Brolon bemerkte nichts von seinem Aufstieg in den Himmel. Er hatte erwartet, ein Gefühl des Fliegens zu verspüren, eine ungewohnte Art von Bewegung, sich vielleicht leichter zu fühlen – irgendetwas! Aber es fühlte sich an, als würde er in einer Kiste liegen, die unbeweglich auf dem Boden stand. Nur ein schwaches Vibrieren glaubte er wahrzunehmen. Nach den Geräuschen, die er anfänglich vernommen hatte, war es wieder völlig still geworden, und er fragte sich, ob der metallene Vogel überhaupt zu Achmaans Pforte unterwegs war oder ob er immer noch im Lager der Dämonendiener stand.
Minuten verstrichen, dann hörte er ein neues Geräusch. Es klang hohl und metallisch. Als wäre Metall gegen Metall gestoßen. Sein Vogel ruckte kurz und er vernahm ein gedämpftes Zischen. Metall war in seinem Dorf nicht unbekannt. Messer und Lanzenspitzen wurden seit langer Zeit daraus gefertigt, auch Töpfe und Essgeschirr, kleine Gegenstände, die haltbar sein mussten, aber es war ein sehr kostbares Material und es benötigte viel Pflege, wenn es nicht rostig und unansehnlich werden sollte. Brolon war von Beginn an verblüfft darüber gewesen, über welche Mengen dieser Kostbarkeit die Fremden verfügten und wie hell und glänzend das Metall trotz Witterungseinflüssen immer noch wirkte.
Brolon spürte, wie die Kiste angehoben wurde. Man brachte sie irgendwohin. Instinktiv wusste er, dass er sein Ziel erreicht haben musste. Er war an Achmaans Pforte angekommen. Dann fühlte er, wie sie abgestellt wurde. Tiefe, knarzende Stimmen unterhielten sich in einer ihm fremden Sprache direkt in seiner Nähe. Dann entfernten sie sich und es wurde ruhig.
Brolon wartete einige Minuten. Von draußen war kein Geräusch zu hören. Er zog sein Messer und führte es in den Spalt zwischen der Kistenwand und dem Deckel. Er hatte sich die beiden Schnappschlösser zuvor genau angesehen und war sich inzwischen sicher, sie auch von innen öffnen zu können. In der Dunkelheit brauchte er eine kleine Weile, bis der erste Verschluss klackend nach oben schnappte. Beim zweiten ging es deutlich schneller. Vorsichtig hob er den Deckel einen kleinen Spalt an und spähte hinaus.
Ein großer, hell erleuchteter Raum mit weiteren Kisten, die wie seine aussahen. Es war niemand zu sehen oder zu hören. Brolon wagte es, den Deckel weiter hochzuklappen und aus der Kiste zu steigen. Er sah sich um. Der Raum maß vielleicht zwanzig mal zwanzig Schritte. An den Seiten standen mehrere der Kisten übereinandergestapelt. Er hatte Glück gehabt, dass niemand eine andere Kiste auf seiner abgeladen hatte, da es ihm ansonsten unmöglich gewesen wäre, den Deckel auch nur einen Fingerbreit zu öffnen.
Das Licht kam aus seltsamen, länglichen Körpern an der Decke, die fast so hell strahlten wie eine Sonne. Er hielt eine Hand nach oben und war überrascht, dass die Leuchtdinger keine Wärme abgaben. Es musste sich um einen weiteren Zauber handeln. Er betastete die Wände und stellte fest, dass auch sie aus kostbarem Metall bestanden. Es war glatt wie ein im Winter zugefrorener Teich und fühlte sich kühl unter seiner Handfläche an. Die Dämonendiener mussten unvorstellbar reich sein, um so verschwenderisch mit Metall umgehen zu können. Und ganze Wände davon absolut eben und gerade hämmern zu können sprach für unglaubliche handwerkliche Fähigkeiten. Oder für mehr Zauberei.
Zum ersten Mal verspürte er die leise Befürchtung, er könnte sich mit seinem Racheplan übernommen haben. Allein dieser Raum bot Wunder über Wunder. Was würde ihn erst hinter der einzigen Tür erwarten, die hinausführte?
