Ein mir sehr lieber, bereits verstorbener Dichter wies mich einmal auf einen der dezentesten Cameos der Weltliteratur hin: In Buch vier der Odyssee tritt Helena von Troja mit einem Mal »aus der hohen duftenden Kammer«. Sie, die schönste Frau der Weltgeschichte, wird an dieser Stelle nicht näher beschrieben. Vielleicht ist ihre Schönheit ja nebensächlich und wird es immer sein. Wir werden es nie erfahren.

Aber Ihnen würde ich das nie antun. Ich möchte Sie nun bekannt machen mit:

Mir, Freddy Pelu.

 

Als Arthur Weniger im STAGGER LEE gefragt wurde, wie es ist, schwul zu sein, war ich auf einer Fakultätsparty des Down East College. Die Gastgeberin war eine – im wahrsten Sinne des Wortes – Titanin des Deutschen Fachbereichs: eine weiße Frau, wie ein Leuchtturm über die Party erhaben, mit einer frisierten Perücke und dicken Brillengläsern. Als ich ankam, fragte sie mich etwas auf Deutsch, und mir kam sofort Arthur Weniger in den Sinn. Ich war sprachlos.

Ich fand, wonach ich suchte, und mit einem Glas in der Hand trat ich auf die kalte Veranda, wo die Graduierten um eine Laterne standen und miteinander flirteten und tranken. Sie brachen in schallendes Gelächter aus, und ich wärmte mich an ihrem Feuer. Für einen Moment drängte sich mir eine Erinnerung an Straßenbahngeräusche und Lavendel auf, an meine rote Brille, die ich mit dem Saum meines Hemdes säuberte. Ki-ki-koo. Als ich mich umdrehte, um zu gehen, sah ich ein anderes Feuer neben mir brennen: eine Zigarette. An ihr hielt sich eine Person fest, ein Mann mit einer Fliege, sein Schmunzeln gerahmt von langen, schwarzen Haaren. Manche Menschen haben das Glück, dass ein seltsames Merkmal sie mit einer besonderen Schönheit auszeichnet, wie ein Daumenabdruck beim Töpfern; bei diesem Mann waren es seine Ohren, die jungenhaft von seinem markanten Gesicht abstanden. »Hast mich nicht gesehen, was?«, fragte der Mann. An seiner undeutlichen Aussprache erkannte ich einen kalifornischen Landsmann.

»Nein, nein, bitte entschuldige«, sagte ich. »Gehörst du zur Fakultät?«

»Soziologie. Jason Fidelino.« Er hatte in etwa meine Größe, und ich ging davon aus, er sei in meinem Alter.

»Englisch, Highschool. Freddy Pelu aus San Francisco.« Ich streckte meine Hand aus, doch der Mann schüttelte sie nicht. Er schüttelte bloß ablehnend den Kopf.

»Oh.« Ich fragte mich, welche akademische Etikette es war, die ich noch nicht kannte.

»Du kannst nichts dafür«, erklärte Jason, während er sein Getränk abstellte, seine Zigarette in einer kleinen Blechdose löschte und diese in seiner Jacketttasche verschwinden ließ. »Ich bin Teil eines Experiments. Deswegen musste ich auch rausgehen. Ich habe getrunken, und dann ist es zu riskant, unter Menschen zu sein.«

Erleichterung. »Also, das ist wohl das Faszinierendste, was ich diese Woche gehört habe.«

»Es ist eigentlich eher ein Wettkampf mit meinen Graduierten.« Dr. Jason Fidelino nahm eine weitere kleine Blechdose hervor und hielt sie mir hin: Minzpastillen. Ich tat es dem Soziologen nach und nahm eine, bevor er die Dose wieder in der anderen Tasche verschwinden ließ. Ich fragte mich, wie er es schaffte, die kleinen Blechdosen nicht zu verwechseln. »Mein Kurs hat eine Theorie zu menschlichem, also physischem Kontakt aufgestellt. Um sie zu testen, haben wir uns darauf geeinigt, dass wir alle probieren, ohne jegliche menschliche Berührung auszukommen. Keine Umarmungen, keine Küsse, kein Kind auf dem Schoß. Und kein Händeschütteln. Verzeihung.« Er verbeugte sich förmlich. Wieder fielen mir seine Ohren auf, die mich an Griffe an einer kunstvoll gefertigten Amphore erinnerten.

»Für wie lange?« Meine Zunge stolperte nervös über die Minzpastille.

