9.


»Das Ding ist riesig!«, entfuhr es Grand.
Obwohl er aus den Berichten der BEWAHRER wusste, dass die Kuben mehrere Kilometer Kantenlänge aufwiesen, war es doch etwas anderes, sie mit eigenen Augen zu sehen – wobei 'eigene Augen' nicht ganz den Tatsachen entsprach. Tatsächlich sah er ein Hologramm des Kubus, der im stationären Orbit über einer fünfzehn Lichtjahre entfernten Sauerstoffwelt stand.

Sobald die beiden Schiffe in dem System angekommen waren, wo sie sich in der dichten Wasserstoff/Helium-Atmosphäre des Gasriesen verbergen konnten, hatte Hakera eine Mikrodrohne losgeschickt. Dieser nur ein paar Zentimeter durchmessende Flugkörper war in der Lage, innerhalb weniger Minuten im Überlichtflug das eigentliche Ziel zu erreichen und von dort Scans, Holoaufnahmen und alle möglichen Daten und Informationen als Datenpakete mittels supergerafftem Hyperfunkspruch zu übertragen. Die winzige Drohne war nicht zu entdecken und die gerichteten Hyperfunksprüche im Nanosekundenbereich von niemandem anzumessen. Leider betrug die Einsatzdauer einer solchen Mikrodrohne nur ein paar Stunden, bevor die mit bloßem Auge fast nicht sichtbare Energiezelle erschöpft war.

»Der Planet bietet erdähnliche Lebensbedingungen«, stellte Grand fest. »Die Gravitation beträgt annähernd 1 G und die Zusammensetzung der Atmosphäre ist mit der meines Heimatplaneten fast identisch.«

»Der Planet interessiert uns nicht«, sagte Jalina in ihrer schnippischen Art. »Unser Ziel ist der Kubus.«

Grand verdrehte nur die Augen. Manchmal fiel es ihm schwer, mit der überheblichen Art der Kolltanerin zurechtzukommen, mochte sie noch so intelligent und hübsch sein.

»Hakera, gibt es Hinweise auf eine Station der Ra´hul auf dem Planeten?«, fragte er, ohne auf Jalinas Kommentar einzugehen.

»Ja, Michael. Auf den Planetenkoordinaten direkt unterhalb der stationären Position des Kubus im Orbit konnten energetische Emissionen angemessen werden. Ein Teil der im System stationierten Ra´hul hält sich tatsächlich auf der Planetenoberfläche auf, wie wir es gehofft hatten.«

»Wie viele Kampfschiffe hat die Drohne entdeckt?«

»Nur ein Schiff zeigt die Signatur einer Kampfeinheit, wie wir sie von bisherigen Begegnungen kennen. Allerdings befinden sich noch zwei weitere Schiffe im System. Ob es sich dabei um Frachtschiffe oder um Kampfschiffe unbekannter Bauart handelt, kann ich nicht sagen. Die Möglichkeiten der Drohne sind leider begrenzt.«

»Genau das ist ja der Grund, weshalb Jalina und ich auf einen Erkundungsflug gehen werden.«

»Das ist richtig, Michael.«

»Schön, dann steht unserem kleinen Ausflug nichts mehr im Wege.«

»Das Beiboot ist abflugbereit.«

Grand hatte in der letzten Stunde von Hakera eine Einweisung in die Steuerung des Beibootes erhalten. Diese Art, ein Schiff zu fliegen, war für ihn vollkommen ungewohnt, doch nach den Erklärungen der KI war er zuversichtlich. In seiner Kabine schlüpfte er in einen Overall aus multifunktionalem Nanopolymer, über den er einen dorianischen Skinfield-Gürtel schnallte, ähnlich dem, den er auf Ozeania getragen hatte. Die von dem Gürtel projizierte, schwach grünlich schimmernde Energieblase würde sich bei Bedarf an die Konturen seines Körpers anschmiegen. Angeblich konnte das Skinfield sogar den Gewalten einer kleinen nuklearen Explosion widerstehen. Die fortgeschrittene Technologie der Dorianer beeindruckte ihn erneut.

Im Hangar wartete bereits Jalina, die wie er gekleidet war.

