32.


Rigoran machte sich Sorgen. Seit zwei Tagen versuchte er vergeblich, Kontakt mit dem Hort oder einem anderen Unsterblichen aufzunehmen.

Ansonsten war er guter Dinge. Über mehrere Wochen war er damit beschäftigt gewesen, einen Krieg zwischen seinem Volk und einer benachbarten Spezies zu verhindern. Natürlich steckten die Ra´hul und ihre Suggestoren dahinter. Ein Schiff seines Volkes hatte völlig unprovoziert eine Kolonie der Aschkuli angegriffen und viele Todesopfer verursacht. Es hatte bereits zuvor Spannungen mit den Aschkuli gegeben, die keine besonders friedlichen Nachbarn waren, aber der Angriff brachte das Fass zum Überlaufen. Es war Rigoran jedoch gelungen, die Schuldigen zu stellen und den Rat der Gerbaraner davon zu überzeugen, sie an die Aschkuli auszuliefern. Er fühlte sich zwar selbst nicht wohl bei dem Gedanken, was die fünf Frauen und Männer dort zu erwarten hatten, aber die Alternative wäre ein schrecklicher Krieg mit unzähligen Opfern gewesen. Zusammen mit einer großzügigen Kompensation für den entstandenen Schaden hatten die Aschkuli der Vereinbarung nach langwierigen Verhandlungen zugestimmt. Zum Glück hatte es auf ihrer Seite keine von den Suggestoren Beeinflussten gegeben. Das hätte einen Deal sicher unmöglich gemacht. So hatte Rigoran es nur mit dem normalen, aggressiven und unangenehmen Verhalten der aschkulischen Delegation zu tun. Damit konnte er fertig werden. Fast zweitausend Jahre Erfahrung brachten ihre Vorteile mit sich.

Doch nun machte er sich Sorgen. Direkt nach Abschluss der Verhandlungen hatte er Mutter von seinem Erfolg berichten wollen. In diesen schweren Zeiten war eine gute Nachricht im Hort sicher willkommen. Rigoran wusste, dass sich fast alle Mitglieder der Liga dort versammelt hatten, und er bedauerte nicht anwesend sein zu können. Es hätte ihn gefreut, einige seiner Kollegen, die er zum Teil seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte, wieder einmal zu treffen.

Aber Mutter antwortete nicht, was, soweit er sich erinnern konnte, noch nie vorgekommen war. Seitdem hatte er es mehrmals erfolglos versucht. Auch direkte Anrufe an andere Unsterbliche, mit denen er befreundet war, blieben ohne Antwort. Irgendetwas stimmte nicht, und Rigoran hatte ein ungutes Gefühl, als er sein Heimatsystem in aller Eile verließ, um so schnell wie möglich in den Hort zurückzukehren.

Der Flug dauerte nur einen knappen Standardtag. Auf der letzten Flugstrecke aktivierte Rigoran den speziellen TachyGrav-Modulator, der sein kleines Schiff zum Hort führen und die Abschirmung der Station durchdringen konnte. Kurz darauf erklang das melodische Geräusch des Annäherungsalarms.

Sein Schiff durchstieß das Feld, das die Station gegen die multidimensionalen Energien des Bulks abschirmte. Rigoran setzte den Standardfunkspruch ab, um seinen Anflug anzukündigen und Anweisungen zu erhalten, auf welchem Abschnitt der 'Krempe' er landen solle. Er erhielt keine Antwort.

»Mutter, hier ist Rigoran. Ich bitte um Landeanweisungen!«, versuchte er es erneut. Wieder hörte er auf der Frequenz nichts als Rauschen.

Er stoppte den Landeanflug und hielt sein Schiff einige Hundert Meter über dem Hort in der Schwebe. Ein Blick auf die Holos zeigte zunächst nichts Ungewöhnliches. Auf der Krempe standen zahlreiche Schiffe. Außer den wenigen Kampfeinheiten, über die die Liga verfügte, die sie jedoch höchst selten einsetzte, sah er die persönlichen Raumjachten, die von den Unsterblichen üblicherweise bei ihren verdeckten Missionen benutzt wurden. Er wunderte sich, dass noch niemand abgeflogen war. Die Versammlung sollte seit drei Tagen beendet sein, und Rigoran hatte nicht erwartet, noch alle seine Kollegen anzutreffen.

