Gute Reise!

Die Glocke über der Tür bimmelte hell, als Violet in den Blumenladen stürmte.

„Noch dreizehn Stunden und acht Minuten!“, verkündete sie laut.

„Und was ist dann?“ Tante Abigail drehte ihr den Rücken zu. Sie goss gerade einen großen Topf mit lila Hornveilchen, der an der Decke aufgehängt war.

„Urlaub!“, schrie Violet. Lord Nelson, der auf dem Hocker neben der Tür lag und ein kleines Nickerchen machte, klappte unwillig ein Auge auf und schloss es schnell wieder, als er merkte, dass kein Feuer ausgebrochen und auch sonst nichts Schlimmes passiert war. „In dreizehn Stunden und acht … nein, sieben Minuten fährt unser Zug nach Piffelwich ab.“

In Piffelwich wohnten Violets Großeltern, ihr Haus lag direkt am Meer. Violet durfte zwei Wochen bei ihnen bleiben. Und ihre besten Freunde Jack und Zack würden sie begleiten.

„Zurücktreten!“, zwitscherte Lady Madonna. „Es geht los!“

Lady Madonna war Tante Abigails Wellensittich, sie saß in ihrem Vogelkäfig, der über dem Ladentisch hing. Seit Tante Abigail ihr das Sprechen beigebracht hatte, plapperte Lady Madonna pausenlos. Sie kommentierte alles, was im Blumenladen passierte, und konnte einem damit furchtbar auf die Nerven gehen.

„Dann passt bloß auf, dass ihr den Zug nicht verpasst.“ Tante Abigail prüfte die Erde in einem Topf mit rot-weiß gestreiften Petunien. Sie war offensichtlich noch feucht, denn nun stellte Abigail die Gießkanne in das Regal neben dem Fenster. „Ich fahre schon um sieben Uhr morgens los.“

„Willst du auch verreisen?“ Violet war erstaunt. „Wohin?“

Tante Abigail knipste ein welkes Blatt von einem über und über blühenden Rosenstock. „Nach Goirenafarigaigloch.“

„Zu Onkel Alistair?“, fragte Violet aufgeregt. „Was ist mit ihm? Geht es ihm nicht gut?“

„Doch, alles bestens“, beruhigte Tante Abigail sie. „Ich habe ihn nur schon lange nicht mehr gesehen und mich spontan zu einem Kurztrip nach Schottland entschlossen. Schade, dass du mich nicht begleiten kannst.“

„Allerdings. Kannst du nicht später fahren? Wenn ich wieder zurück bin?“

„Dann ist Onkel Alistair auf Reisen. Er macht einen Tauchkurs auf den Malediven.“

„Wow!“ Violet war beeindruckt. Onkel Alistair war nämlich schon über achtzig, ganz schön alt, um tauchen zu lernen.

„Es ist nur dumm, dass du dich diesmal nicht um die Tiere kümmern kannst“, fuhr Tante Abigail fort. „Ich muss sie wohl mitnehmen.“

„Alarm!“, schrie Lady Madonna. „Rette sich, wer kann!“

„Was ist los mit dir, Madonna?“, wunderte sich Violet. „Normalerweise fährst du doch so gerne weg.“

„Es ist wegen Iris“, erklärte Tante Abigail. „Madonna hat schreckliche Angst vor ihr. Dabei ist Iris eine Seele von einer Eule, sie wird Madonna keine Feder krümmen.“

Violet konnte gut verstehen, dass Lady Madonna sich vor Onkel Alistairs Eule fürchtete. Der große Vogel mit dem scharfen Schnabel und den noch schärferen Augen sah wirklich gefährlich aus. Und Violet war immerhin ein ganzes Stück größer als der Wellensittich.

„Keine Bange, Madonna.“ Tante Abigail öffnete die Käfigtür, holte Lady Madonna heraus und strich ihr zärtlich über die türkisfarbenen Flügel. „Ich werde gut auf dich aufpassen. Und Lord Nelson beschützt dich auch.“

Der honigfarbene Kater auf dem Hocker hob jetzt wieder ein Augenlid, maunzte zustimmend und schlummerte weiter.

