Epilog
Auf der Rückreise über den Atlantik kämpfte Viktoria noch immer mit heftiger Übelkeit. Sie war dankbar, dass ihre Mutter dabei war und sich um sie kümmerte. Nachmittags, wenn es ihr ein wenig besser ging, schlenderten sie gemeinsam über das Schiff oder kuschelten sich in die Liegestühle auf dem geschützten Promenadendeck. War die See zu unruhig, zog sie sich in die Bibliothek des Oceanliners zurück. Zum Abendessen ging es Viktoria meistens so gut, dass sie mit Appetit das Dinner genießen konnte.
Dora legte die Passage mit Pepe in der Touristenklasse zurück, das hatte sie selbst so gewünscht. »Stellt euch doch nur einmal vor, was Pepe in der ersten Klasse anrichten könnte!« Dem war schwerlich etwas entgegenzusetzen gewesen.
Als Andrew sie am Morgen ihrer Ankunft am Pier abholte, schwankte sie blass in seine Arme und die Taxifahrt nach Greenwich Village machte es ihrem Magen nicht leichter. Kaum waren sie angekommen, musste sie sich bereits wieder übergeben.
Andrews Sorge wandelte sich zwar in überraschte Freude, als ihm Viktoria vom Grund ihrer Unpässlichkeit erzählte,
gleichwohl bestand er darauf, sie am nächsten Tag von einem Arzt untersuchen zu lassen. Als dieser die Schwangerschaft bestätigte und sie zudem wissen ließ, dass alles in bester Ordnung sei, konnte er sein Glück kaum fassen.
Judith wollte für sich und Dora zunächst ein Hotelzimmer nehmen, doch überraschenderweise hatte Robert Miller kurz vor ihrer Ankunft angeboten, die beiden samt Papagei bei sich aufzunehmen.
»Er weiß nicht, was er sich da einhandelt«, meinte Viktoria trocken, als Andrew sie davon in Kenntnis setzte.
»Wenigstens kommt dann ein wenig Leben in sein Haus«, erwiderte Andrew.
Die SweetCandy prosperierte und wurde auf Judiths Wunsch hin in Rothman’s Finest Ltd. umbenannt. Die Einführung des Sport-Schokoladenriegels FinestSports
mit dem Konterfei von Eleanor war ein ebenso durchschlagender Erfolg wie die unzähligen Büfetts, die Viktorias Catering Service ausrichtete. Schon bald gründete Viktoria gemeinsam mit Sally eine eigene Abteilung für The German Chocolate Queen
. Unter dieser Marke boten sie bald ein ausgewähltes Luxussortiment an Pralinen an, darunter die weißen Erdbeertrüffel. Ihre kreativen und erlesenen Ideen machten in den gehobenen Kreisen New Yorks rasch Furore.
Und ein weiteres Geschäft erwies sich als lukrativ: die Bestückung der New Yorker Stollwerck-Schokoladenautomaten.
Viktoria und Andrew kauften sich ein hübsches brownstone
-Häuschen in Brooklyn und zogen im Mai 1937 ein. Viktoria genoss es, ihr eigenes Zuhause zu haben und richtete es mit viel Geschmack ein. Judith war häufig zu Gast, unternahm aber auch gerne etwas allein oder mit Dora. Insbesondere mit Robert Miller verstand sie sich ausgesprochen gut. Die beiden verband mit der Zeit eine gute und vertrauensvolle Freundschaft.
Ein heftiges Sommergewitter begleitete die Geburt von Olivia und Charlotte Miller Ende Juli 1937. Zwei Monate vor der Entbindung hatten Viktoria und Andrew im kleinen Kreis geheiratet und kurz darauf erfahren, dass sie vermutlich mit doppeltem Babyglück rechnen durften. Bei einer Untersuchung mit dem Hörrohr waren der Hebamme zweierlei Herzschläge aufgefallen.