»So lange wie möglich. Die meisten haben innerhalb der ersten Wochen abgebrochen. Sie sind schließlich noch jung. Ein paar von ihnen siehst du hier trinken und flirten.«

»Sechs Monate«, wiederholte ich so reflexartig, wie ich mich bei den Minzpastillen bedient hatte. »Also hast du seit sechs Monaten keine andere Person berührt! Hast du etwas dabei gelernt?«

Jason musterte mich einen Moment lang mit einem kleinen Grinsen im Gesicht. »Ich werde dir etwas erzählen. Vor fünf Jahren hatte ich einen Herzinfarkt.«

»Mein Gott!«

»Ich weiß. Ich war erst fünfundzwanzig.« Geschockt stellte ich fest, dass er viel jünger war als ich. Er fuhr fort: »Mein Arzt meinte, dass mein Herz nicht weiter belastet werden dürfe, also musste ich mich entscheiden. Für die Liebe. Oder für Käse.«

»Das waren die Auswahlmöglichkeiten? Liebe oder Käse?«

»Das waren die Auswahlmöglichkeiten. Und Freddy«, sagte Jason und lächelte dabei reumütig, »ich entschied mich für Käse.« Wir konnten hören, wie die Rosskastanien auf das Dach fielen. »Ich glaube, ich bin eine dieser Personen, die nicht ohne leben können. Vielleicht geht es Hari ja genauso.«

»Es muss doch alle möglichen Versuchungen geben.«

»Ich gehe gern im kalten Wasser schwimmen«, sagte Jason. »Das hilft mir bei Versuchungen. Und wenn man im Nordosten asiatisch gelesen wird und schwul ist, nun ja, dann bleibt man eh Single.«

»Und Hari?«

Ich ertappte mich dabei, wie ich einem Hobbydetektiv gleich noch einmal die Szenen des Abends rekapitulierte, und mir fiel ein wichtiger Hinweis auf, den ich zuvor übersehen hatte. »Ist Hari hier auf dieser Party?«

»Irgendwo ja, wenn er nicht gegangen ist. Wie ich vorhin meinte, es ist riskant, unter Menschen zu sein. Plus die Getränke!« Er nahm sein Getränk wieder in die Hand, fingerte die Olive heraus und steckte sie sich in den Mund.

»Ich glaube, ich habe ihn ein Mädchen küssen sehen.«

»Hari?«, fragte Jason schockiert.

»Groß, lockige Haare, Brille mit durchsichtigem Rahmen? Er hat im Zimmer mit den Mänteln eine junge Frau geküsst. Ich habe mir nichts dabei gedacht.«

»Das ist er!«, sagte Jason und starrte dann zu Boden. »Oh Gott.«

»Was ist los?«, fragte ich ihn. »Du hast gewonnen.«

Er sah wieder herüber zu seinen Studierenden. Die Laterne beleuchtete jede Bewegung seiner markanten Gesichtszüge: die Kurve seiner Wangen, die Vertiefung unter seiner Lippe. Als stünde eine ganze Reihe gutaussehender, junger Männer neben mir. Ich dachte daran, wie lange ich schon nicht mehr berührt worden war.

»Zugegeben, es ist etwas verwirrend«, sagte er. »Ich habe eine gewisse … Entschlossenheit erlangt. Schwimmen im kalten Wasser und so.«

Ich fragte ihn, welcher Preis ihm nun zustehe.

»Ein Laib Käse«, Jason lächelte ein wenig. Die Studierenden lachten erneut auf, und ich nahm einen Schluck Wein.

Ich fragte ihn: »Würdest du es gerne ausprobieren?«

»Was genau?«

Ich lächelte bloß und streckte meine Hand aus. Jason untersuchte sie sorgfältig, als läge eine große Summe Geld vor ihm, nahm sie aber nicht. Stattdessen streckte er seine Handfläche aus und legte sie unter meinem Jackett auf meine Brust. Der Mann schaute ausschließlich auf seine Hand und schien einen tiefen Atemzug zu nehmen. Wir hörten das Geschnatter der Studierenden und das Geräusch von aneinanderklirrenden Gläsern. Dann führte ich meine Hand zur Knopfleiste meines Hemdes und öffnete die obersten Knöpfe; und Jason, der noch immer bloß auf seine Hand starrte, schob den Stoff zur Seite und ließ seine Handfläche auf meiner nackten Haut ruhen. Ich fühlte, wie seine kalten Finger durch meinen Körper wärmer wurden, sah einen Ausdruck schüchterner Begeisterung in seinem Gesicht, spürte meinen eigenen Herzschlag sich in den eines anderen Mannes drängen. Vielleicht waren es die vom Wind herumgewehten Rosskastanien, wie das Klappern eines vorbeifahrenden Pferdewagens, die das Fass zum Überlaufen brachten und Ihren Erzähler auf unerklärliche Weise in Tränen ausbrechen ließen.

