20.


Das Holkum war hungrig und fauchte ihn durch die Gitterstäbe an. Seit Brolon den getöteten Workan verfüttert hatte, waren vier Tage vergangen. Der Hunger und die Enge seines aus kräftigen Ästen und geflochtenen Wurzelfäden erbauten Käfigs trieben das Tier fast in den Wahnsinn. Die Raubtieraugen fixierten Brolon, und er konnte sich vorstellen, dass der Jäger nur darauf wartete, ihn zwischen die Fänge zu bekommen. Seine Ungeduld wuchs beinahe stündlich, genau, wie Brolon es geplant hatte.

Auch in den vergangenen Tagen und Nächten hatte er das Lager der Dämonendiener in jeder freien Minute beobachtet. Er musste sich jede Einzelheit einprägen, wenn er bei seinem nächtlichen Versuch, dort einzudringen, überhaupt eine Chance haben wollte. Ein falscher Schritt, eine Unachtsamkeit, und man würde ihn sofort entdecken.

Brolon musste sich mit seinem Vorhaben beeilen, denn er hatte das Gefühl, dass ihm die Zeit davonlief. Gestern war eine Veränderung mit dem Loch im Himmel vorgegangen. Ein rosafarbener Schleier hatte sich darübergelegt. Er wusste nicht, was dies zu bedeuten hatte, aber seitdem waren noch mehr der metallenen Vögel auf Heimat gelandet und er konnte eine größere Zahl der Fremden im Lager erkennen. Irgendetwas stand bevor, und er hatte Angst, das Loch zu Achmaans Reich würde sich schließen, bevor er seinen Plan ausführen konnte. Deshalb musste er bald handeln – noch heute Nacht.

Ein paar Stunden später lag Brolon wieder in seinem bewährten Versteck und beobachtete das Lager. Die Nacht war hereingebrochen und zwischen den vier in einem Quadrat um das hell erleuchtete Landefeld angeordneten Gebäude herrschte rege Betriebsamkeit. Es mussten inzwischen noch mehr der Fremden gelandet sein. Einige Meter vor Brolon begann die Todeszone der Zauberwand. Er hatte die Grenze nochmals genau bestimmt, indem er kleine Holzstückchen in den unsichtbaren Zaun geworfen hatte. Winzige Aschehäufchen markierten jetzt den exakten Verlauf. Er dankte den Göttern, dass heute Nacht kein starker Wind wehte. Den Käfig mit dem Holkum hatte er mühsam hinter sich hergezogen und er stand nun einige Schritte in seinem Rücken. Das Raubtier grollte leise und ging nervös in seinem Käfig auf und ab. Immer wieder fixierte es mit den im Dunkeln gelblich leuchtenden Augen seinen Peiniger. Brolon senkte den Kopf und atmete tief durch. Noch einmal ließ er die vergangenen Monate in Gedanken vorüberziehen. Der Tod seiner geliebten Frau, die Entdeckung der Fremden, die magische Beeinflussung seines Stammes, das Loch, das plötzlich am Himmel entstanden war, und seine Vorbereitungen, um sich für all dies an den Fremden zu rächen. Nun war es soweit! Alles hing von den nächsten Minuten ab.

Er richtete sich vorsichtig auf und ergriff das Seil, das zum Käfig führte. Langsam ging er rückwärts, bis er dicht vor den Aschehäufchen stand. Er konnte spüren, wie sich die Haare an seinem Hinterkopf aufrichteten und zu knistern begannen. Etwas zog sie in Richtung Zauberwand, als ob der Tod seine Hand nach ihm ausstrecken würde. Das Holkum hatte seine ruhelose Wanderung im Käfig eingestellt und beobachtete ihn aufmerksam. Wieder kam ein tiefes Grollen aus seiner Kehle. Mit einem Ruck zog Brolon am Seil. Die Klappe am Käfig fiel nach vorn und das Holkum starrte ihn aus wenigen Metern Entfernung an. Es schien der Situation nicht zu trauen. Wieder grollte es. Unschlüssig. Gefahr witternd.

»Komm schon«, flüsterte Brolon kaum hörbar.