»Du hattest ohnehin von zehn Kindern gesprochen«, meinte Andrew schmunzelnd, als er seine Töchter das erste Mal in den Armen hielt. »Wenn es so weitergeht, könnten wir unser Ziel in fünf bis sechs Jahren erreicht haben!«
»Kein schlechter Anfang für eine amerikanisch-deutsche Unternehmerinnendynastie«, erwiderte Viktoria augenzwinkernd.
»Es wird sich schon noch ein kleiner Junge dazwischenmogeln«, erwiderte Andrew zuversichtlich. »Schon allein aus Gründen der Gerechtigkeit.«
Judith lebte sich erstaunlich rasch ein in Amerika, auch wenn sie Stuttgart vermisste. Sie genoss es, sich um ihre Enkeltöchter zu kümmern, setzte aber auch alles daran, sich in
ihre Rolle als Inhaberin der Rothman’s Finest einzufinden. Sie bekam ihr eigenes Büro und weitreichende Vollmachten, kümmerte sich um die Buchhaltung und die interne Organisation und übernahm damit Graces vormaligen Arbeitsbereich. Nebenbei knüpfte sie Kontakte zu anderen Frauen, engagierte sich bei einem Wohlfahrtsverein für arme Familien, genoss Abende im Konzert oder im Theater und machte ausgedehnte Ausflüge in die Umgegend von New York. Mit der Zeit löste sich endlich auch ihre Trauer. Victor war ein Teil von ihr und würde es immer bleiben, aber die Schwere wich einer warmen, manchmal auch wehmütigen Erinnerung, die zugleich genügend Raum für neue Lebensfreude ließ.
Anton blieb noch bis 1938 in Stuttgart, dann wurde die Kriegsgefahr zu groß. Schweren Herzens verkaufte er seine Klavierfabrik und schiffte sich mit Serafina und Emil nach New York ein.
Alle waren glücklich, als sie ankamen und ebenfalls ein Haus in Brooklyn erstanden, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Viktoria und Andrew. Anton steckte all seine Energie in die Erweiterung der amerikanischen Klavierfabrik, die durch Isaak Stern kompetent und weitsichtig geführt worden war. Er spezialisierte sich zunehmend auf Einzelstücke für reiche Familien oder die großen Bühnen Amerikas.
Auch Anton und seine Familie fanden in den USA schnell eine neue Heimat. Nicht zuletzt sorgte die rege Musikszene New Yorks dafür, dass Anton schon bald erklärte, niemals
mehr nach Deutschland zurückkehren zu wollen. Er spielte wieder in einer Jazzband, und Serafina nahm Gesangsunterricht, doch bevor sie eine Karriere als Sängerin anschließen konnte, wurde sie unverhofft schwanger. Nach jahrelangem Warten hatten sie und Anton den Wunsch nach einem zweiten Kind eigentlich begraben. Die kleine Ella war gut zwei Jahre jünger als ihre Zwillingscousinen, aber schon bald zeichnete sich ab, dass die Mädchen als Trio unberechenbar waren.
»Typisch Rothmann-Frauen«, kommentierte Anton die unzähligen Ideen der drei.
Martin und Mathilda blieben zunächst in Paris. Sie lebten gut von den zahlreichen Engagements, die Martin bekam. Darüber hinaus unterrichtete er eine Reihe von Klavierschülern. Max besuchte ihn regelmäßig. Mathilda kümmerte sich um die beiden Söhne, die recht schnell hintereinander auf die Welt kamen. Ihr Ziel, als Anwältin zu arbeiten, wurde nicht zuletzt durch den Einmarsch der Deutschen im Jahr 1940 vereitelt. Mit einem der letzten Züge flohen sie und Martin mit ihren Kindern über Spanien nach Portugal, um von dort aus eines der letzten Schiffe in die USA zu erreichen. Judith war erleichtert, als sie ihren Sohn und seine Familie endlich wieder in die Arme schließen konnte. Auch hier bot Robert Miller sofort Unterkunft an, und so kam es, dass sein großes, luxuriöses Haus auf einmal mit einer Menge Leben gefüllt war
.
John Carollo wurde des schweren Betrugs angeklagt und zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Seinen Beruf als Anwalt würde er nie wieder ausüben können.