Grand nickte ihr zu. »Dann los! Wir sollten nicht noch mehr wertvolle Zeit verlieren.«

Sie zwängten sich durch die enge Luke in das nur vier Meter lange und zwei Meter breite Schiff. Es hatte die Form einer Flunder und war nur etwas mehr als einen Meter hoch. Im vorderen Teil befanden sich zwei Neutrogravliegen, auf denen sich Grand und Jalina ausstreckten. Es gab keine sichtbaren Instrumente oder Konsolen, Monitore oder Holofelder, Displays oder Bedienelemente. Um sie herum gab es nichts als monotone weiße Wandflächen. Er fühlte sich, als läge er in einem weißen Sarg.

Grand hörte ein kaum vernehmbares Surren und spürte, wie sich von hinten etwas über seinen Kopf schob. Eine Art Helm entfaltete sich vor seinem Gesicht. Er zuckte zusammen, als sich das Material langsam an seine Gesichtshaut schmiegte. Es war kühl und durchaus nicht unangenehm. Etwas saugte sich an seinen Lippen fest. Grand spürte kühle Luft in seine Lungen strömen. Seine Kopfhaut schien zu prickeln, als sich Nanonadeln hineinbohrten. Das unangenehme Gefühl verschwand nach ein paar Sekunden.

»Das Beiboot wurde ausgeschleust«, informierte ihn Sekunden später eine Stimme, die direkt in seinem Kopf zu entstehen schien. Grand wusste von Hakera, dass sowohl sein Hör- als auch sein Sehzentrum direkt stimuliert wurden. Alles, was er zu sehen glaubte, sowie die gesamte Kommunikation mit dem Beiboot waren lediglich Datenimpulse, die von der Bordintelligenz als direkter Gehirninput eingespeist wurden. Ein Dorianer hätte das Beiboot ab jetzt mittels Gedankenbefehlen steuern können, doch Grands Gehirn war hierfür nicht entsprechend strukturiert. Auf ihn angepasste Implantate hätten dieses Hindernis beseitigen können, aber er scheute den Eingriff in seinen Kopf. Grand versuchte zu reden. Es ging trotz der engen Gesichtsmaske erstaunlich leicht.

»Virtuelle Umgebungsdarstellung und Gestensteuerung«, befahl er.

»Aktiviert.«

Das Weltall schien schlagartig um ihn herum zu entstehen. Er schwebte körperlos im Raum. Unter sich sah er den Gasplaneten. Sie mussten sich bereits etliche Tausend Kilometer von der Rhelina entfernt haben. Wahrscheinlich hatte Hakera das Beiboot bis hierher ferngesteuert. Er drehte den Kopf nach links und betrachtete den Planeten. Dann geriet die Sonne in sein Blickfeld. Obwohl er direkt hineinsah und nur wenige Millionen Kilometer von dem weißen Zwerg entfernt war, wurde er nicht geblendet. Grand konnte die Plasmawirbel auf der Oberfläche deutlich erkennen. Die Helligkeitsunterschiede entsprachen verschiedenen Temperaturzonen und er sah gewaltige Protuberanzen ins All schießen. Probeweise stellte er sich vor, seinen Körper um die Längsachse zu drehen. Obwohl er die Systeme des Beiboots nicht über Gedankenbefehle steuern konnte, war die Bordintelligenz durchaus in der Lage, neuronale Muster aus dem für Bewegungen verantwortlichen präfrontalen Cortex auszulesen und zu interpretieren. Dies waren relativ primitive Hirnaktivitäten, die im Gegensatz zu komplexen Systembefehlen wenig Interpretationsspielraum ließen. Entsprechend seiner imaginären Bewegung drehte sich der Weltraum um ihn – oder er sich im Weltraum.

Ein leichter Schwindel überkam ihn und er spürte eine beginnende Übelkeit.

»Gleichgewichtsorgan auf visuellen Input abstimmen«, befahl er, wie es ihm Hakera für diesen Fall geraten hatte. Die Übelkeit und der Schwindel legten sich augenblicklich.

»Steuer- und Informationsicons einblenden.«

Sofort blinkten verschiedene Symbole in seinem Gesichtsfeld auf. Hakera hatte englischsprachige Bezeichnungen und für ihn verständliche Icons an die Bordintelligenz überspielt.

