Violet stieg ein wunderbarer Duft in die Nase. Im Zimmer roch es auf einmal nach Vanille, Zitronenschalen, kandierten Orangenstücken, Zimt und noch ein paar anderen köstlichen Dingen.
„Hm! Ob Miss Rosy Kuchen gebacken hat?“ Violet hielt inne und schnupperte. „Lecker!“
„Was?“ Jack, die gerade einen von Violets schmutzigen Socken aufgehoben hatte, sah sie ungläubig an. „Also, lecker ist was anderes.“
„Ich meine diesen Kuchenduft!“ Der Geruch wurde immer intensiver. „Oder vielleicht sind es auch Kekse. Sollen wir mal runtergehen und nachschauen?“ Eigentlich hatte es gerade erst Mittagessen gegeben, aber Violets Bauch knurrte begehrlich.
„Schau doch mal!“, piepste Lady Madonna.
„Ich riech überhaupt nichts.“ Zack legte einen Stapel T-Shirts in den Koffer und griff nach einer von Violets Jeans.
Die Zwillinge rochen beide nichts. Genauso war es auch, wenn Violet das magische Blumenbuch aufschlug. Sie konnte den Duft der Zauberblumen riechen. Jack und Zack und allen anderen Menschen fiel dagegen überhaupt nichts auf.
Aber das Blumenbuch war nicht hier. Da war nur diese Liste, die Tante Abigail für Violet abgeschrieben hatte. Violets Blick fiel auf das Blatt, das sie immer noch in der Hand hielt.
Magisches Zittergras, lautete die Überschrift auf der Seite. Und darunter stand:
Das Magische Zittergras liebt dunkle und verborgene Stellen im Hexengarten, es gedeiht besonders gut im Schatten der Wispernden Espe oder in der Nähe von Panik-Zwiebeln.
Das Gras blüht am 7. Juli und muss in den frühen Morgenstunden (am besten vor 7 Uhr) geerntet werden. Nach einer Trockenzeit von sieben Monaten, sieben Stunden und sieben Minuten werden die Halme in der magischen Mühle zu einem staubigen Pulver zerrieben.
Zittergraspulver eignet sich hervorragend, um Verbrecher und Betrüger zu überführen. Wenn sie das Pulver einatmen, spüren sie eine schreckliche Angst und gestehen ihre Missetaten sofort. Bei Menschen, die nichts Unrechtes begangen haben, zeigt das Pulver keinerlei Wirkung.
Übrigens: Die Wirkung des Magischen Zittergrases kann durch die Einnahme von Pfefferminzbonbons wieder aufgehoben werden.
„Na so was“, murmelte Violet.
Das war ja genau das Mittel, das sie brauchten, um die bösen Müllmänner von ZERO zu einem Geständnis zu bringen. Das konnte kein Zufall sein. Beim Abschreiben der Texte musste sich die Magie des Blumenbuchs irgendwie auf die Liste übertragen haben.
Aber was nützt das?, fragte sich Violet. Wahrscheinlich hatte Tante Abigail Zittergraspulver in ihrer magischen Apotheke in Rivenhoe, aber das brachte ihnen hier in Greenstone überhaupt nichts.
Der Kuchenduft, den das Blatt verströmte, roch plötzlich überhaupt nicht mehr lecker, sondern viel zu süß und auch ein bisschen bitter. Violet war auf einmal übel. Sie ging mit großen Schritten zum Fenster und riss es auf.
„Ist was, Violet?“, fragte Zack verwundert.
„Willst du nicht mithelfen?“, erkundigte sich Jack. „Immerhin ist das dein Koffer und du hast ihn auch runtergeschmissen.“
„Ich weiß jetzt, welche Zauberblume wir brauchen.“ Violet nahm einen tiefen Atemzug von der frischen kühlen Meeresluft, die durch das offene Fenster ins Zimmer drang. Das tat gut! Sie merkte sofort, wie sich die Übelkeit legte. „Das Magische Zittergras.“
„Na klar, na klar!“ Lady Madonna, die immer noch auf dem Schrank saß, erhob sich mit einem Flügelschlag und kam auf Violet zu. Aber diesmal landete sie nicht auf ihrer Schulter, sondern schwirrte an ihrem Kopf vorbei ins Freie.
„Spinnst du, Lady Madonna?“, rief Violet. „Komm sofort zurück! Du darfst nicht raus!“
„Gute Reise“, hörte sie den Wellensittich zwitschern. „Bye-bye!“
Der kleine türkisfarbene Vogel drehte einen Halbkreis über dem Garten, dann stieg er hoch in die Luft und verschwand hinter dem Hausdach.
„Madonna!“ Violets Stimme überschlug sich vor Panik. „Hierher!“
Jack und Zack waren ebenfalls zum Fenster gerannt und beugten sich nach draußen. Von Lady Madonna fehlte jede Spur.
