Es würde nur im Schutz der Nacht möglich sein, überlegte Brolon. Die metallenen Vögel stiegen zu jeder Tageszeit in den Himmel und seine Chancen, sich an Bord zu schleichen waren bei Nacht deutlich besser. Allerdings hatte er noch keinen Weg gefunden, die unsichtbare Zauberwand zu durchbrechen. Und er wusste, dass es im Lager der Dämonen, besonders dort, wo die metallenen Vögel schliefen, nicht dunkel sein würde. Denn die Fremden verfügten über einen weiteren Zauber. Mittels hell strahlender, schwebender Kugeln gelang es ihnen auf wundersame Weise, große Teile ihres Lagers taghell zu erleuchten. Wie kleine Sonnen standen diese Kugeln, er hatte fast ein Dutzend von ihnen gezählt, über der Ansiedlung seiner Feinde. Nur zwischen der Zauberwand und den ersten Gebäuden würde völlige Dunkelheit herrschen. Danach kam es auf sein Geschick an, um nicht entdeckt zu werden.
Brolon war einer der besten Jäger seines Stammes – vielleicht sogar der beste. Niemand verstand es wie er, sich unbemerkt selbst der scheuesten Beute zu nähern. Kein anderes Mitglied der Jagdgemeinschaft war geschickter im Umgang mit der Waffe. Brolon beherrschte sowohl den Speerwurf als auch den Kampf mit dem Messer nach jahrelangem Training mit einer Perfektion, die ihresgleichen suchte. Er stand in der Blüte seiner Jahre und fürchtete sich vor nichts und niemandem. Auch die Dämonendiener und Mörder seiner Gefährtin würden dies zu spüren bekommen. Brolon zweifelte keinen Moment daran, dass seine Rachepläne erfolgreich sein würden. Auch wenn die Fremden über unheimliche Zauberkräfte verfügten und aus dem Dämonenreich Achmaan entstammen mochten. Sie würden seine unerbittliche Rache zu spüren bekommen. Natürlich würde auch er selbst dabei umkommen, aber das war zweitrangig. Jetzt galt es nur noch, einen Weg durch die Zauberwand zu finden.
Brolon lag unter einem Busch auf einem kleinen Hügel, nur wenige Meter von der undurchdringlichen Absperrung entfernt. In den vergangenen Nächten hatte er stundenlang hier regungslos verharrt, um seine Gegner zu studieren. Vor allem interessierte ihn, wie sie auf einen Kontakt mit der Zauberwand reagierten. Er bemerkte schnell, dass es sie nicht zu interessieren schien, wenn ein Tier dort zu Asche verbrannte. Sie verließen sich vollständig auf die Wirksamkeit ihres Zaubers und sandten nicht einmal einen Wachposten, um nachzusehen, weshalb die Abschirmung aufflackerte. Vielleicht konnte er diese Nachlässigkeit für sich nutzen.
Er sah einige fliegende Insekten, die, angelockt vom Licht der über dem Lager schwebenden Sonnen, in der Zauberwand verglühten. Dabei fiel ihm etwas Sonderbares auf das eine Idee in seinem Kopf entstehen ließ, die er noch heute Nacht überprüfen wollte.
Brolon schlich sich bäuchlings davon. Erst als er sich fast einhundert Meter vom Zauberzaun entfernt hatte, wagte er sich zu erheben und verschwand im angrenzenden Wald. Es dauerte nicht lange, bis er fand, wonach er gesucht hatte. Unter einem vor langer Zeit durch ein Unwetter gefällten und inzwischen vermoderten Baumstamm entdeckte er den Bau eines Lareks. Das etwa handtellergroße Tier war ein harmloser Pflanzenfresser, zu klein, um Brolons Stamm als Nahrungsquelle zu dienen. Doch es gab einen Jäger, der Lareks als Delikatesse schätzte. Quareen waren räuberische Fleischfresser, die besonders gerne Jagd auf Lareks machten. Sie waren selbst nicht viel größer als ihre Beute, besaßen jedoch im Vergleich zum restlichen Körper ein gewaltiges Maul mit einer Reihe scharfer und spitzer Zähne.
Brolon legte sich auf den Boden und griff mit einer Hand in den Larekbau. Normalerweise waren diese nicht sehr tief und eher ein in den Boden gegrabener Unterschlupf. Sofort ertastete er ein Fellbündel. Er griff zu und zog das Tier ins Freie. Leise fiepend beschwerte sich der Larek, ein junges Weibchen, über die unsanfte Behandlung.
