51. Kapitel
Die Anwaltskanzlei von John Carollo, am nächsten Tag
»Schön, Sie heute hier zu sehen!« Carollo schüttelte erst Viktoria, dann Andrew die Hand.
»Die Freude ist ganz auf unserer Seite, Mr. Carollo«, erwiderte Andrew, während sie vom Empfangsbereich zu Carollos Büro gingen. »Unsere Meetings im Gefängnis waren doch etwas … ungemütlich.«
»Allerdings, Mr. Miller.« John Carollo öffnete mit einer einladenden Geste die Tür. »Nach Ihnen.«
Die Sonne flutete den Raum. Draußen war ein herrlicher, wenn auch eisig kalter Wintertag.
»Nehmen Sie doch bitte Platz.« Carollo wartete, bis Andrew und Viktoria saßen, dann begab er sich selbst hinter seinen Schreibtisch. »Zunächst möchte ich Ihnen den aktuellen Stand Ihres Falles erläutern. Sie sind bis zur Verhandlung auf freiem Fuß, Mr. Miller. Bis dahin sollten wir genügend Beweise für Ihre Unschuld vorlegen können, damit die Anklage fallen gelassen wird.
«
Andrew nickte und drückte Viktorias Hand. »Und wenn ich dafür bis ans Ende der Welt gehen muss. Ins Gefängnis kehre ich sicher nicht mehr zurück.«
»Dann«, fuhr Carollo fort, »bin ich Ihrem Hinweis auf einen Aufenthalt von Miss Miller im London Terrace
nachgegangen, habe das Apartment sogar zweimal aufgesucht.«
»Ah, wirklich?« Viktoria wurde unruhig. »Und?«
»Ich habe niemanden angetroffen. Natürlich habe ich die Portiers befragt. Sie gaben mir die Auskunft, dass die Wohnung Nummer 5021 sporadisch von einem Ehepaar mit Namen Brown bewohnt wird. Mehr konnten sie mir nicht sagen.«
»Brown. Nicht Miller?«, fragte Viktoria.
»Nein, nicht Miller«, antwortete Carollo. »Deshalb ist es naheliegend, dass Sie eine andere Person mit Grace Miller verwechselt haben.«
»Das könnte durchaus sein, Viktoria«, stimmte Andrew zu. »Das Wetter war doch recht schlecht an diesem Tag, nicht wahr? So hast du es mir jedenfalls erzählt.«
»Nein … nein … ich bin überzeugt, dass es Grace war.« Aber noch im selben Moment, da Viktoria sich verteidigte, beschlichen sie Zweifel. Was, wenn es sich womöglich doch um jemand anderen gehandelt hatte? Und sie sich nur aufgrund der Tatsache, dass diese Frau ins London Terrace
gegangen war, darin bestätigt gesehen hatte, dass es Andrews Cousine gewesen war?
»Also, im London Terrace
kommen wir jedenfalls nicht weiter«, stellte Carollo fest. »Im Übrigen habe ich erste
Rückmeldungen meines Informanten. Er bezweifelt, dass die Hudson Bank etwas damit zu tun hat. Eher sieht es nach einer Aktion zweier Mafiafamilien aus. Er forscht weiter.«
»Und das sagen Sie so lapidar, Mr. Carollo?« Viktoria hatte erneut das Gefühl, dass der Anwalt sie hinhielt. »Wenn es sich um eine Mafia-Angelegenheit handelt, dann geht es nicht nur um die SweetCandy. Auch wenn ich noch nicht lange in New York bin, so weiß ich doch, dass dann unser Leben in Gefahr sein könnte.«
»Bleiben Sie ruhig, Miss Rheinberger«, beschwichtigte Carollo. »Aus ebendiesem Grund müssen wir bedächtig vorgehen.«
»Da hat er schon recht, Viktoria«, meinte Andrew. »Wenn die Mafia unbedingt an die SweetCandy rankommen will, dann wird es ohnehin schwierig.«
»Dem ist leider so«, bestätigte Carollo. »Deshalb brauchen wir Zeit.«
»Tun Sie, was Ihnen möglich ist, Carollo«, erwiderte Andrew und stand auf. »Und danke, dass Sie mich gestern noch rausgeholt haben.«
»Das ist mein Job, Mr. Miller. Ruhen Sie sich am besten aus und überlassen Sie alles andere mir.«
»Nun«, erwiderte Andrew. »Das werde ich. Auf mich und Miss Rheinberger warten genügend Aufgaben in der Firma.«
»Kommen Sie gut nach Hause«, meinte Carollo mit einem verständnisvollen Lächeln. »Sie werden Ihre Kraft brauchen, wenn es zur Verhandlung kommt.«
Auch Viktoria erhob sich
.