Grace Miller musste ebenfalls ins Gefängnis, wurde aufgrund guter Führung aber nach zwei Jahren entlassen. Sie zog zu ihrer Mutter nach Boston und lebte dort ein unauffälliges Leben.
Im September 1939 trat ein, was längst befürchtet worden war: Krieg brach aus, und mit großer Sorge vernahm man in New York die Nachrichten aus Deutschland und Polen.
Karl und Elise lebten in relativer Sicherheit in der Schweiz. Dadurch, dass Hélène und Georg in unmittelbarer Nachbarschaft wohnten, wuchsen Hélène und Karl zusammen, nachdem ihre Beziehung ein Leben lang schwierig gewesen war. Viel mehr als Anton hatte Karl ihr nachgetragen, ihn als Kind verlassen zu haben.
Die Schokoladenfabrik unter Ebbens Führung prosperierte, bis im Jahr 1940 keine Kakaobohnen mehr im Deutschen Reich erhältlich waren. Ebben verlagerte sich auf Zuckerprodukte und musste für die Kriegswirtschaft produzieren. Doch als der Krieg Stuttgart erreichte, wurde auch die Schokoladenfabrik durch eine in unmittelbarer Nähe abgeworfene Bombe stark beschädigt. Ebben schloss das Unternehmen und konzentrierte sich fortan auf sein Werk in Halle an der Saale.
Als Ebben Karl darüber informierte, dass er die
Schokoladenfabrik aufgeben wolle, besprach Karl sich lange mit Elise. Anschließend beriet er sich mit Anton und Viktoria am Telefon. Noch vor Kriegsende stand sein Entschluss fest, nach Stuttgart zurückzukehren und die Schokoladenfabrik wiederaufzubauen, sobald die Umstände es erlaubten.
Elise, die seinem Ansinnen zunächst skeptisch gegenüberstand, willigte schließlich ein, und so zogen sie im Sommer 1945 nach Degerloch. Während Karl all seine Kraft einsetzte, um das Rothmann-Imperium zu neuer Blüte zu bringen, machte Elise sich mit einem Designatelier für Kleinmöbel selbstständig.
Hélène und Georg behielten ihren Lebensmittelpunkt in der Schweiz, wo Hélène als Malerin arbeitete.
Alois Eberle zog sich während der schlimmsten Kriegsjahre in sein Wengerterhäusle auf dem Haigst zurück. Er hatte Glück, denn seine Werkstatt in der Hauptstätter Straße überstand die Bombenangriffe weitgehend unversehrt. Alois Eberle starb hochbetagt an einem Augusttag des Jahres 1947, vor seinem letzten, großen Technikprojekt: einem perfekt funktionierenden Fernsehempfänger.
Robert und Luise Fetzer wurden im Sommer 1937 von Luc nach Voiron geholt. Dort arbeitete Luise wie schon zuvor in der Schweiz als Näherin, Robert verdingte sich auf einem Bauernhof. Beunruhigt verfolgten beide die Entwicklung in Deutschland, und als der Frankreichfeldzug begann, schloss
er sich gemeinsam mit Luc der Résistance an. Beide hätten ihren Mut beinahe mit ihrem Leben bezahlt, als die Deutschen auch die unbesetzte Zone unter ihre Kontrolle brachten. Sie retteten sich nach Dieulefit. Luise änderte ihren Namen und blieb in Voiron. Erst nach dem Krieg entschloss sie sich auf Mathildas Bitten hin, zu ihr nach New York zu kommen. Sie kehrte nicht mehr nach Europa zurück. Robert dagegen fand Arbeit in einer französischen Automobilfabrik und engagierte sich wieder gewerkschaftlich. Den Verlust seiner Familie verschmerzte er niemals ganz.
Die Schokoladenvilla in Degerloch lag derweil im Dornröschenschlaf. Unberührt von den verheerenden Bombennächten des Jahres 1944, die unheilbare Wunden in Stuttgarts Antlitz schlugen, träumte sie besseren Zeiten entgegen – sorgsam gehütet von Theo und Gerti, bis Karl, Elise und die Kinder sie mit neuem Leben füllten.
Ende