Er stand zwischen zwei Kisten und betastete immer noch die Wand, als sich die Tür öffnete. Blitzschnell warf sich Brolon in Deckung. Er spähte um die Ecke einer Truhe und sah einen der Fremden hereinkommen. Ein seltsames Gerät schwebte neben ihm in der Luft, ähnlich wie Brolon es im Lager hatte beobachten können. Er wusste, dass es dazu diente, schwere Lasten zu bewegen.
Die Tür stand offen. Brolon musste diese Gelegenheit nutzen, da er sich nicht sicher war, ob er sie von innen würde öffnen können. In diesem Raum war er nicht mehr als ein Gefangener, und konnte jederzeit entdeckt werden. Er musste von hier entkommen und sich ein sicheres Versteck suchen, um dort seine weiteren Schritte zu planen. Dazu musste der Dämonendiener verschwinden.
Als sich der Fremde anschickte, einer der Kisten unter seinen schwebenden Helfer zu schieben, und Brolon dabei den Rücken zuwandte, schlich sich dieser von hinten an. Mit gezücktem Messer sprang er seinem Gegner in den Rücken und schnitt ihm die Kehle durch. Mit einem gurgelndem Laut sackte sein Opfer in sich zusammen. Eine grüne Blutfontäne schoss aus der klaffenden Halswunde.
Brolon zog den leblosen Körper zu der am weitesten vom Eingang entfernt stehenden Kiste. Er hoffte darauf, dass man diese als letzte von hier würde fortschaffen wollen. Er klappte den Deckel hoch und sah, dass auch sie mit getragener Kleidung gefüllt war. Brolon nahm eines der Kleidungsstücke und wischte das vergossene Blut auf, bis nichts mehr davon zu sehen war. Glücklicherweise war das meiste über den Umhang geflossen, den der Tote trug. Dann leerte er die Kiste vollständig, warf den blutgetränkten Stoff hinein und kippte den Toten hinterher. Er bedeckte alles mit dem Rest der Kleidungsstücke und schloss den Deckel.
Brolon konnte nicht ahnen, wie viel Glück er hatte. Der Schwebebot war nur mit einer einfachen Arbeitspositronik ausgestattet und verfügte nicht über ein höher entwickeltes künstliches Gehirn. Somit würde die Maschine geduldig warten, bis man ihr einen Befehl erteilte, und ihre Untätigkeit nicht an die Einsatzzentrale melden. Man würde nicht sofort auf das Verschwinden eines Arbeiters aufmerksam werden. Das verschaffte Brolon ein wenig Zeit.
Ein vorsichtiger Blick aus der Tür zeigte einen Gang, der rechts nach wenigen Metern an einer weiteren, sehr großen Tür endete und links in einem sanften Bogen aus dem Blickfeld verschwand. Brolon entschied sich für die rechte Seite, da er in der oberen Hälfte der großen Tür ein vier Handspannen breites und ebenso hohes Loch bemerkte. Als er den Kopf hindurchrecken wollte, stieß er an ein Hindernis. Verblüfft tastete er danach. Ein neuer Zauber! Die Barriere war vollkommen durchsichtig, aber hart, doch im Gegensatz zur Zauberwand verbrannte man sich nicht, wenn man sie berührte. Sie hatte Ähnlichkeit mit einer dünnen Eisscholle, auch wenn sie nicht kalt war. Warmes Eis! Brolon schüttelte ungläubig den Kopf. Sie konnten sogar die Gesetze der Götter außer Kraft setzen. Er leckte vorsichtig an dem Hindernis, doch der Geschmack erinnerte nicht an Wasser.
Hinter dem warmen Eis konnte er einen riesigen Raum erkennen, der ebenfalls hell erleuchtet war. Die Lichtquelle befand sich außerhalb seines Blickfeldes, doch Brolon war sich sicher, dass es sich auch hier um die leuchtenden Deckenkörper handeln musste. Mitten im Raum stand einer der metallenen Vögel, vielleicht derjenige, der ihn hierhergebracht hatte.