Jason nahm seine Hand zurück und schaute zu mir auf. Auch seine Augen waren feucht. Verlegen knöpfte ich mein Hemd zu und versuchte unauffällig, die Tränen zu trocknen. Jason schaute in die Dunkelheit und nahm einen tiefen Atemzug.

»Danke, Freddy«, sagte er in seiner ruhigen, formellen Art. »Ich gehe jetzt zurück zur Party.«

»Und nehme meinen Käse entgegen«, sagte er. Wie er so unbeweglich dastand, war Jasons Gesicht nichts als Schatten und Laternenlicht. Dann tropfte mein Name von seinen Lippen: »Freddy!« Der Ausdruck auf seinem Gesicht war einer der Panik. Ruhig kam er auf mich zu und öffnete seinen Mund, als wolle er zu sprechen beginnen. Er schloss ihn wieder und schluckte. Ich fragte ihn, was los sei, doch er schüttelte nur seinen Kopf und sagte: »Nichts.«

Fast hätte er etwas anderes gesagt. Doch nach diesen Worten verschwand er im Haus der Titanin, und ich stand einfach da und spürte den Schrecken des Unversuchten. Was hatte er sagen wollen? Und wenn er es gesagt hätte, was wäre dann passiert? Wie hätte ich mich gefühlt?

Unsicher.

 

Am nächsten Morgen, während Arthur Weniger auf der Gillespie-Plantage Gwen lauschte, war ich längst nicht mehr auf der »Konferenz für Amerikanische Lehrkräfte«, um in Kleingruppen Formen des Erzählens zu hinterfragen; stattdessen hinterfragte ich meine eigenen Formen des Erzählens. Ich verließ die Geschichte sogar komplett und fand mich in einem Bus auf dem Weg runter nach Down East wieder (wie man im Pine Tree State sagt). Fast einen Monat hatte ich im Hotel verbracht und nie mehr als eine Möwe auf ihrem Weg zum Hafen beobachtet. Doch als der Bus abfuhr, fing ich endlich an, die Landschaft des Nordostens wirklich zu sehen: Pyramiden aus Kanonenkugeln, Bonbons in einem Süßwarenladen gleich, die Villen im Stil griechischer Tempel im Wechsel mit ausgebrannten, verlassenen Fabriken, unechte Leuchttürme, in denen

Womöglich habe ich beim Verlassen der Konferenz die gleiche Abenteuerlust verspürt wie Weniger, als er mit einem alten Mann und einem Mops in die Mojave-Wüste fuhr, ein Don Quijote, der sich mit Windparks anlegt und einen Abfalleimer als Helm aufsetzt. Ich wurde vom einen zum nächsten Bus geführt – wie eine Geisel, die vorsätzlich über ihren Aufenthaltsort im Ungewissen gelassen wird –, und schließlich stieg ich an meinem am Wasser gelegenen Zielort aus: Rockland Ferry. Dieser Kontinent ist so wundersam und wechselhaft, dass der Umstand eines im Spätherbst eingestellten Fährdienstes einem Kalifornier wie mir gar nicht in den Sinn gekommen wäre.

Ich lächelte über das Schild an der nahe gelegenen (und mit Brettern vernagelten) Hummerbude und

Saisonbedingt geschlossen.

Warum?

Darum!

»Heute keine Feen.«

Die Stimme kam von hinter mir.

»Wie war das?«

Eine Frau mittleren Alters in leuchtend gelber Schlechtwetterkleidung starrte mich vom Ende des Docks an. In ihrem Haar, das wie eine Pusteblume aussah, steckte eine Lesebrille. Sie verhielt sich, als hätte sie schon seit Tagen auf mich gewartet. »Heute keine Feen«, sagte sie. »Aber ich bring’ Sie.« Sie trug eine Perlenkette, an der ein geschnitzter Blauwal hing.