„Sie kommt gleich wieder“, sagte Jack. Aber ihre Stimme zitterte. Sie glaubte sich selbst nicht und Violet glaubte ihr auch nicht.
Zusammen mit den Großeltern, Miss Rosy und den Dackeln suchten sie erst den Garten und dann den ganzen Strand ab. Sie liefen durch die kleine Ortschaft, rund um die Kirche und an dem Denkmal vorbei, das der Bürgermeister von Greenstone für Violets Papa hatte errichten lassen. Und die ganze Zeit riefen sie Lady Madonnas Namen.
Wotan und Jupiter schienen genau zu spüren, dass etwas Schlimmes passiert war. Sie marschierten erstaunlich brav neben den Großeltern her und bellten kein bisschen.
„Lady Madonna ist sauer, weil ich so fies zu ihr war“, weinte Violet, nachdem sie fast vier Stunden lang gesucht hatten. „Und weil ich das Kissen nach ihr geworfen habe.“
„Sie wusste doch, dass du das nicht so gemeint hast.“ Granny Kate nahm sie in den Arm.
Violet schluchzte hemmungslos. Sie hatte es so gemeint, das war ja gerade das Schlimme. Lady Madonna war ihr schrecklich auf die Nerven gegangen mit ihrer Plapperei. Und als dann auch noch der Koffer vom Stuhl gefallen war …
„Was soll ich bloß Tante Abigail sagen?“, wimmerte Violet. „Ich hab ihr doch versprochen, dass ich auf Lady Madonna aufpasse.“
Aber das Jammern und Weinen nützte genauso wenig wie die Teller mit den Sonnenblumenkernen, die Miss Rosy auf allen Fensterbrettern bereitstellte.
Lady Madonna war weg und blieb weg.
Der Abend war einfach nur schrecklich. Violet, Jack und Zack standen die ganze Zeit am Fenster, hinter dem es immer dunkler wurde, und stellten sich vor, was Lady Madonna alles passieren könnte. Im Gegensatz zu Lord Nelson, der sich ständig draußen rumtrieb, war der Wellensittich die Freiheit doch gar nicht gewohnt. Die Welt war voller Gefahren, von denen Lady Madonna nichts ahnte. Was, wenn sie versuchte, sich mit einem Raubvogel anzufreunden? Oder im Meer baden wollte, obwohl sie nicht schwimmen konnte?
„Wartet es nur ab, morgen früh ist sie wieder da“, sagte Granny Kate, als sie sie ins Bett brachte. „Sie ist doch so ein schlauer Vogel.“
Aber war sie das wirklich?, überlegte Violet, nachdem die Granny das Licht ausgemacht hatte. Manchmal konnte Lady Madonna auch ganz schön dusselig sein.
Neben ihr wälzten die Zwillinge sich hin und her. Erst gegen Morgen schliefen sie alle ein.
Als Violet aufwachte, drang strahlend heller Sonnenschein durch die Rosenvorhänge am Fenster. Sie fing gerade an, sich zu freuen, als ihr Lady Madonna wieder einfiel.
„Vielleicht ist sie ja schon wieder da, genau wie Granny Kate gesagt hat“, murmelte Zack, der auch aufgewacht war. Sie zogen sich leise an und schlichen auf Zehenspitzen aus dem Raum, um Jack nicht zu wecken.
Doch leider fehlte immer noch jede Spur von dem Wellensittich, das sahen sie an den betrübten Gesichtern der Großeltern.
Violets Grandpa hatte Zettel vorbereitet, auf die ein Foto von Lady Madonna gedruckt war. Wellensittich entflogen!, stand dort und darunter die Telefonnummer der Großeltern.
Als Violet und Zack gerade loswollten, um die Blätter überall zu verteilen, kam auch Jack runter und wollte mit. Sie musste aber erst etwas frühstücken, da ließ die Grandma nicht mit sich reden.
Danach klebten sie die Zettel an Laternen und an das Schwarze Brett im Supermarkt und in die Bushaltestelle und an den Eingang zum Strand und an die Kirchentür und ans Gemeindezentrum und den Schaukasten vor dem Fußballplatz. Erst als der ganze Ort mit den Blättern plakatiert war, gingen sie wieder zurück.
Kurz vor dem Haus der Großeltern klingelte Violets Handy.
„Das ist bestimmt Tante June“, sagte sie, während sie das Telefon aus der Hosentasche zog. „Weil ich gestern nicht angerufen habe.“
Sie nahm das Gespräch an, ohne aufs Display zu gucken.
„Hier ist Tante Abigail“, sagte eine vertraute Stimme.
Violets Knie begannen so doll zu wackeln, dass sie sich am liebsten hingesetzt hätte, aber auf der Straße gab es natürlich keinen Stuhl.