Er drückte gegen Tür, doch sie ließ sich nicht öffnen. Es war höchste Zeit, ein sicheres Versteck zu finden.
Brolon wandte sich ab und ging in die andere Richtung. Nach ein paar Metern in dem gebogenen Gang sah er eine weitere Tür in der Wand. Er presste ein Ohr gegen das kühle Metall und lauschte. Hinter der Tür rührte sich nichts.
Der Spalt zwischen Tür und Rahmen war viel zu eng, als dass er sein Messer hätte dazwischen zwängen können. Er strich mit der Hand über den Rahmen. Plötzlich klickte es und die Tür schwang auf. Was Brolon sah, raubte ihm den Atem.
Dieser Raum war nur halb so groß wie derjenige, in dem er angekommen war. An der rechten Wand befanden sich seltsame Geräte, die blinkten und fast unhörbar surrten. Davor standen ebenso seltsame Möbelstücke, die ihn an Böcke erinnerte, wie man sie zum Holzsägen verwendete. Allerdings waren sie mit einem Material überzogen, das sehr weich aussah. Er konnte sich vorstellen, dass die dreibeinigen Dämonendiener sie bequem finden mussten. Links entdeckte er mehrere bunte Bilder, die sich ständig veränderten und überhaupt nicht flach wirkten, wie er es von den Kunstwerken des Dorfmalers kannte. Sie sahen eher aus wie kleine, bewegte Darstellungen der Wirklichkeit. Zudem wirkten sie leicht durchscheinend. Er griff nach einem der Bilder und zuckte überrascht zurück. Seine Hand ging glatt hindurch!
Was ihn jedoch am meisten beeindruckte, war die Wand gegenüber dem Eingang, den er wieder hinter sich zugezogen hatte. Über die gesamte Breite und Höhe schien sich ein Loch aufzutun, das einen Blick in die Unendlichkeit bot. Er sah den Sternenhimmel so klar und deutlich, wie er ihn von Heimat aus noch nie gesehen hatte. Die Sterne strahlten ruhig vor dem pechschwarzen Hintergrund und zum ersten Mal konnte er deutlich erkennen, dass sie verschiedene Farben besaßen. Rot, Grün, Blau, Orange, Gelb und Weiß. Sie funkelten nicht, wie er es vom Blick in den Nachthimmel gewohnt war, sondern leuchteten gleichmäßig. Er ging näher an das Loch heran und streckte die Hand aus, um nach ihnen zu greifen. Wieder stieß er auf ein unsichtbares Hindernis und zuckte zurück. Es fühlte sich genauso an wie das warme Eis. Er trat heran, bis seine Nasenspitze das Hindernis berührte und, dann sah er … das Wundervollste, was er je erblickt hatte. Unter ihm drehte sich ganz langsam eine weiß-blaue Kugel von göttlicher Schönheit. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, dass er auf Wolken blickte – allerdings von oben. Das Blaue musste Wasser sein und alles Grüne Wälder und Steppen. Die gelb-braunen Flecke schienen die Wüsten zu sein, trockene Gebiete, von denen weit gereiste Händler schon berichtet hatten.
Aus einer der Wolken stieg etwas nach oben. Es dauerte einen Moment, bis es näher kam und er in dem Objekt einen der metallenen Vögel erkannte. Er flog direkt auf Brolon zu. Erschrocken trat er einen Schritt zurück, doch dann erkannte er, dass der Vogel seitlich an ihm vorbeifliegen würde.
Sein Herz schien für ein paar Schläge auszusetzen, als er die Bedeutung seiner Beobachtung erkannte. Er war in der Pforte von Achmaan, daran bestand kein Zweifel, hier befand sich jedoch kein viereckiges Loch, sondern eine große Stadt am Himmel! Vielleicht gab es hier tatsächlich einen Durchgang in das Reich des Bösen, aber was er von Heimat aus hatte sehen können, war kein Loch im Himmel, sondern eine riesige, pechschwarze Stadt des Bösen. Erbaut aus einer unvorstellbaren Menge von schwarzem Metall. Und unter sich … dies musste Heimat sein! Der metallene Vogel war von dort gekommen und es gab keine andere Erklärung. Heimat war eine Kugel und keine Scheibe, an deren Rand man herunterfallen konnte, wie es die weisen Männer behaupteten. Brolon verstand zwar nicht, wieso diejenigen, die 'unten' lebten, nicht sofort herunterfielen, aber die Götter mussten es so eingerichtet haben, auch wenn er es nicht verstand.