Carollo begleitete sie zur Tür. »Dann wünsche ich Ihnen ruhige Tage und ein glückliches neues Jahr.«
»Danke. Das wünschen wir Ihnen auch«, erwiderte Andrew. »Informieren Sie uns vor dem Jahreswechsel noch einmal über den aktuellen Stand der Dinge?«
»Selbstverständlich, Mr. Miller.« Carollo drückte ihnen beiden die Hand. »Ich werde mich ohnehin noch einmal mit Ihnen in Verbindung setzen, wenn ich die Beweise dafür zusammengetragen habe, dass Sie Ihre Kunden und Lieferanten nicht systematisch betrogen haben.«
»Das sollte nicht schwer sein«, entgegnete Andrew. »Mir ist es nach wie vor ein Rätsel, wie es überhaupt zu einer Inhaftierung kommen konnte.«
»So sehe ich das auch, Mr. Miller. Allerdings reicht der Arm der Mafia weit. Sie hören von mir.«
»Ich weiß nicht«, meinte Viktoria, als sie wenig später auf die Straße traten. »Aber das mit Grace lässt mir keine Ruhe. Ich glaube schon, dass sie es war, die ich gesehen habe.«
»Mhm. Ich möchte deine Beobachtung nicht in Abrede stellen. Aber es könnte sich wirklich um eine Verwechslung handeln, da hat Carollo schon recht. Vielleicht war es eine andere Frau.«
»Aber … ausgerechnet in genau dem Apartmenthaus, in welchem Grace eine Wohnung für die SweetCandy angemietet hat? Das sind mir ein paar Zufälle zu viel. Ich denke, dass Carollo Grace unter Umständen unterschätzt.«
»Angenommen sie war es – ist das unbedingt verdächtig?
Vielleicht führt sie schlicht ein ganz eigenes Leben, von dem wir nichts wissen. Und ich könnte es ihr nicht verdenken. Großvater kann schwierig sein. Da tut einem hin und wieder eine Auszeit ganz gut«, erwiderte Andrew. »Aber … ich bin schrecklich müde. Carollo weiß, was er tut. Können wir ihm das Ganze nicht einfach überlassen?«
»Es fällt mir schwer, nicht weiter darüber nachzudenken. Aber ich verstehe, dass du dich ausruhen möchtest.« Viktoria hakte sich bei ihm unter, während sie in die East 57th Street einbogen. »Kennst du Carollo eigentlich schon lange?«
»Ja, sehr lange. Er hat bereits für Großvater gearbeitet.«
»Er ist also vertrauenswürdig«, stellte sie fest.
»Absolut«, erwiderte Andrew. »Für deinen Vater und Anton war er ja auch tätig.«
»Dann ist es gut.« Sie drückte seinen Arm.
»Er könnte es sich auch gar nicht leisten, sich in irgendeine Sache hineinziehen zu lassen«, fügte Andrew noch an. »Seine Frau kommt aus einer angesehenen New Yorker Familie. Ihr Vater hat ihm geholfen, seine Anwaltskanzlei aufzubauen. Er hat drei Kinder, da leistet man sich keine … Betrügereien.«
»Also konzentrieren wir uns auf Grace«, stellte Viktoria fest.
»Wenn du wirklich Sorge hast, dass sie mit dem Ganzen zu tun hat …«
Eine Weile gingen sie schweigend weiter. Dann holte Viktoria tief Luft. »Lass uns zum London Terrace
gehen, Andrew.
«
»Jetzt?«
»Ja. Ich muss mir das Ganze noch einmal anschauen. Es lässt mir einfach keine Ruhe.«
»Mhm. Wenn es dich so beschäftigt – dann möchte ich es nicht einfach so vom Tisch wischen. Du bist schließlich kein Mensch, der sich in Hirngespinsten verliert.«
»Ich will einfach wissen, ob ich mich tatsächlich so sehr geirrt habe, als ich meinte, Grace zu erkennen.«
»Also gut.« Andrew nickte und winkte ein Taxi herbei.
»Danke, Andrew.«
»Du hast offenbar Gründe«, sagte er, als sie einstiegen. »Also lass uns nachsehen.«
Viktoria küsste ihn rasch auf die Wange, dann dirigierte sie den Taxifahrer zu der Stelle gegenüber des London Terrace
, von der aus sie Grace damals beobachtet hatte.
Andrew bezahlte, und sie stiegen aus.