„Hallo“, krächzte sie tonlos. Jetzt musste sie Tante Abigail gestehen, dass sie Lady Madonna verloren hatte.
„Ich wollte dir nur Bescheid geben, dass Madonna sicher angekommen ist“, sagte Tante Abigail.
Violet machte den Mund auf, doch sie brachte kein Wort heraus.
„Bist du noch dran?“, fragte Tante Abigail.
Violet nickte, aber das konnte ihre Tante natürlich nicht sehen.
„Violet?“ Tante Abigail klang besorgt. „Alles klar bei dir?“
„Nein.“ Violets Lippen bebten. „Lady Madonna ist weg.“
„Ich weiß.“ Tante Abigail sprach jetzt ganz langsam und betonte dabei jede einzelne Silbe. „Deshalb ruf ich ja an. Madonna ist hier bei uns in Goirenafarigaigloch.“
„Hallihallo, hallöchen!“ Kein Zweifel, das war die Stimme des Wellensittichs, die da im Hintergrund erklang.
„Wie …?“, stammelte Violet. „Ich meine, das geht doch gar nicht.“
Das Dorf, in dem Onkel Alistair wohnte, war Hunderte von Kilometern entfernt. Diese Strecke konnte der kleine Wellensittich unmöglich in einem halben Tag und einer Nacht zurückgelegt haben.
„Sie ist natürlich nicht geflogen, sondern hat einen Zug genommen“, erklärte Tante Abigail, als hätte Violet den Gedanken laut ausgesprochen. „Mein kluges Vögelchen.“
„Na klar, na klar!“, flötete Lady Madonna geschmeichelt.
„Aber warum ist sie …?“ Wieder verstummte Violet mitten im Satz. Ihr Kopf summte und brummte.
„Ich muss jetzt auflegen, die Suppe steht schon auf dem Tisch“, sagte Tante Abigail. „Ich wollte nur, dass ihr euch keine Sorgen macht. Das Mittel schicke ich dir zu. Onkel Alistair lässt übrigens herzlichste Grüße ausrichten.“
„Guten Appetit!“, trillerte Lady Madonna im Hintergrund.
„Hast du die Sonderbaren Gräser eigentlich schon gelernt?“, erkundigte sich Tante Abigail.
„Äh … noch nicht ganz.“
„Dann wird es aber höchste Zeit“, sagte ihre Tante streng und legte auf.
Als sie am Nachmittag an den Strand gingen, war die Bucht wieder voller Müll, aber das konnte ihrer guten Laune überhaupt nichts anhaben. Hauptsache, Lady Madonna ging es gut.
Den Abfall konnte man schließlich wegräumen.
„Das ist ja ein Ding, dass dieser Wellensittich den richtigen Zug nach Schottland gefunden hat“, sagte Grandpa Anthony. „Also echt!“
Granny Kate lächelte nur. Sie wusste, dass Violet mit Blumen zaubern konnte und dass es in Tante Abigails Laden nicht immer mit rechten Dingen zuging. Aber zum Glück nahm die Grandma das einfach so hin und stellte keine Fragen. Violet hätte ihr ja auch nichts erzählen dürfen.
„Auf jeden Fall musst du endlich mit Joshua reden“, wechselte Granny Kate das Thema. „So kann es ja nicht mehr weitergehen. Dieser Müll kommt eindeutig von der Insel und Joshua ist dafür verantwortlich.“ Sie hob einen Plastikteller mit einem rot-grünen Rand hoch.
„Du hast recht“, sagte Grandpa Anthony. „Ich hab das in der Aufregung um Lady Madonna ganz vergessen. Aber heute Abend geh ich zu ihm rüber.“
Zum Abendbrot hatte Miss Rosy Käsefondue gemacht. Das Essen war sehr lustig – jeder, der sein Brot verlor, musste ein Pfand abgeben und hinterher etwas Verrücktes tun, um es wiederzubekommen.
Jack marschierte auf ihren Händen rund um den Tisch und Grandma Kate musste fünf Minuten lang rückwärts sprechen und so. Als sie den Tisch abräumten, war es halb zehn.
„Ein bisschen spät, um jetzt noch bei Joshua zu klingeln“, sagte der Grandpa.
„Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es nun auch nicht mehr an“, erklärte die Granny. „Wir fahren einfach morgen noch mal auf die Insel, dann knöpfen wir ihn uns dort vor.“
Danach spülten sie gemeinsam das Geschirr und dann ging es ins Bett.
Bevor Violet einschlief, dachte sie noch an das Telefonat mit Tante Abigail und an etwas komisches, was die Tante gesagt hatte. Aber sie kam nicht darauf, was es war. Weil sie todmüde war. Sie hatte ja in der Nacht zuvor fast kein Auge zugetan.
Sie träumte gerade von dem kleinen Seehund, der einen bunten Ball auf der Nase balancierte, als sie ein lauter Knall aus dem Schlaf riss.