»Keine Fähren«, wiederholte ich, während ich in meinem Kopf ihren ersten Satz korrigierte, dann antwortete ich ihr auf den zweiten: »Aber Sie wissen doch gar nicht, wohin ich will.«

Die Frau schaute an mir herunter. »Sie wollen nach Valonica, stimmt’s?«

»Ja.«

»Ich bring’ Sie.«

Nach dem Preis gefragt, erwähnte die Frau eine Summe, die für die meisten Highschool-Lehrkräfte ungewohnt hoch erscheinen dürfte. Sie sagte mir, ihr Name sei Captain Eliot Morison vom Gay Head (dem Tribe der Wampanoag). Nein, betonte sie, nicht Elliott Morrison oder Elliot Morisson oder

»Oh.«

Meer und Himmel ein tiefes Grau. Auf dem Schuppen vor mir zerrte der Wind an den Flaggen: die des Bundesstaates Maine, darauf ein Wappen mit einer Kiefer und einem Elch, das von zwei flirtenden Homosexuellen gehalten wird. Die US-amerikanische Flagge darüber wirkte weit weniger verspielt: vier Dutzend Eier mit Speck. Ich drehte mich wieder zu der Frau mit Latzhose um.

»Bargeld oder Scheck«, sagte sie. »Ein l, ein t, ein r, ein s

Nachdem ich gezahlt hatte, lächelte mich Captain Morison zum letzten Mal an diesem Tag an, und wir stürzten uns blindlings wie das Schicksal in den einsamen Penobscot-Fluss in Richtung Valonica, wo (laut der Broschüre auf der Fähre), »die ersten Sonnenstrahlen des Tages amerikanischen Boden berühren«.

 

Auf der kleinen Insel Valonica gelangte ich zu einem Saltbox-House aus der Kolonialzeit namens PENSION ZUR ÄLTESTEN LEBENDEN WALFÄNGERWITWE und klopfte an die Tür. Sie öffnete sich, und eine ältere, weiße Frau kam zum Vorschein, ihre Augen tief in den rosafarbenen, finsteren Schluchten ihres Gesichts versunken.

»Mrs. Nicholson?«, fragte ich.

»Jungchen, du sprichst mit der Ältesten Lebenden Walfängerwitwe!«, rief sie. Dabei zitterte sie vor Entrüstung, während sie mit einer Hand einen karierten Schal um ihre Schultern legte.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte ich mit einer kleinen Verbeugung. Selbstverständlich hatte ich keine Ahnung,

»Mein verstorbener Ehemann, Captain Nicholson«, informierte sie mich mit ernster Miene, ihre Augen grau wie Zinnkrüge, die zu Kugeln eingeschmolzen wurden, »war Teil der Crew der John R. Manta. 1927 in New Bedford eingelaufen, das letzte der alten Walfangschiffe New Englands.« Sie schüttelte ihren Kopf, ihr silbernes Haar war ordentlich gescheitelt, nach hinten gekämmt und zu einem Dutt gebunden. »Das Letzte! Danach gab es keine mehr.«

Möwen saßen auf dem Dach und lauschten der Geschichte. Von irgendwoher ertönte die Hafenglocke. Ich lächelte, setzte meine Tasche ab und wollte vorsichtig eine Reihe an Fragen stellen, die mir auf der Seele brannten: »Ich hatte wegen eines Zimmers angerufen –«

»Kommen Sie mir nicht mit der Wanderer!«, unterbrach mich Mrs. Nicholson, und einer ihrer Finger kam aus ihrem Schal hervor und zeigte gen Himmel. »Die Wanderer kam nie zurück! Wir schon.« Der Finger senkte sich. »Ich war bei ihr.«

Die Möwen und ich verloren uns in Geschlechterfragen. »Bei wem?«

»Bei der John R. Manta«, sagte sie nickend. »Sie holten mich auf den Azoren ab, und wir wurden an Bord getraut.« Mrs. Nicholson lächelte verlegen. »Eine Braut im zarten Kindesalter.«

Sie lächelte. »Wissen Sie, junger Mann, Sie erinnern mich an meine große Liebe.«

»Captain Nicholson?«

Sie schien mich zunächst nicht zu hören und starrte auf das bunte Treiben des Herbstlaubs (wie die Puritaner angesichts dieser Natur errötet sein mussten!). Dann wendete sie sich mir zu. »Nein, oh nein«, sagte sie eilig. »Kommen Sie, kommen Sie, Sie lassen ja die ganze Kälte rein …«

