorzugten Röcke und Pullover, so wie Viktoria und Eleanor. Während manche still ihre Runden drehten, hatte sich eine Gruppe junger Leute zu einem Kreis zusammengefunden und probierte sich unter Gelächter an zahlreichen Figuren. Ein Pärchen tanzte selbstvergessen einen Walzer auf dem Eis. Über der langen Seite der Schlittschuhbahn lag die riesige, vergoldete Bronzegussskulptur des Prometheus, der, eingerahmt von Wasserfontänen, das fröhliche Treiben zu seinen Füßen zu beobachten schien
.
Unzählige Zuschauer säumten die Bande am Rand oder warteten darauf, selbst aufs Eis zu dürfen, denn die Kapazität der kleinen Bahn war begrenzt. Ordner achteten darauf, dass es nicht zu voll wurde.
Während Viktoria über das Eis glitt, fühlte sie sich plötzlich wieder so unbeschwert wie als Kind, wenn sie mit Mathilda auf dem Feuersee in Stuttgart ihre Bahnen gezogen hatte. Die letzten Tage hier in Amerika waren schwer gewesen. Der erste Heilige Abend in der Fremde, allein, ohne ihre Familie. Sie hatte sich eine Kerze angezündet und einen Tee gekocht, dem Schneegestöber vor dem Fenster zugesehen und an Andrew gedacht. Da sie mit ihm weder verwandt noch verheiratet war, durfte sie ihn selbst an diesen besonderen Feiertagen nicht im Gefängnis besuchen.
Später hatte sie mit Karl telefoniert und auch noch einmal mit ihrer Mutter, die gemeinsam mit Hélène und Georg feierten. Natürlich war die Sprache dabei auf Judiths bevorstehenden Aufenthalt in Amerika gekommen, aber Viktoria hatte ihrer Familie trotzdem nichts von den Geschehnissen um Andrew erzählt. Bevor sie dazu etwas sagte, wollte sie sich darüber mit ihm abstimmen. Sobald er wieder zu Hause war.
Eleanor fuhr ausgezeichnet Schlittschuh. Viktoria bewunderte die Pirouetten und die kleinen Figuren, welche die Amerikanerin zeigte. Eleanor war Schwimmerin und ihre Sportlichkeit bewundernswert. Vor allem aber war sie ihr eine gute und zuverlässige Freundin geworden.
Viktoria ließ sich von Eleanor anstecken und probierte
selbst einige Drehungen aus. Mit einem Mal kam Eleanor grinsend auf sie zugefahren, nahm sie an den Händen und zog sie mit sich in einen schnellen Kreisel.
Viktoria lachte. Bestimmt waren ihre eigenen Wangen ebenso gerötet wie die von Eleanor, denn die Winterluft war kalt und brannte auf der Haut. Zugleich tat die Bewegung gut, sie machte den Kopf frei und ließ sie ihre eigene Kraft spüren. Als Viktoria und Eleanor schließlich die Eisbahn verließen, war Viktoria wieder zuversichtlich, dass die Sache mit Andrew zu einem guten Ende kommen würde.
»So«, meinte Eleanor, nachdem sie ihre Schlittschuhe ausgezogen hatten, »jetzt gehen wir etwas essen.«
»Gern. Hier?«
»Ja, hier. Komm mit.«
Sie mussten eine Weile warten, bis sie einen Platz im Promenade Café
ergattern konnten, dann setzten sie sich und bestellten vorab zwei Gläser Champagner.
»Schließlich ist heute Weihnachten«, sagte Eleanor zufrieden, als sie ihr zuprostete. »Auf dass die Zeiten für dich besser werden!«
»Danke.« Viktoria genoss das leise Klirren der Champagnerflöten, als sie mit ihrem Glas leicht gegen das von Eleanor tippte. »Und ja, lass uns diese Stunden genießen.«
Die kulinarische Auswahl war wunderbar. Viktoria konnte sich nicht entscheiden und studierte minutenlang die Speisekarte. Schließlich wählte sie das Lamm, Eleanor das Roastbeef Sandwich.