»Welcher Eingang war es?« Andrew sah sich um. »Kannst du dich noch erinnern? Sie sehen alle ähnlich aus.«
Viktoria deutete zur Mitte des Gebäudes. »Dieser da!«
Sie warteten, bis ein Autobus vorübergefahren war, dann wechselten sie die Straßenseite und betraten den riesigen Apartmentkomplex.
»Kann ich Ihnen weiterhelfen?« Einer der Portiers sprach sie an, als sie sich in der Lobby umsahen.
Viktoria zog den Mietvertrag für das Apartment heraus, den sie schon vor Tagen in ihre Handtasche gesteckt hatte, um bei günstiger Gelegenheit noch einmal zu versuchen, in die Wohnung zu gelangen
.
»Wir sind Hauptmieter der Nummer 5021«, sagte Andrew und zeigte seine Visitenkarte, die ihn als Direktor der SweetCandy Ltd. auswies. »Mit Einverständnis unserer Untermieter, dem Ehepaar Brown, möchten wir uns die Folgen eines Wasserschadens besehen, der beklagt wurde.«
Der Portier kratzte sich hinter dem Ohr. »Ein Wasserschaden? Warten Sie einen Moment …« Er ging die Mieterliste durch.
»Die 5021 sagten Sie? Also … das Ehepaar Brown ist derzeit verreist. Da müsste ich Ihnen aufschließen …«
»Das wäre sehr freundlich von Ihnen.«
Der Portier nickte. »Ich bringe Sie hinauf.«
Er führte sie zum Aufzug. Mit unbewegtem Gesicht fuhr ein Liftboy sie in den fünften Stock. Sie stiegen aus und der Portier öffnete mit einem schweren Schlüsselbund das Apartment 5021.
»Ich warte hier auf Sie«, meinte er.
»Vielen Dank«, erwiderte Andrew und ließ Viktoria den Vortritt.
Sie verständigten sich per Blickkontakt. Während Andrew ins Badezimmer ging und die Wasserhähne bediente, huschte Viktoria durch die Zimmer.
Die Wohnung war verhältnismäßig schlicht möbliert und ordentlich aufgeräumt. Es sah so aus, als habe ein Hausmädchen erst vor Kurzem Ordnung gemacht.
Die Betten im Schlafzimmer waren frisch bezogen, in der Küche fanden sich keine frischen Lebensmittel, lediglich ein paar Trockenvorräte. Im Wohnzimmer lag noch
ein Buch auf dem Beistelltisch neben dem Sofa. Pride & Prejudice
von Jane Austen. Eher beiläufig schlug Viktoria es mit einer Hand auf und blätterte durch die viel gelesenen Seiten, während sie hörte, wie Andrew mit dem Portier sprach. Kurz darauf stieß er zu ihr. »Ich habe ihn nach unten geschickt.«
»Und er ist gegangen?«
»Natürlich! Ich habe ihm gesagt, dass ich alles noch einmal genau aufnehmen möchte. Ein Wasserschaden kann Schimmelbildung nach sich ziehen. Und Schimmel ist nur schwer beizukommen.«
»Und das hat er dir geglaubt?«
Andrew grinste. »Sonst stünde er ja noch vor der Tür. Lass uns anfangen. Ich habe ihm gesagt, dass er in einer halben Stunde wiederkommen soll.«
Viktoria wollte gerade das Buch wieder zuschlagen, als ihr eine Widmung darin auffiel. Sie nahm es vom Tisch. »Andrew …«
»Ja?«
Viktoria zeigte ihm die Seite mit den wenigen handschriftlichen Zeilen. »Grace … sie scheint wirklich etwas mit dieser Wohnung hier zu tun zu haben!«
»Meiner lieben Freundin Grace Miller gewidmet
…«, las Andrew und sah Viktoria an, die das Buch zuschlug und zurück auf den Tisch legte. »Du hast recht.«
Sie durchsuchten das Wohnzimmer und sahen sich auch im Schlaf- und Ankleidezimmer gründlich um. Als sich außer ein paar vereinzelten Kleidungsstücken nichts fand,
wandten sie sich dem Arbeitszimmer zu, an dessen Wand eine Reihe schmaler Schränke stand.
»Alles abgeschlossen«, meinte Viktoria, als sie an den Türen rüttelte. »Hast du eine Ahnung, wo man in dieser Wohnung am ehesten die Schlüssel aufbewahren würde?«
»Wenn wir Pech haben, befinden sie sich an irgendeinem Schlüsselbund und nicht hier«, erwiderte Andrew, war aber bereits dabei, die Schubladen des Schreibtischs zu durchsuchen. Anschließend überprüfte er die filigranen Silbergefäße auf der Tischplatte, in denen sich Stifte und ein Brieföffner befanden.