Jeden Morgen erwachte ich mit der Morgendämmerung und den Hafenglocken. Wann war der Morgen je mein Freund? In meiner Jugend war es für mich schwer zu ertragen gewesen – das ungemachte Bett, der ungemachte Tag –, aber auf Valonica hatte ich das Gefühl, in der Nacht wäre etwas wie von Zauberhand repariert worden. Etwas veränderte sich – ich veränderte mich. Das war mir schon einmal passiert. Als ich eines Morgens unter einem Himmel in der Farbe Weniger’schen Blaus erwachte, als ich von meinem Ehemann fortging, damit jeder meiner Morgen in diesem Blau erstrahlen würde, als ich auf den Treppenstufen auf Arthur Weniger wartete, nachdem ich die Pläne der Welt für mich verworfen hatte. Und am nächsten Morgen: Sonnenlicht, das durch die Trompetenranke auf das weiße Bett

Auf Valonica gab es kein Blau. Die Landschaft hatte sich umgekehrt: Der Ozean wogte jetzt in schäumenden Wellen am Himmel, und die Oberfläche darunter schien bloß die turbulenten Gedanken des Wetters widerzuspiegeln. Wie lange war das schon so gegangen? Ewig? Hatte sich all das mit mir verändert?

Während meines Aufenthalts bei Mrs. Nicholson ertappte ich mich dabei, wie ich Spaziergänge rund um die kleine Insel unternahm, etwas, das in vierzig Minuten zu schaffen war. Mein Lieblingsplatz war eine kleine, in Stein eingelassene Markierung mit dem Namen des verstorbenen Hummerfischers, seiner Bojennummer, dem Längen- und Breitengrad seines Todes auf See, sowie BRUDER, SEEMANN, EHEMANN, FREUND. Sie gehörte Captain Nicholson. Ich berichtete seiner Witwe davon, die mich anschnauzte, so wie sie mich angeschnauzt hatte, als ich ihren Vornamen wissen oder einen Wal sehen wollte. »Um diese Jahreszeit gibt’s hier keine Wale«, erklärte sie mir, während sie ihre Kabeljausuppe umrührte und das knisternde Feuer wie eine Uhr tickte. Noch unwahrscheinlicher war es, einen Elch zu sehen. Und doch ging ich immer wieder zum Stein ihres Ehemannes und betrachtete die Veränderungen im Wasser, die mir wie Flüsse und Teiche in einer grauen Landschaft unter den schnell vorbeiziehenden grauen Wolken

Dem ähnlich: An einem valonicanischen Nachmittag, ich stand gerade neben besagtem Stein, stieg ein anderes Grau als das des Wassers in einer cremigen Gischt auf, etwas, das seine faltige Haut aufwirbelte, bis es wie eine Fontäne in die Luft schoss.

»Thar she blows! Dort pustet sie!«, schrie ich zu niemandem. »Dort pustet sie!« Und dann begab sich der Wal wieder geräuschvoll in die Tiefe.

Erzählen Sie mir keine Märchen. Sprechen Sie nicht von Hoffnung.

Ich blieb bei Mrs. Nicholson und ihren Geschichten und ihrem Haferbrei und ihrer Hummersuppe und erfuhr schließlich, dass ihr Vorname Adele war. Eines Nachts, als ich über die Insel wanderte und vom Geist der Freiheit (oder den Weingeistern in Adeles Speisekammer) ergriffen wurde, warf ich mein Telefon weit hinaus ins Meer, damit es Adeles Ehemann in dessen Grab folge. Die Brandung gab keinen Mucks von sich. Nun war ich wahrlich verloren. Hier blieb ich, hielt Zwiesprache mit den Papageientauchern, arbeitete an einem Buch, über das ich schon länger nachdachte, für das ich aber nie den Mut aufgebracht hatte, es tatsächlich zu schreiben, ein Buch über eine Reise um die Welt,

Eines Tages beendete ich die Arbeit in aller Stille. Ich lächelte und sagte zu mir selbst: Champagner!

 

Lassen Sie uns zu Arthur Weniger zurückkehren.