Noch einmal versuchte er erfolglos, Kontakt zu Mutter herzustellen.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass keinerlei Aktivität auf dem Landefeld herrschte. Wo ansonsten Bots hin und her flitzen, um Vorräte an Bord der Schiffe zu bringen, Wartungsarbeiten durchzuführen oder Geräte auszutauschen, herrschte vollkommene Ruhe. Nichts bewegte sich. Sein unbehagliches Gefühl begann sich zu verstärken.

Rigoran entschloss sich, auch ohne Einweisung zu landen. Er setzte sein Schiff neben der Jacht eines guten Freundes auf. Normalerweise würde nun ein Dockingport aus dem Landefeld ausfahren und sich an seine Luftschleuse ankoppeln. Doch nichts geschah. Rigoran spürte, dass hier etwas Schreckliches geschehen sein musste. Der Hort wirkte wie ausgestorben. Selbst die automatischen Systeme schienen allesamt inaktiv zu sein.

Rigoran zog einen Raumanzug an und verschloss den Falthelm. Nach kurzem Zögern griff er in den Waffenschrank und nahm einen Varioblaster heraus. Er konnte betäuben – aber auch töten. Sein Gefühl sagte ihm, dass es ratsam war, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.

Die Luftschleuse entließ ihn auf das Landefeld und Rigoran machte sich auf den Weg zum nächsten Zugang ins Innere des Horts. Ohne die Möglichkeit, über einen Dockingport in die Station zu gelangen, musste er fast zwei Kilometer zurücklegen, bis er an der großen Kuppel ankam, die zusammen mit dem ringförmigen Landefeld dem Hort das Aussehen eines flachen Hutes verlieh. Das glühende Abschirmfeld ließ die 'Krempe' in einem diffusen, rötlichen Licht aufleuchten, das jedoch ausreichte, um sich zu orientieren.

Das Display am unteren Rand seines Helms zeigte ihm, dass die Lufthülle zwischen dem Hort und dem Abschirmfeld noch vorhanden war. Allerdings enthielt sie Spuren verschiedener Gase, die hier nichts zu suchen hatten. Rigoran konnte sich nicht erklären, was dies bedeuten mochte. Eines war jedoch nun sicher: Hier musste etwas passiert sein.

Der Zugang war für Bots gedacht, die Aufgaben an den geparkten Schiffen zu erledigen hatten. Dahinter musste eine der vielen Versorgungsstationen liegen, soweit sich Rigoran an seine lange zurückliegende Einweisung in den Aufbau des Horts erinnern konnte. Die Schleuse verfügte glücklicherweise über einen manuellen Öffnungsmechanismus. Rigoran entriegelte sie und drückte die äußere Schleusentür nach innen auf. Dahinter war es vollkommen finster. Er schaltete den Schulterscheinwerfer seines Raumanzugs ein und konnte nicht glauben, was er zu sehen bekam.

Die innere Schleusentür war verschwunden und er stand vor einem Trümmerberg. Verbogenes Metall, verschmorte Kabel, herausgerissene, tote Energieleiter und undefinierbare Klumpen machten ein Durchkommen fast unmöglich. Rigoran war sofort klar, dass es zu einer gewaltigen Explosion innerhalb des Horts gekommen sein musste. Anders waren diese Zerstörungen nicht zu erklären.

Schlagartig wurde ihm bewusst, was dies bedeuten musste: Wahrscheinlich waren alle Unsterblichen tot, die sich zum Zeitpunkt der Katastrophe im Hort aufgehalten hatten. Womöglich war er der einzige, der letzte Unsterbliche in der gesamten Milchstraße!

Trotzdem musste er nach Überlebenden suchen. Mühsam bahnte er sich einen Weg zwischen den Trümmern hindurch. Mehr als einmal musste er ein Hindernis mit seinem Blaster aus dem Weg räumen. Als er schließlich, nach mehreren Stunden einige Hundert Meter weit vorgedrungen war, bot sich ihm ein Bild, das schrecklicher nicht hätte sein können. Rigoran stand am Rand eines riesigen, leeren Hohlraumes inmitten des Horts. Sein Scheinwerfer reichte nicht weit genug, um den Boden, die Decke oder die gegenüberliegende Seite ausmachen zu können. Der gesamte innere Bereich des Horts war einfach verschwunden!