Nachdem der Kellner die Bestellung aufgenommen hatte,
zündete sich Eleanor eine Zigarette an und blies den Rauch in die Luft. »Wann wirst du das nächste Mal mit eurem Anwalt sprechen, Viktoria?«
»Sobald ich ihn erreichen kann. Er verbringt die Weihnachtstage mit seiner Familie in New Jersey und kommt morgen zurück nach Manhattan.«
»Ein Tag vor Brendas Debüt.«
»Genau.«
»Sie werden ihn mit Sicherheit bald freilassen, Viktoria.«
»Ich hoffe.« Viktoria rieb sich die Schläfe. »Noch immer ist es mir ein Rätsel, wie man einen Unschuldigen einfach verhaften kann. Wird ein Fall denn nicht erst einmal gründlich geprüft?«
»Eigentlich schon. Es sei denn, es besteht Fluchtgefahr. Dann könnte ich mir vorstellen, dass sie rasch handeln. Irgendjemand muss die Sache besonders dramatisch geschildert haben – oder man hat die Staatsanwaltschaft bestochen.« Eleanor drückte ihre Zigarette aus, obwohl sie nur dreimal daran gezogen hatte. »John Carollo ist ein guter Anwalt, gerade in Wirtschaftsdingen. Er wird ihn da herausholen. Hast du ihm eigentlich von Grace erzählt?«
»Ja. Er fand es auch eigenartig, aber allein ihre Anwesenheit im London Terrace
begründet noch keinen Verdacht. Dennoch wird er die Wohnung überprüfen.«
»Gut.«
Sie unterhielten sich über Carollos Ruf und einige spektakuläre Fälle von Wirtschaftskriminalität, bis der Kellner das Essen servierte
.
»Es schmeckt wirklich ausgezeichnet«, meinte Viktoria, nachdem sie das Lamm probiert hatte.
»Kommst du mit den Vorbereitungen zu Brendas Debüt eigentlich gut voran?«, wollte Eleanor wissen. »Es ist ja doch ein beachtlicher Aufwand.«
»Weißt du«, antwortete Viktoria. »Dieses Debüt hilft mir über diese unglückliche Zeit hinweg. Es gibt so viel zu tun, dass ich manchmal alles um mich herum vergesse.«
»Das kann ich gut verstehen. Hast du Hilfe?«
»Sally ist immer zur Stelle. Heute habe ich ihr freigegeben, damit sie ihre Eltern besuchen kann. Aber ab morgen werden wir durcharbeiten.«
»Das wird noch einmal eine Herausforderung, aber es wird sich lohnen«, meinte Eleanor und legte ihr Besteck ab. »Warte, ich habe etwas für dich!« Sie suchte in ihrer Handtasche und legte schließlich die neueste Ausgabe des Life Magazines
neben Viktorias Teller. »Ich wollte damit eigentlich bis nach dem Essen warten, aber es passt gerade so gut.«
»Sag bloß«, antwortete Viktoria gerührt. »Ist da … unser Bericht drin?«
»Schau nach!« Eleanor tupfte sich die Mundwinkel mit einer Serviette ab und sah gespannt zu, wie Viktoria das Heft durchblätterte und schließlich eine Doppelseite aufschlug.
»Ich glaube es nicht!«, rief Viktoria glücklich aus. »Ganze zwei Seiten!«
Eleanor lächelte.
Der Bericht war mit The German Chocolate Queen
überschrieben. Unmittelbar darunter fand sich ein großes
Porträtfoto von Viktoria mit einer weißen Erdbeerpraliné in der Hand.
»Viktoria Rheinberger kreiert Juwelen aus Zucker und Schokolade«,
las Viktoria leise. »Sie stammt aus einer angesehenen deutschen Schokoladendynastie und erlernte in Frankreich das Handwerk der feinen Confiserie
.«
»Das mit der Dynastie ist wichtig für die Amerikaner«, sagte Eleanor. »Industriellenfamilien haben hier einen besonderen Nimbus.«
Viktoria nickte und las den Bericht zu Ende, während Eleanor zufrieden weiteraß.
Dann hob Viktoria den Kopf. »Das ist … unglaublich! Besser hätte man es nicht machen können. Dieser Artikel bedeutet für uns einen unglaublichen Prestigegewinn.«
»Den ihr euch absolut verdient habt!«
»Und auch die Bilder – sie machen richtig Lust auf unsere Produkte.«
»Das war der Sinn dahinter. Ich habe ihn bewusst zu Weihnachten und vor dem Debüt veröffentlicht. Da haben wir eine größere Aufmerksamkeit. Stell dich darauf ein, dass es im neuen Jahr eine wahre Flut an Bestellungen geben wird.«
Viktoria stand auf und umarmte Eleanor.
Dann steckte sie mit frohem Herzen die Zeitschrift ein.
Das Leben lachte ihr zu. Wenigstens ein bisschen.