56. Kapitel
Andrews Apartment in Greenwich, am nächsten Morgen
Es klingelte.
»Wer ist denn das?«, fragte Andrew, der sich soeben rasierte. »Wir haben noch nicht einmal sieben Uhr!«
Es klingelte ein zweites Mal.
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Viktoria und zog ihren Morgenmantel enger um sich. »Ich sehe nach.«
Sie ging das Treppenhaus hinunter. Die Kälte kroch unter den leichten Seidenstoff. Fröstelnd öffnete sie die Tür.
»Mr. … Miller?«
»Guten Morgen, Miss Rheinberger.« Robert Miller nahm höflich den Hut ab. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich um diese frühe Stunde störe, aber ich möchte mit Andrew sprechen.«
»Ja … ja, natürlich. Kommen Sie bitte herein.«
Viktoria führte Robert Miller in das kleine Wohnzimmer. »Wenn Sie einen Moment warten möchten, Mr. Miller. Ich gebe Andrew Bescheid.
«
»Danke, Miss Rheinberger.«
Kopfschüttelnd ging Viktoria zu Andrew ins Bad. »Dein Großvater ist hier.«
Andrews Rasiermesser machte eine ungeplante Bewegung. »Autsch!«
»Du hast dich geschnitten«, stellte Viktoria fest und reichte ihm ein Handtuch.
Andrew drückte es auf die blutende Stelle. »Was möchte er?«
»Ich weiß es nicht. Er wartet im Wohnzimmer.«
Andrew legte das Rasiermesser auf den Rand des Waschbeckens. »Ich werde gleich zu ihm gehen.«
Sie zogen sich an. Andrew sah anschließend noch einmal im Bad nach seiner Verletzung, Viktoria ging in die Küche, um Kaffee aufzubrühen. Während kurz darauf der warme, feinwürzige Duft aus der Kanne aufstieg, hörte sie durch die geöffnete Türe, wie Andrew zu seinem Großvater ins Wohnzimmer trat.
Zunächst schienen beide ein wenig befangen zu sein, tauschten Höflichkeiten aus und unterhielten sich über das New Yorker Winterwetter. Schließlich kam Robert auf sein Anliegen zu sprechen: »Ich möchte mich entschuldigen, Andrew.«
»Ich freue mich sehr, dass du den Weg zu mir gefunden hast, Großvater«, erwiderte Andrew. »Dann können wir beide einen neuen Anfang machen.«
»Das wäre … mir ein großes Bedürfnis.« Miller räusperte sich. »Graces Verhalten ist … unverzeihlich.
«
»Sie hat unverantwortlich gehandelt, da stimme ich dir zu«, sagte Andrew. »Andererseits betrachte ich sie selbst als Opfer. Das von Carollo und das ihrer eigenen Ambitionen.«
»Ich hätte es merken müssen«, räumte Miller ein. »Aber ich war zu enttäuscht von dir. Und als dann noch die Rheinbergers ins Spiel kamen, habe ich mich … betrogen gefühlt.«
»Und Grace hat sich das alles zunutze gemacht«, erwiderte Andrew.
»Ich hätte dir vertrauen sollen, Andrew.«
»Vor allem hättest du mir vertrauen können
, Großvater. Du kennst mich doch schon seit meiner Kindheit, hast mich aufgezogen. Warum hast du Graces Lügen Glauben geschenkt?«
Viktoria füllte zwei Tassen mit heißem Kaffee, ging damit ins Wohnzimmer und stellte sie auf den Beistelltisch. Als sie sich wieder zurückziehen wollte, hielt Andrew sie an der Hand fest. »Bitte, Liebes, setz dich doch dazu.«
Viktoria sah von ihm zu Miller und nahm Platz.
Andrews Großvater erwiderte ihren Blick ruhig und offen. Das erste Mal, so erschien es Viktoria, nahm er sie wirklich unvoreingenommen wahr. Dann richtete er seine Augen wieder auf Andrew. »Grace ist … ich kann es dir nicht erklären, Andrew. Sie hat die Gabe, Menschen nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen.«
»Sie war selbst eine Marionette«, sagte Viktoria vorsichtig. »An Carollos Fäden.«
Miller nickte. »Ja. Eine unheilvolle Allianz.«
»Es ist mir nicht wichtig, alle ihre Verfehlungen zu verfolgen«,
meinte Andrew versöhnlich. »Diese Energie stecke ich lieber in unsere Firma.«
»Wenn ihr Mittel braucht …«
»Danke, Großvater, ich weiß dein Angebot zu schätzen.« Andrew nahm seine Kaffeetasse und trank einen Schluck. »Aber wir kommen zurecht.« Ein gewisser Stolz schwang in seiner Stimme mit.
Miller nickte. »Ich verstehe. Aber gebt Bescheid, wenn ihr Unterstützung braucht.« Er stand auf. »Bitte.«
»Möchten Sie denn schon wieder gehen?«, fragte Viktoria.
»Ja. Schließlich habe ich mir erlaubt, euch ohne Ankündigung zu dieser frühen Stunde zu besuchen«, entgegnete Miller. »Aber ich habe seit gestern Abend keine Ruhe gefunden.« Er räusperte sich. »Ich habe, wenn auch unwissentlich, dabei geholfen, dich, Andrew, in den Ruin zu treiben. Das ist unverzeihlich.«
»Nichts ist unverzeihlich, Großvater«, sagte Andrew, erhob sich und legte dem alten Herrn die Hand auf die Schulter. »Auch wenn die letzten Wochen enorm Kraft gekostet und mich an meine Grenzen gebracht haben. Es waren Grace und Carollo, die alle Register gezogen haben, um uns zu schaden. Du warst im weiteren Sinne auch Opfer der beiden.«
»Ich möchte mich nicht hinter dieser Entschuldigung verstecken, Andrew.«
»Das ehrt dich, Großvater.«
»Es gibt bessere Möglichkeiten, um zu Ehren zu kommen. Aber hab Dank, Andrew.
«
»Grace wird nun erst einmal Zeit haben, sich mit ihrem Leben auseinanderzusetzen«, meinte Andrew. »Möge die Zeit im Gefängnis einen besseren Menschen aus ihr machen.«
»Das wäre ihr zu wünschen.« Miller setzte seinen Hut auf. »Meine Tür ist jedenfalls zu.«
»Auch wenn ich geneigt bin, dir zuzustimmen, Großvater«, sagte Andrew, »so sollten wir immer, auch bei Grace, daran denken, dass Vergebung ein großes Geschenk ist.«