»Virtuellen Körper darstellen.«

Die Bordintelligenz erschuf ein Abbild seines Körpers. Grand sah nun alles aus dem Blickwinkel dieser VR-Projektion und konnte mit den virtuellen Händen nach den Icons greifen.

»Hakera?«

»Ja, Michael«, meldete sich die KI der Rhelina sofort. Ihre Stimme vernahm er mit den Ohren. Anscheinend waren auch Kopfhörer in die VR-Maske integriert.

»Fernsteuerung deaktivieren. Ich übernehme die volle Kontrolle!«

»Fernsteuerung ist ab jetzt inaktiv. Viel Erfolg, Michael.«

»Jalina?«, fragte er ins Nichts.

»Ich bin hier, Mike«, kam sofort die Antwort. Auch ihre Stimme erklang zu seiner Erleichterung aus dem Kopfhörer. Es wäre ihm unangenehm gewesen, auch Jalina direkt in seinem Kopf reden zu hören. Es hätte ihm das Gefühl zu großer Intimität gegeben. Als sei sie in seinen Schädel eingedrungen.

»Was siehst du?«, wollte er wissen.

»Wahrscheinlich das gleiche wie du. Unter uns den Planeten und ansonsten nur das leere All.«

»Können wir uns sehen?«

»Visuelle Kopplung herstellen«, hörte er Jalina sagen.

Augenblicklich erschien sie neben ihm, ebenfalls scheinbar im Raum schwebend. Die VR-Projektion sah täuschend echt aus. Sogar ihre Mimik wurde beim Reden wirklichkeitsgetreu dargestellt. Die Bekleidung entsprach dem, was sie beim Betreten des Beiboots getragen hatte.

»Was passiert, wenn unsere VR-Körper sich berühren?«, fragte Grand.

Als Antwort streckte die Jalina-Projektion ihm die Hand entgegen und lächelte. Grand fragte sich, ob auch die echte Jalina in diesem Moment unter ihrer VR-Maske lächelte. Er griff nach ihrer Hand und wäre beinahe zusammengezuckt. Es fühlte sich an, als würde er einer lebenden Person die Hand reichen.

»Die taktilen Empfindungen bei einem VR-Kontakt werden ebenfalls neuronal simuliert«, erklärte Jalina. Grand schoss für einen Augenblick der Gedanke durch den Kopf, dass dies eine ganz neue Art von Sex ermöglichen würde. Ohne jeglichen tatsächlichen körperlichen Kontakt, aber absolut gefühlsecht. Er hütete sich, diesen Gedanken auszusprechen. Beim Blick in das spöttische Funkeln in Jalinas Augen fragte er sich, ob die Bordintelligenz vielleicht doch ihre Gedanken erfassen und deren emotionalen Gehalt in die Darstellung einfließen lassen konnte. Er hatte den Verdacht, Jalina wüsste, woran er gerade gedacht hatte. Schnell konzentrierte er sich wieder auf ihre Mission.

»Ich beschleunige zum Systemrand«, sagte er. Grand berührte ein Icon, das das Navigationsmenu aufrief. Sofort legte sich ein Gitternetz über die Umgebung, in dem die Koordinaten der sichtbaren Sterne, die jeweilige Entfernung und der Kursvektor angegeben waren. Grand berührte den Zielstern mit dem Zeigefinger seiner virtuellen rechten Hand. Er leuchtete sofort grün auf und begann zu blinken.

»Volle Beschleunigung«, sagte er. »Bei Erreichen der notwendigen Geschwindigkeit in den Bulk eintauchen.«

»Bestätigung«, erklang die Stimme in seinem Kopf. »Zeit bis zum Eintauchen 36 terranische Sekunden ab – jetzt.«

Der Gasplanet fiel mit atemberaubender Geschwindigkeit hinter ihnen zurück. Eine Geschwindigkeitsanzeige blinkte in seinem Gesichtsfeld und stieg rasend schnell an. Jalina und er beziehungsweise ihre VR-Projektionen jagten nebeneinander durch das All.

Sie grinste ihn begeistert an. »Ein völlig neues Fluggefühl, nicht wahr?«

»Das kann man wohl sagen«, entgegnete er und grinste zurück. Er begann, Spaß an der Sache zu haben.

Als sie nach exakt 36 Sekunden 0,2 C erreichten, ein Fünftel der Lichtgeschwindigkeit, wechselten sie in den Bulk.