»Tut mir leid, Kleines«, raunte Brolon ihr zu. »Aber ich brauche dich, um einen Weg zu den Dämonendienern zu finden. Es wird schnell gehen und du wirst keine Schmerzen verspüren.«
Er stopfte das zappelnde Weibchen in den Umhängebeutel, den er stets bei sich trug, und verschloss ihn mit einer Schnur. Nun galt es, einen Quareen zu fangen. Eine ungleich schwierigere Aufgabe, die zu schmerzhaften Bisswunden führen konnte, wenn man nicht sorgsam genug war. Knaben, die zu späteren Jägern ausgebildet wurden, stellte man diese Aufgabe, um sie zu Vorsicht und Geschicklichkeit zu erziehen. Auch Brolon war durch diese Schule gegangen, der er eine Narbe quer über dem linken Handrücken zu verdanken hatte, und wusste genau, wie er vorgehen musste.
Eine halbe Stunde später hatte er ein Nest gefunden. Quareen lebten in Nestern aus Zweigen und Gras im Dickicht von Büschen und Sträuchern. Er legte zwischen zwei eng stehenden Bäumen eine Schlingfalle aus. Das Ende des Seiles warf er über einen dicken Ast, der sich etwa auf Kopfhöhe befand. Dann nahm er den Umhängebeutel, in dem das noch immer leise fiepende Larek-Weibchen steckte und reizte durch den Stoff hindurch eine Drüse am After. Sanft strich er immer wieder über die empfindliche Stelle, bis er spürte, wie Feuchtigkeit austrat, die rasch durch den Stoff drang. Schnell legte er den Beutel mit dem aufgeregt zappelnden Weibchen in die Mitte der Schlinge und schwang sich auf den dicken Ast. Es sollte nicht lange dauern, bis ein Quareen die Pheromone wittern und auftauchen würde. Brolon hielt das Ende des Seils in der Hand, bereit, die Falle zuschnappen zu lassen.
Ein paar Minuten später hörte er ein Rascheln aus dem dichten Buschwerk dringen. Dann erschien die lange Schnauze mit dem kräftigen Gebiss und zuckte witternd umher. Der Räuber befand sich nur ein paar Meter von dem heftig zuckenden Beutel entfernt. Das Larek-Weibchen konnte ihren Todfeind nicht wittern, da der Wind von ihr zum ihm blies. So hatte Brolon es beim Bau der Falle geplant. Der Quareen beäugte den Beutel misstrauisch, da Witterung und Optik nicht zusammenpassten. Was dort so verführerisch roch, sah nicht im Geringsten wie ein Larek aus, doch sein Jagdinstinkt, angeregt von den Pheromonen, trieb ihn vorwärts. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und schlich sich geduckt weiter an. Der Jäger bewegte sich völlig lautlos. Auch Brolon hütete sich, einen Laut von sich zu geben oder sich zu bewegen. Der Quareen hätte sofort das Weite gesucht. Zentimeter für Zentimeter näherte sich das kleine Raubtier, immer noch misstrauisch, dem so verlockend duftenden Objekt, das überhaupt nicht wie ein Larek aussah. Doch je näher er kam, um so stärker wurde der anregende Geruch. Er konnte nicht widerstehen. Dann sprang er plötzlich vorwärts.
Mit einem für ein solch kleines Tier gewaltigen Satz stürzte sich Quareen auf den Beutel. Kaum hatte er den Boden berührt, als Brolon die Schlingfalle zuzog. Wie geplant legte sich die Schnur um die Vorderfüße des überraschten Räubers. Noch bevor dieser in den Beutel beißen und das Larek-Weibchen verletzen konnte, zog Brolon den Quareen nach oben. Hilflos baumelte er an der Schnur. Brolon fixierte das Seil und sprang vom Baum. Vorsichtig näherte er sich dem wild zappelnden Räuber und griff im richtigen Moment zu. Mit einer Hand faste er ihn ins Nackenfell, worauf das Tier in eine Schockstarre verfiel. Dies war typisch für die Quareen. Wenn man sie kräftig genug an einer bestimmten Stelle im Genick packte, erstarrten sie augenblicklich. Verfehlte man diese Stelle, konnte einem das wild um sich beißende Tier schwere Wunden an der Hand zufügen, wie Brolon aus eigener Erfahrung wusste.