Als habe es nur auf diese Aufforderung gewartet, stieß es einen heiseren Jagdruf auf, der Brolon das Blut in den Adern gefrieren ließ, sprang mit einem Satz aus dem Käfig und sog schnüffelnd die Luft ein. Das Holkum hätte in jede Richtung fliehen können, doch vor ihm stand sein Peiniger und schien eine leichte Beute zu sein. Die Instinkte, der Hass und der Hunger gewannen die Oberhand. Brolon konnte sehen, wie es den Hinterleib leicht absenkte und sich die Muskelpakete an den Hinterläufen anspannten. Es setzte zum Sprung an und schnellte im nächsten Augenblick durch die Luft auf ihn zu. Nun würde sich entscheiden, ob Brolons Pläne aufgehen würden. Vor ihm lauerte der Tod in Gestalt des Holkums und hinter ihm wartete die tödliche Zauberwand darauf, ihn zu Asche zu verbrennen.

Im letzten Moment ließ sich Brolon zu Boden fallen und das Holkum flog über ihn hinweg. Sein krallenbewehrter Hinterlauf streifte Brolons linke Schulter und hinterließ einen tiefen Kratzer. Brolon spürte eine aufflammende Hitzewelle in seinem Rücken und warf sich so kräftig, wie er nur konnte, nach hinten. Sein Körper schien für einen Moment in Flammen zu stehen. Er roch verbranntes Fleisch und schmeckte Asche auf den Lippen. Dann rollte er über die Schulter ab, was ihm einen Schmerzenslaut entriss. Die Schulterwunde musste tiefer sein als angenommen. Doch er lebte! Er hatte die Zauberwand überwunden. Vor sich sah er einen Aschehaufen, aus dem noch leichter Rauch emporstieg. Er war auf der anderen Seite des Todeszauns angekommen. Die Schulter schmerzte, seine Haare rochen angesengt – doch er war am Leben. Sein Rachefeldzug konnte beginnen. Die Götter waren heute Nacht auf seiner Seite.

Das eigentliche Lager befand sich nur etwa zweihundert Meter von ihm entfernt. Zwischen ihm und dem ersten Gebäude lagen die ehemalige Wasserstelle seines Dorfes, einige Büsche und ein paar vereinzelte Bäume. Es war eine mondlose Nacht, aber die Sterne spendeten genügend Licht, um sich orientieren zu können. Brolon wusste, dass die Fremden in dem von den schwebenden Sonnen erleuchteten Areal zu geblendet sein würden, um etwas außerhalb des Lichtkreises sehen zu können. Sie waren zwar im Besitz einer bösen Magie, stellten sich als Jäger jedoch dümmer an als jedes Kleinkind seines Stammes. Selbst dieses hätte gewusst, dass man immer mehrere Wachposten außerhalb des Feuerscheins eines Lagerfeuers postieren musste, um ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Die Fremden würden nichts wahrnehmen können, was sich aus den Schatten der Nacht an ihr Lager heranschlich. Er hingegen konnte jede ihrer Bewegungen so deutlich erkennen, als sei heller Tag.

Sein Plan war sehr einfach. Es kam ihm nicht darauf an, hier einige der Eindringlinge zu töten, dies wäre für ihn ein Leichtes gewesen, er wollte hochsteigen zum Loch nach Achmaan, um dieses zu vernichten und dort sein Leben im Kampf gegen die Götzendiener zu opfern. Durch dieses Vorgehen würde er nicht nur den Tod seiner Geliebten rächen es würde ihm auch das Wohlwollen der Götter und einen Aufenthalt in ihrem ewigen Reich garantieren. Wer sein Leben im Kampf gegen das Böse gab, wurde im Jenseits von den Göttern reich belohnt. So stand es seit den Zeiten der letzten auf Heimat wandelnden Göttin Doriana geschrieben. Seit sie in den Himmel gefahren war, um mit den anderen Göttern zwischen den Sternen zu wandeln, oblag es Brolons Stamm, ebenso wie allen anderen Stämmen auf Heimat , Dorianas Ansehen zu wahren, ihre Gesetze zu befolgen und sich auf ihre Rückkehr vorzubereiten.

Brolon kroch auf dem Bauch bis zur Wasserstelle. Vorsichtig schöpfte er eine Handvoll Wasser, um den Geschmack von Asche aus dem Mund zu spülen. Dann nahm er etwas von dem schwarzen Schlamm, der sich am Grund gesammelt hatte, und schmierte sich damit das Gesicht sowie alle weiteren freiliegenden Hautpartien ein. Auf diese Weise würden nur noch seine Augen in der Dunkelheit zu sehen sein. Um auch diese Gefahr zu bannen, schlich er mit eng zusammengekniffenen Lidern vorsichtig weiter.