Wir sind nun an einem Punkt der Geschichte angekommen, den man getrost »Dolly Disparue« nennen könnte. Nachdem sie einen Hurrikan überlebt hat, fährt Rosina, die abgesehen von Weniger und seinen spärlichen Habseligkeiten (einschließlich des T-Shirts und der Shorts, die er trägt) von aller Fracht befreit ist, von Savannah aus Richtung Norden, und eine drückende Trübsal macht sich im Wagen breit. Die Kilometer ziehen vorbei und mit ihnen geben sich die lokalen Radiosender die Klinke in die Hand. Ohne Dolly herrscht Leere. Weniger füllt sie mit Essen – von der Bar des mit kristallenen Kronleuchtern geschmückten Childress House, wo ein weißer Barkeeper mit gezupften Augenbrauen Weniger bedeutungsvolle Blicke zuwirft, während er die mit Shrimps verfeinerte Polenta serviert, bis zum heruntergekommenen Rhoda’s Famous, erbaut aus einer Baracke, in dem Weniger mit der alten Rhoda (schwarzes Wickeltuch und Perlen) zusammensitzt, während die Frau die Süßkartoffelkuchen füllt und ihm von alten Zeiten erzählt, als dieser Ort noch ein Juke Joint war, und ihre Enkelin (rote Braids, zwei Goldzähne) müde Low Country Boil zubereitet und »Nicht jetzt, Mama!« warnt, als Rhoda versucht, ihre Aufmerksamkeit mit der Fliegenklatsche zu erhaschen. »Nicht jetzt, Mama!« Es gibt keinen Hund, der Arthur Weniger mit dem Schwanz wedelnd begrüßt, sobald er in den Van zurückkommt, oder der unablässig auf den

 

Heute Abend ist Super-Bibermond. Zumindest ist es das, was der Radiosender lautstark in dem Buchladen/Donut-Shop in Rocky Mount, North Carolina, verkündet, wo Arthur Weniger an einem Tisch sitzt und ein Gesicht wie H.H.H. Mandern macht. Ob er bereits mit Dolly und seiner Tochter wieder vereint ist? Weniger hat vier Donuts vor sich: Speck, Speck, Speck und Candycorn; er versucht sich zwischen diesen überschaubaren Möglichkeiten zu entscheiden, als er hört, wie die Worte Super-Bibermond laut durch den Raum schallen. Er wendet sich an die Donut-Verkäuferin hinter der Theke. »Entschuldigen Sie, was hat er da gerade gesagt?«

Die Verkäuferin ist eine junge Frau, deren falsche Wimpern wie Turteltauben in einer Laube flattern. »Er hat Super-Bibermond gesagt.«

»Ich … Ich dachte nur, ich hätte mich verhört.« Er beginnt, wie ein Vollidiot zu kichern.

»Ein Supermond ist ein Vollmond, wenn der Mond auf seiner Umlaufbahn der Erde am nächsten steht«, erklärt die junge Frau ernst. »Ich belege einen Astronomie-Kurs.«

»Und wo kommt der Teil mit dem Biber dazu?«

»Das ist der Vollmond im November. Im Januar heißt er Wolfsmond. Meinen Lieblingsnamen hat er im August«,

»Könnte ich diesen Candycorn-Donut umtauschen? Mir war nicht klar –«

»Kein Umtausch, keine Rücknahme, Sir.«

»Oh.«

»Genießen Sie Ihren Super-Bibermond.«

Als er auf dem Weg zu Rosina den Parkplatz überquert, kommt ihm die alte Navajo-Frau in den Sinn. Dort, am steinigen Abhang: Wasser, das aus den Felsen tritt.

 

Er sieht nach, ob er Nachrichten bekommen hat, und findet heraus, dass er (der unaufmerksame Juror) das entscheidende Preisvotum um einen Tag verpasst hat. Er erfährt es nicht von Finley Dwyer, der allem Anschein nach nicht erreichbar ist, sondern von Freebie.

»Aber kann ich denn mein Votum nicht noch nachträglich abgeben?«, sagt Weniger, während er panisch versucht, Telefongespräch, Navigation und Schaltgetriebe unter einen Hut zu bringen. »Ich war gestern verhindert. Ich hatte doch Bescheid gegeben.«

»Darüber haben wir gesprochen! Ich habe mich für dich eingesetzt! Aber Finley meinte, wenn wir anfangen, die Regeln auszulegen, wie es uns passt, wo würden wir da hinkommen?«

»Aber gestern war doch die letzte Sitzung. Am Ende lassen sich die Regeln doch immer auslegen, wie es einem passt.«

»Bitte was?«

»Falls es hilft, ich habe mich enthalten.«

»Danke, Freebie.« Weniger reibt sich die Augen. Da geht es hin, das schöne Geld. Na ja, der jüngste Scheck wird die dadurch entstandene Finanzlücke ausgleichen.