Erschüttert sank er auf einen der Sitzböcke nieder. Ihm wurde plötzlich klar, wie vermessen es von ihm gewesen war, hierherzukommen. Was konnte er schon gegen Wesen mit solch mächtigen Zauberkräften ausrichten. Er hatte einen von ihnen töten können, aber angesichts der riesigen Stadt verlor er jegliche Zuversicht. Ihm blieb nur noch eines: So viele der Dämonendiener wie möglich mit in den Tod zu nehmen, der unweigerlich auf ihn wartete. Warum sollte er sich verstecken? Sich hilflos in einer dunklen Ecke zu verbergen und auf das Ende zu warten war unwürdig. Nein, er würde hinausgehen, sich den Fremden stellen und so viele wie möglich für Felkanis Tod büßen lassen.
Doch es kam nicht mehr dazu. Kaum hatte sich Brolon entschlossen, kämpfend in den Tod zu gehen, als ein furchterregendes Jaulen losbrach. Er konnte eilige Schritte auf dem Gang hören, dann riss jemand die Tür auf. Vor ihm standen drei der Fremden und starrten ihn ungläubig an. Einer von ihnen hob die Hand und deutete mit einem Gerät auf ihn. Ein plötzlicher Schmerz durchzuckte Brolon und er stürzte bewusstlos zu Boden.
Die ersten Minuten des Erwachens waren erneut schmerzerfüllt. Seine Muskeln verkrampften sich und zuckten und Brolon musste sich mehrfach übergeben. Er hatte keine Kontrolle über seinen Körper und nässte sich ein. Doch er empfand keine Scham. Alles, was mit ihm geschah, hatten die Fremden zu verantworten. Nichts davon war ihm anzulasten. Dann erhielt er einen Schlag in die Rippen.
»Sieh mich an!«, sagte eine Stimme zu ihm.
Brolon öffnete die Augen. Er lag auf einer Pritsche, an der er mit Händen und Füßen festgeschnallt worden war. Links von ihm stand einer der Fremden. Wieso sprach er die Sprache von Brolons Stamm?
»Ich weiß, dass du mich verstehst. Schließlich hatten die Translatoren genügend Zeit, die Sprache eurer primitiven Welt zu entschlüsseln.«
Brolon wusste nicht, was 'Translatoren' waren, aber sie hatten wohl etwas damit zu tun, dass er den Fremden verstehen konnte.
»Normalerweise hätten wir dich sofort erschossen, aber du gibst uns ein Rätsel auf. Wie konnte es dir gelingen, in unseren Stützpunkt einzudringen und in den Dimensionskubus zu gelangen? Wieso stehst du nicht unter dem Bann unserer Suggestoren?«
Brolon wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Was war ein 'Dimensionskubus'? Was waren 'Suggestoren'? Er verstand jedoch, dass mit dem 'Bann' wohl die Tatsache gemeint war, dass außer ihm niemand in seinem Dorf die Fremden hatte wahrnehmen können.
»Euer Zauber wirkt bei mir nicht«, gab er stolz zurück. »Meine Götter beschützen mich vor den Dienern Achmaans.«
»Zauber?« Der Fremde stieß ein bellendes Geräusch aus, was wohl ein Lachen sein sollte. »Du wirst uns noch nützlich sein. Du bist der erste Immune, den wir in die Hände bekommen haben. Du wirst uns helfen, einen anderen Immunen zu vernichten, der uns wesentlich mehr Ärger bereitet als ein Primitivling wie du. Wir werden dich auseinandernehmen und analysieren, bis von dir nur noch kleine Stücke übrig sind.«