Im Lager hatte sich niemand um den Zwischenfall gekümmert. Brolon hatte in den vergangenen Monaten beobachten können, dass immer wieder große und kleine Tiere in die unsichtbare Zauberwand geraten waren. Besonders bei Nacht hätte das helle Aufblitzen den Fremden auffallen müssen, doch sie verließen sich offensichtlich auf die tödliche Wirkung der Absperrung. Niemals war jemand gekommen, um an der entsprechenden Stelle nachzusehen. Auch jetzt interessierte es niemanden, ob wieder ein Tier durch den bösen Zauber zu Asche verbrannt worden war.

Brolon robbte, jede noch so kleine Deckung ausnützend, bis zum ersten Gebäude. Er spähte um die Ecke und sah einen der metallenen Vögel, dessen Hinterteil sich geöffnet hatte. Einige der Fremden waren damit beschäftigt, Kisten in seinen Bauch zu schieben. Brolon war nicht dumm. Er hatte natürlich längst erkannt, dass es sich bei den seltsamen Flugobjekten nicht wirklich um Vögel handelte, sondern um etwas, das die Eindringlinge wohl selbst erbaut oder durch einen mächtigen Zauber erschaffen haben mussten. Er konnte eine widerstrebende Bewunderung nicht unterdrücken. Durch die Luft fliegen zu können war eine erstrebenswerte Errungenschaft. Ihm war klar, dass sie dies nutzten, um schwere Lasten über weite Strecken zu transportieren. Wie diese Kisten.

Er sah sich weiter um. Ganz in der Nähe entdeckte er noch mehr dieser Kisten. Immer wieder näherte sich ein seltsames Ding, das ebenfalls durch die Luft schweben konnte, hob eine der Kisten an und trug sie zu dem Vogel hinüber. Dort bellte einer der Fremden mit knarzender Stimme seine für Brolon unverständlichen Anweisungen, woraufhin andere sie verluden. Gleiches hatte er aus der Ferne bereits früher beobachten können und seinen Plan darauf gegründet.

Vorsichtig arbeitete er sich zu dem Stapel der Behälter vor. Niemand sah in seine Richtung. Die Arbeit auf dem Landefeld beanspruchte ihre volle Aufmerksamkeit. Brolon wartete, bis der schwebende Gehilfe, der ebenfalls gänzlich aus Metall zu bestehen schien, wieder eine Kiste abgeholt hatte. Dann schlich er zu einem der Behältnisse. Es war etwa so lang wie er und eine halbe Manneslänge hoch und breit. Oben sah er einen Deckel, der nur von zwei einfachen Verschlüssen gehalten wurde, ähnlich denen, die auch in seinem Dorf Verwendung fanden. Er öffnete die Verschlüsse und hob den Deckel einen Spalt an. Die Kiste war nur zu Hälfte gefüllt. Er konnte im schwachen Licht der schwebenden Sonnen erkennen, dass es sich um schmutzige Kleidungsstücke der Fremden handelte. Schnell öffnete er den Spalt so weit, dass er sich hindurchzwängen konnte, und ließ die Klappe über sich zufallen. Der Gestank nach Schmutz und Unrat, nach fremdem Schweiß und anderen undefinierbaren Dingen schlug ihm entgegen. Brolon wühlte sich, so tief er konnte, in den Berg getragener Kleidung und atmete nur noch durch die Nase. Er verbarg sich unter den stinkenden Wäschestücken. Die Kiste war nach seinem Eindringen nicht mehr verschlossen und er hoffte, dass dies die Fremden nicht misstrauisch machen würde.

Nur kurze Zeit später spürte er, wie sein Versteck angehoben wurde. Kurz darauf setzte es mit einem harten Ruck wieder auf dem Boden auf. Brolon konnte hören, wie eine knurrende Stimme etwas rief. Er hörte, wie sich der Deckel der Kiste hob. Anscheinend spähte jemand hinein. Dann schlug er wieder zu und die Verschlüsse rasteten hörbar ein. Die Kiste bewegte sich erneut. Brolon stellte sich vor, wie sie jetzt in den Bauch des metallenen Vogels geschafft und dort neben die bereits verladenen gestellt wurde. Bis jetzt war sein Plan aufgegangen. Er fragte sich, wie er die Kiste später von innen öffnen sollte. Um dieses Problem würde er sich kümmern, wenn die Zeit dafür gekommen war. Eins nach dem anderen , sagte er sich.

Es dauerte nicht lange, und Brolon hörte ein gedämpftes Wummern und Donnern. Ein kurzer Ruck gab ihm die Gewissheit, dass sein Flug zum Loch von Achmaan begonnen hatte. Er tastete nach dem Messer, das er in einer Beinscheide trug. Diese Klinge, seine Fäuste und sein Hass würden die Werkzeuge seiner Rache sein.