Der Rat hat beschlossen, dich für immer aus Ambrogio zu verbannen.

»Eigentlich hat das einiges vereinfacht«, sagt Freebie. »Finley war für Natasha Ashatan, aber sie ist ja Lyrikerin. Vivian wollte Michael Saint John, aber sie hatte nicht auf dem Schirm, dass er letztes Jahr gewonnen hat. Edgar hat seine Stimme für Overman abgegeben, was erst mal geklärt werden musste.«

»Ich dachte, so schreibt man nicht über queere Lebensrealitäten?«

»Das musste erst mal geklärt werden.«

Ein Lastwagen hupt, und Weniger realisiert, dass er auf zwei Spuren fährt. »Freebie, ehrlich gesagt muss ich los –«

»Wir haben alles noch einmal über den Haufen geworfen. Finley hat bekommen, was er von Anfang an im Sinn hatte. Wie auch immer, das war der einzige Kompromiss, auf den wir uns einigen konnten. Ich kann dir den Gewinner aber nicht verraten, Arthur.«

»Im Ernst, Freebie, ich –«

»Wir geben es am Montag bekannt!«

»Schön. Ich muss los –«

»Wir sehen uns dann in New York!«, beendet Freebie das Gespräch. Offenbar hat er vergessen, dass Weniger nicht länger Teil der Jury ist.

Weniger atmet tief durch und schüttelt diese neue Scham

 

Als er die Grenze von Carolina zu Virginia passiert – seltsam, wie stark er das spürt –, verwandelt sich die Landschaft in alte, vertraute Formen, als wäre der Fluch eines Königreichs aufgehoben: Die zerklüftete Baumlinie zerfällt in Hornstrauch, Tulpen und roten Ahorn, die Insekten (Raststättenärgernisse seit Palm Springs) verwandeln sich von an den Urinalen entlangkriechenden Aliens zu harmlosen, langbeinigen Schneidern, das Gras des Highways nimmt ein gewöhnliches Grün an, der Himmel ein prosaisches Grau. Sogar die Luft verliert ihren Duft, die exotischen Partikel dieser langen Wochen verschwinden und lassen den bloßen Asphalt und verbrannte Blätter zurück, und jetzt, da er über die Brücke fährt, kehrt der vertraute Geruch von Schlamm und nassem Stein zurück: der Potomac River. Ein Bann wurde gebrochen, und die Welt um Arthur Weniger verliert etwas von ihrem Schrecken und Zauber und wird wieder zur schlichten Alltäglichkeit – das vertraute Gefühl, nach Hause zu kommen.

Er fährt durch die mit Gaslaternen beleuchtete Kolonialstadt Alexandria, wo auf der einen Seite des Highways weißen Gästen die Mahlzeiten von George Washington serviert werden (Hammelfleisch und Süßkartoffeln), während auf der anderen Seite Schwarze Familien auf den Stufen von Reihenhäusern sitzen, sich unterhalten und Blechkuchen mit

Wenn Sie aus dem Fenster auf der rechten Seite blicken, liebe Fahrgäste, sehen Sie ebenjenen Ort, an dem Arthur Weniger im Teenageralter drei miserable Sommer lang gekellnert hat: Thee Wayside Inn, das angeblich 1784 gegründet und angeblich vom damaligen Präsidenten George Washington besucht wurde. Weniger war gezwungen, in den kerzenbeleuchteten Räumen Kniebundhosen und Dreispitz zu tragen, die Gäste mit einem »What cheer?« zu begrüßen und die Anrede »Goodman« und »Goodwife« zu verwenden. Während er zwischen den Tischen hin- und herlief, nutzten sich seine Schnallenschuhe ab, und sein Vokabular entwickelte sich zur Mundart des achtzehnten Jahrhunderts zurück. »What cheer, Goody Weniger?«, sagte er zu seiner Schwester Rebecca, worauf diese mit einem »Fuck you« antwortete. Das Leiden unseres Helden hatte ein Ende, als er eines Tages bei der Arbeit erschien und eine Horde Feuerwehrleute einen Haufen nasses schwarzes Holz untersuchte, wo einst das Thee Wayside Inn gestanden hatte. Diese modernen Männer drehten sich zu Weniger in seinen Kniebundhosen und seinem Dreispitz um und sahen dort vielleicht einen jugendlichen Rip Van Winkle vor sich stehen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte seine Demütigung allerdings schon ihre Apotheose erreicht. Man stelle sich einen