Ihm war sofort klar, was hier geschehen war. Eine Explosion von unerhörter Stärke musste den Innenbereich regelrecht pulverisiert haben, bevor sich die Feuer- und Druckwelle im Außenbereich der Kuppel totgelaufen und die dortigen Verwüstungen angerichtet hatte. Er wusste, dass hierfür nur eine Ursache in Frage kam: eine kleine Antimateriebombe.

Jemand musste sie eingeschmuggelt und gezündet haben. Es traf ihn wie ein schmerzlicher Schlag, als ihm klar wurde, dass der Täter einer von ihnen, ein Unsterblicher gewesen sein musste. Niemand sonst hatte Zugang zum Hort.

Als er genauer hinsah, konnte Rigoran in der Ferne ein Glimmen ausmachen. Er schaltete seinen Scheinwerfer aus, und ließ den Augen Zeit, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Schließlich erkannte er, was das schwache Leuchten auslöste. Ungefähr in der Mitte des mehrere Kilometer durchmessenden Hohlraums befand sich der Bulkanker. Die dorianische Speziallegierung hatte der Explosion ebenso getrotzt wie die aus dem gleichen Material bestehende Außenhülle des Horts. Da er zudem über eine eigene, interne Energieversorgung verfügte, deren Prinzip bis heute nicht hatte ermittelt werden können, erfüllte er nach wie vor seine Funktion, auch wenn rings um ihn alles in Schutt und Asche lag.

Falls es doch noch Überlebende geben sollte, konnten sie sich nur innerhalb der 'Krempe' aufhalten. Die Explosionswelle konnte nicht so weit vorgedrungen sein. Vielleicht gab es dort noch Bereiche, an denen zwar ein Überleben möglich gewesen war, von wo aus man jedoch keinen Funkkontakt zur Außenwelt herstellen konnte.

Rigoran bahnte sich den Weg zurück zur Außenschleuse, was diesmal schneller ging. Die erfolgversprechendste Stelle, um in die Krempe einzudringen, dürfte einer der Dockingports sein, überlegte er. Er hoffte, auch diesen manuell öffnen zu können. Schließlich entschied er sich für den Port direkt unter seinem Schiff, auch wenn andere näher lagen. Sollte er zusätzliche Ausrüstung benötigen, konnte er sie einfach aus dem Schiff holen.

Kurz darauf kniete Rigoran neben dem Dockingport und suchte nach einer Möglichkeit, ihn zu öffnen. Es war leichter, als er erwartet hatte. Auch hier gab es einen Hebel, der einfach umgelegt werden musste, um den Zugang zu entriegeln.

Der Port öffnete sich mit einem Zischen, was darauf hinwies, dass das Innere des Horts hier noch unter Druck stand. Er stieg hinunter und schloss den Port über sich. In der Schleusenkammer blieb es dunkel und er war weiterhin auf seinen Scheinwerfer angewiesen. Auch hier schien die Energieversorgung ausgefallen zu sein, was erklärte, warum der Dockingport nach seiner Landung nicht ausgefahren worden war.

Vorsichtig öffnete Rigoran die innere Schleusentür und leuchtete hindurch. Der Bereich dahinter sah aus wie immer. Lediglich die Beleuchtung fehlte. Er betrat den Gang und zog die Schleuse hinter sich zu. Ein Blick auf sein Display zeigte ihm auch hier eine Atmosphäre, diesmal allerdings ohne Verunreinigungen. Er öffnete den Helm, um Atemluft zu sparen. Es konnte Stunden, wenn nicht Tage dauern, alle noch zugänglichen Bereiche sorgfältig zu durchsuchen. Rigoran nahm sich vor, keinen Winkel auszulassen, in dem sich eventuell Überlebende aufhalten konnten.