Mit dem Seil fixierte Brolon die Vorder- und Hinterläufe. Dann verschloss er das Maul mit einem Stoffstreifen, den er aus seinem Hemd gerissen hatte und dem Tier nun um die Schnauze knotete. Jetzt war alles bereit, um seine Theorie zu überprüfen. Er nahm den Beutel auf, hängte ihn sich über die Schulter, hielt den Quareen weiter im Nackengriff und machte sich auf den Weg zurück zur Zauberwand.
Wieder lag er unter dem gleichen Buschwerk verborgen wie eine Stunde zuvor. Noch immer war es eine stockdunkle Nacht. Beide Monde standen derzeit auf der anderen Seite des Planeten und am Himmel funkelten Tausende von Sternen. Nur das quadratische, schwarze Loch am wolkenlosen Nachthimmel zeugte vom Werk der Dämonen.
Im Lager der Fremden war nur geringe Aktivität zu bemerken. Hin und wieder sah Brolon einen der tierköpfigen Mörder seiner Geliebten kurz zwischen den Gebäuden auftauchen. Es wurde Zeit für seinen Versuch.
Vorsichtig befreite er den Quareen von seinen Fesseln und entfernte das Tuch von seinem Maul. Er achtete darauf, mit der anderen Hand den festen Griff im Nacken beizubehalten. Anschließend öffnete er vorsichtig mit der freien Hand den Beutel, in dem das kleine Tier immer noch schwach fiepte. Er konnte spüren, wie sich der Herzschlag des Quareen bei dem Geräusch beschleunigte. Nun kam es auf die exakte Bestimmung des richtigen Zeitpunkts an. Quareen konnten schneller laufen als Lareks und der Räuber würde sein Opfer nach wenigen Metern eingeholt haben. Dies musste allerdings genau an der richtigen Stelle und im richtigen Moment geschehen, wenn Brolon seine Vermutung – und seine Hoffnung – bestätigt sehen wollte. Er lag etwa fünf Meter von der unsichtbaren Zauberwand entfernt. Jetzt kam es darauf an, die Geschwindigkeit der beiden Tiere richtig einzuschätzen. Der Quareen musste das Larek-Weibchen genau dann erreichen, wenn es auf die Zauberwand traf. Das Weibchen würde, wenn er den Beutel öffnete, sofort von ihm wegrennen. Es würde sich zunächst, so schnell es konnte, in einer geraden Linie von ihm entfernen, um möglichst viel Distanz zwischen sich und seinen Peiniger zu bringen, bevor es nach einem Versteck Ausschau halten würde. Brolon richtete den Beutel so aus, dass seine Öffnung in die gewünschte Richtung zeigte, und öffnete ihn. In seiner anderen Hand begann sich der Quareen trotz der Schockstarre leicht zu bewegen, als der lockende Geruch seiner Beute stärker wurde. Brolon wusste, dass der Räuber nichts anderes im Sinn haben würde, als dem Larek-Weibchen nachzusetzen. Sein Jagdinstinkt würde alles andere dominieren. Dann streckte das Weibchen seine Nase aus dem Beutel, schnüffelte kurz und rannte, so schnell es konnte, davon. Genau in Richtung der Zauberwand, wie Brolon es geplant hatte. Er wartete einen Moment, und als er glaubte, der richtige Augenblick sei gekommen, gab er den Quareen frei. Sofort schoss dieser hinter dem Larek her. Brolon konnte im Sternenlicht verfolgen, wie er unerbittlich näherkam. Dann setzte der Quareen zum entscheidenden Sprung an, flog durch die Luft und riss in Vorbereitung des tödlichen Bisses das Maul auf.
Nun erreichte das Larek-Weibchen die Zauberwand. Unmittelbar bevor der Quareen sein Opfer zu fassen bekam, blitzte ein helles Licht auf. An der Stelle, an der er aufkam, befand sich nur noch ein Haufen Asche. Vom eigenen Schwung getragen, überschlug sich der Quareen einige Male und blickte schließlich verdutzt in die Runde. Brolon lächelte. Das Tier befand sich innerhalb des abgesperrten Bezirks; es hatte die Zauberwand durchdrungen. Wie Brolon gehofft hatte, bildete sich für einen kurzen Augenblick ein Durchgang an der Stelle, an der sich der Zauber ein Opfer holte. Bei den fliegenden Insekten, die er zuvor beobachtet hatte, war es ihm so vorgekommen, als ob einige von ihnen die todbringende Abschirmung hatten überwinden können. Nun wusste er, wie sie dies geschafft hatten. Jetzt musste er nur noch ein Tier in seiner Größe finden, es in die Zauberwand hetzen und die Rolle des Quareen einnehmen.