Nichts.
Viktoria stellte sich derweil auf Zehenspitzen und fuhr mit einer Hand an der Oberkante der Schränke entlang. »Andrew … ich meine, etwas gespürt zu haben. Aber ich habe es wohl aus Versehen ein Stück nach hinten geschoben und komme nun nicht mehr hin …«
Andrew war sofort bei ihr und tastete vorsichtig an der Stelle, auf die Viktoria deutete.
»Da … ist wirklich etwas!« Er zog seine Hand vor und hielt tatsächlich einen kleinen Schlüssel in der Hand.
Viktoria lächelte zufrieden. »Na also.«
Sie probierten den Schlüssel aus. Er passte zu sämtlichen Schränken.
In aller Eile verschafften sie sich einen Überblick über die exakt beschrifteten Ordner.
»Es scheint sich um alte Rechnungen zu handeln«, meinte Andrew schließlich enttäuscht
.
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete Viktoria. »Was sollten denn das für wertvolle Rechnungen sein, die man in abgeschlossen Schränken verwahren muss?«
»Da hast du recht.«
Sie nahmen die Ordner nacheinander heraus und durchsuchten den Inhalt. Die ersten beiden Schränke enthielten tatsächlich Rechnungen der zurückliegenden Jahre, unter anderem Belege über teilweise horrende Ausgaben für Kleidung, Schuhe und Kosmetika, Restaurantbesuche und kurze Reisen.
»Das passt zu Grace. Sie lebt auf großem Fuß«, stellte Viktoria fest.
Andrew nickte.
Sie stöberten weiter.
»Sieh dir das an.« Andrew hatte den dritten Schrank in Augenschein genommen und einen Aktenordner mit Rechtsanwaltsrechnungen gefunden.
»Oh ja«, erwiderte Viktoria. »Den sollten wir uns näher ansehen.«
Andrew schlug ihn auf. »Das sind Rechnungen von Carollos Kanzlei. Und zwar deutlich überhöhte.«
Viktoria hörte die Enttäuschung in seiner Stimme und sah sich zugleich in ihrem Misstrauen dem Rechtsanwalt gegenüber bestärkt. »Grace hat sie alle freigegeben.«
»Da werden einige Fragen auf sie zukommen«, meinte Andrew.
»Das müsste man näher prüfen und mit den Unterlagen unserer Buchhaltung abgleichen. Dann kannst du mit ihr
reden.« Viktoria blätterte weiter. »Und hier … sind die Kreditverträge mit der Hudson Bank!«
»Das sind Abschriften«, bestätigte Andrew. »Beglaubigte Abschriften. Was haben die denn hier zu suchen?«
»Die Wohnung wurde von Grace angemietet …«
»Lass sehen.« Andrew nahm ihr die Verträge ab und las sie aufmerksam durch. »Nun gut, das entspricht den Originalverträgen. Jedenfalls, soweit ich das beurteilen kann. Wenn Grace hier einen Rückzugsort hat, dann kann es natürlich sein, dass sie sich Arbeit mit hierhergenommen hat.«
»Was ist denn das da?«, fragte Viktoria und deutete auf einen Umschlag, der zwischen zwei Seiten herausgerutscht war. Die Büroklammer, mit der er offenkundig an den Vertrag angeheftet worden war, lag daneben.
»Ma’am? Sir?«
»Das ist der Portier!«, flüsterte Viktoria.
Sie schlug hastig den Ordner zu und verstaute ihn im Schrank, während Andrew den Brief einsteckte und dem Angestellten entgegenging. »So weit ist alles in Ordnung«, erklärte er und führte den Mann ins Bad. »Sehen Sie? Nichts tropft mehr. Und der Raum scheint trocken zu sein.«
»Na, dann ist es ja gut«, hörte Viktoria den Portier sagen, während sie den letzten Schrank abschloss und den Schlüssel an seinen Platz zurücklegte. Sie trat im selben Moment in den Flur wie die beiden Männer.
»Gute Güte, Andrew«, flunkerte sie, als der Portier sie fragend ansah, »wir sind doch bei den Fraziers eingeladen! Jetzt
müssen wir uns aber beeilen, sonst kommen wir zu spät zum Dinner.«
Andrew verzog keine Miene. »Du hast recht!«
Der Portier richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Andrew. »Dann begleite ich Sie umgehend nach unten.« Er wartete, bis sie die Wohnung verlassen hatten. Dann schloss er das Apartment ab.