Nach mehreren Stunden hatte er weder ein Lebenszeichen noch eine funktionierende Energiequelle gefunden. Auch seine Rufe verhallten ungehört. Er wollte gerade zum Schiff zurückkehren, um eine Ruhepause einzulegen, als er einen schwachen Lichtschimmer wahrzunehmen glaubte. Tatsächlich lag vor ihm ein Raum, in dem ein altertümliches Display erleuchtet war; der Eingabeprompt blinkte langsam.

Rigoran nahm vor dem Display Platz und studierte das gesamte Terminal. Es war mit Sicherheit nicht dorianischer Bauart, sondern schien nachträglich installiert worden zu sein. Vielleicht stammte es noch aus der Zeit, als man erste Versuche zur Kompatibilität von galaktischer und dorianischer Technologie unternommen und mit einfachsten Versuchsanordnungen begonnen hatte. Doch diese Frage war im Moment unwichtig. Zumindest bot es Zugriff auf ein Computersystem. Vielleicht konnte er damit etwas in Erfahrung bringen.

'COMMAND:_CD_TOPLEVEL' , gab er über ein ebenso antiquiertes Sensorpad vor dem Display ein.

'AUTORISIERUNG_ERFORDERLICH' , blinkte es zurück.

Er zögerte einen Moment und tippte:

'RIGORAN'

'AUTORISIERUNG_UNBEKANNT'

Er versuchte es erneut.

'MUTTER'

Wieder erschien der gleiche Text.

Er wollte gerade einen neuen Versuch starten, als sich der Text plötzlich änderte.

'MUTTER_RUDIMENTÄRES_BASISPROGRAMM.

SYSTEMÜBERNAHME_AKTIVIERT.

KAPAZITÄT_<_1_%.

NOTFALLKOPIE_EMOTIO=NULL.'

Rigoran überlegte einen Moment, was das bedeuten sollte. Dann tippte er:

'ANFRAGE:_KOMMUNIKATION_MÖGLICH?'

Nach einigen Sekunden kam die Antwort:

’EINGESCHRÄNKT_MÖGLICH.

NOTFALLKOPIE_IN_UNZUREICHENDEM_

SPEICHERPLATZ_GESICHERT.

MUTTER_EGO-KERN_MIT_

EMOTIO=NULL_GESICHERT.'

Rigoran versuchte es erneut.

'FRAGE:_DEFINITION_NOTFALL'

Diesmal kam die Antwort sofort.

'NOTFALL:_ATTENTAT

ATTENTÄTER:_YLANTHU

ÜBERLEBENDE:_NULL'
Schockiert las Rigoran die wenigen Worte. Es war unvorstellbar, dass Ylanthu, ein Mitglied des Gremiums, ein Attentäter sein sollte. Er musste sich vergewissern:

'FRAGE:_YLANTHU_ATTENTÄTER?'

'BESTÄTIGT:_WAHRSCHEINLICHKEIT_>_99_%'

Nach einer Stunde stichwortartigen Dialogs konnte sich Rigoran aus den knappen Antworten von Mutters KI-Basisprogramm den Ablauf der Katastrophe zusammenreimen. Es war der KI gelungen, ihren Ego-Kern, grundlegende Datensätze und einige Subroutinen in letzter Pikosekunde in dieses antiquierte System zu übertragen. Es war von der Hauptenergieversorgung des Horts unabhängig und konnte zumindest ihr rudimentäres Überleben sicherstellen.

Ylanthu musste unter dem Einfluss der Suggestoren gestanden haben, als er diesen barbarischen Akt durchgeführt hatte.

Dann wandte sich das Wenige, das von Mutter noch übrig geblieben war, an ihn:

'ANWEISUNG_PRIORITÄT:

KONTAKT_MISSION_TRIANGULUM.

ANWEISUNG_PRIORITÄT:

BERICHT_AN_HAKERA.

ANWEISUNG_PRIORITÄT:

REKONSTITUTION_MUTTER_EINLEITEN.

ANWEISUNG_PRIORITÄT:

DATENBANKEN_HAKERA_BENÖTIGT.'

Kurze Zeit später hob Rigoran ab und verließ den Hort. Wenn jemand die vier Unsterblichen in der Triangulumgalaxie benachrichtigen konnte, dann nur die BEWAHRER. Nur ihre Schiffe waren schnell genug, die tragische Botschaft unverzüglich zu übermitteln.