„Nein, nein, nein, nein, nein, nein!“ Lady Madonna hüpfte aufgeregt hin und her. „Du, du, du, du, du!“

„Die Arme ist ja total fertig“, sagte Violet und dann kam ihr eine Idee. „Wie wäre es denn, wenn ich Lady Madonna mitnehme? Granny Kate und Grandpa Anthony haben keine Eule und sie freuen sich bestimmt.“

„Wunderbar, wunderbar!“, flötete der Wellensittich. „Alles klar.“

„Willst du dir das ständige Gezwitscher wirklich antun?“, fragte Tante Abigail.

„Das stört mich nicht“, sagte Violet.

„Das wäre echt toll. Und für mich wäre es, ehrlich gesagt, auch mal schön, eine Zeit lang Ruhe zu haben.“

„Klappe zu, es zieht!“, schrie Lady Madonna. „Hurra, hurra!“ Sie stieß sich von Tante Abigails Zeigefinger ab und drehte eine Runde durch den Laden. Zwischen all den bunten duftenden Blüten sah sie selbst aus wie eine kleine Blume.

„Ich pack dir gleich alles ein, was du für sie brauchst. Vogelsand und Futter und so“, sagte Tante Abigail. „Aber vorher wollte ich dir noch was andres geben.“ Sie fischte einen Schlüssel aus dem Vogelkäfig, der unter der Futterschale versteckt war. Dann hob sie einen großen Kaktus von einem Regal an der Rückwand des Ladens. Dahinter verbarg sich ein kleiner Einbauschrank, dessen Tür sie mit dem Schlüssel öffnete.

Violets Herz schlug schneller. In dem Schrank steckte Tante Abigails heiligster Besitz, das magische Blumenbuch. Ob sie es Violet ebenfalls anvertrauen wollte?

In dem Buch standen alle Zauberrezepte für die magischen Blumen, die in Tante Abigails Hexengarten hinter dem Haus wuchsen. Bisher hatte Violet das Buch nur unter Abigails Aufsicht verwenden dürfen, aber vielleicht …

Leider griff ihre Tante nicht nach dem Buch, sondern holte einen Stapel Blätter aus dem Geheimfach, den sie Violet reichte. „Hier, bitte schön.“

„Danke schön!“, trillerte Lady Madonna.

„Was ist das?“, fragte Violet.

„Eine Liste der Sonderbaren Gräser“, sagte Tante Abigail. „Und ihre Wirkungsweisen und die wichtigsten Rezepte. Ich hab dir das Ganze zusammengestellt, damit du im Urlaub nicht einrostest.“

„Heißt das, ich soll das alles lernen?“ Entsetzt blätterte Violet durch den Papierstapel. Die Seiten waren eng beschrieben, Tante Abigail musste Stunden dafür gebraucht haben. Und Violet würde noch viel länger brauchen, das Ganze zu lernen.

„Vor den Ferien ist der Unterricht so oft ausgefallen, wir liegen weit hinter dem Lehrplan zurück“, erklärte Abigail. „Deshalb musst du im Urlaub ein bisschen nacharbeiten. Aber keine Angst, es sieht nach mehr aus, als es ist. Das hast du ruckzuck drauf.“

Außer Violets besten Freunden Jack und Zack wusste niemand, dass Tante Abigail Violet heimlich zur Blumenzauberin ausbildete. Zweimal in der Woche marschierte sie in den Blumenladen, büffelte die komplizierten Namen der Zauberblumen und lernte die magischen Formeln und Rezepte auswendig.

Hin und wieder durfte sie die Rezepte auch ausprobieren, aber das war kniffelig. Denn wenn sie eine klitzekleine Winzigkeit verwechselte, ließ Tante Abigail sie gleich noch mal von vorn anfangen. Beim Zaubern kam es nämlich auf jedes Detail an.

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.“ Violet wog den Papierstapel in ihren Händen. „Stell dir vor, Granny oder Grandpa finden die Blätter. Die würden sich doch bestimmt wundern, was ich für seltsame Dinge lernen muss.“

„Deshalb solltest du die Seiten auch nicht herumliegen lassen.“ Tante Abigail klatschte in die Hände. „So, Madonna, zurück in den Käfig und zwar hurtig! Violet nimmt dich am besten heute schon mit zu sich nach Hause. Ich hol jetzt das Futter und deinen Sand, dann könnt ihr morgen gleich los.“

„Na klar, na klar!“ Lady Madonna schoss von der Deckenlampe, auf der sie gesessen hatte, in den Käfig. „Gute Reise!“

„Gleichfalls“, sagte Tante Abigail. „Vielleicht packst du Ohrenstöpsel ein, Violet. Das könnte hilfreich sein.“