Die Hitze des flambierten Puddings, des brennenden Restaurants und der jugendlichen Scham beginnt sich abzukühlen, als Weniger auf der großen Bay Bridge über den Chesapeake fährt. Das Sonnenlicht glitzert auf dem dunklen Wasser, als würde es in den Atlantik eingesogen werden. Segelboote befinden sich auf See, und irgendwo da unten ist ein Ort, zu dem sie ihre Mutter früher mitgenommen hatte, ein Laden am Wasser, in dem Fleischerpapier über den Tisch geworfen, in den ein Eimer mit blauen Krabben hineingetragen und wo dem heranwachsenden Arthur Weniger ein Hammer in die Hand gedrückt wurde, um dem Ruf seines Herzens zu folgen. Er fährt vorbei an den Sumpfgebieten von Ost-Maryland und an kilometerlangem, buschigem Winter-Ackerland und an einer Straßenbaustelle mit einer schwangeren Frau mit langen, gelben Haaren, einem orangefarbenen Baustellenhut und einem STOPP-Schild, die Arthur Weniger volle zehn Minuten lang an Ort und Stelle festhält, wobei sie ihn nicht aus den Augen lässt, bis sie das Schild umdreht, das ihm anzeigt, LANGSAM zu fahren – wofür er ihr dankbar zuwinkt. Kurz stellt er sich ihr Leben vor.

Und schon ist er in Delaware.

Überquert man den südlichsten Teil des Bundesstaates, kommt man – selbstverständlich – am Atlantik an, und die Stadt, die man erreicht, heißt Rehoboth. Mit ihren Salzwasser-Toffees und Karamellbonbons, ihrem kleinen Rummelplatz mit Autoscootern und Zuckerwatte, den Stränden, die von den Gezeiten gereinigt und dann wieder verschmutzt und zweimal am Tag mit Algen bedeckt werden, ähnelt sie den vielen anderen Badeorten. Es gibt Hunderte davon. Der einzige Unterschied ist, dass dieser hier queer ist. Das war nicht immer so: Ursprünglich war er als christlicher Ferienort am Meer geplant. Doch es kam anders. Wer weiß schon, warum? Wer weiß schon, warum die Dinge in den USA vor sich gehen, wie sie es tun?

Wie viele Strandhäuser steht auch dieses auf Stelzen. Weniger geht die Stufen hinauf und klopft an die Tür. Sie öffnet sich, und eine Frau mit Haaren wie eine tiefhängende, silberne Wolke, dünnen Lippen, einer spitzen Nase und einem länglichen Kinn, das an die Wikinger auf dem Wandteppich von Bayeux erinnert, kommt zum Vorschein.

»What cheer, Goodman Weniger?«, fragt seine Schwester. »Du hast dir ja einen Schnäuzer stehen lassen!«

Sie sind in der Küche des kleinen Hauses, dessen Holzvertäfelung mit Fischernetzen und Seesternen verkleidet ist und auf dessen dem Ozean gegenüberliegender Seite die Wände komplett verglast sind, als würde sich ein alter Mann alle Vergnügen versagen außer diesem einen. Weniger sitzt in einem geborgten College-Pullover auf einem Barhocker; Rebecca hackt Zwiebeln. Der Atlantik ihrer Kindheit flirrt durch die Herbstluft.

»Harmlos«, antwortet Weniger.

Sie lächelt, das Dewey-Bier an den Lippen. »Siehst du?« Rebecca trägt einen Jumpsuit, aber dem aus ihrer österlichen Erinnerung nicht sonderlich ähnlich. Dieser hier ist schwarz mit weißen Streifen an der Seite. Sie trage ihn beinahe täglich, hat sie Weniger erzählt. Das Leben ist einfacher geworden.

»Zumindest fast«, warnt er sie. »Rosarot, kahl, alt.«

»Bist du nicht froh, dass du da warst?«

»Er meinte, er vergibt mit. Er vergibt mir!« Er erschaudert vor dieser Unverfrorenheit.

Rebecca wirft die Zwiebeln in die Pfanne. »So was sagen sterbende Menschen eben, Archie. Sie sagen dir, dass sie dich lieben und dass sie dir vergeben. Ich glaube mittlerweile, das steht so im Skript, das sie dir im Krankenhaus austeilen.«

»Den Teil mit der Liebe muss ich wohl überhört haben. Und er war böse wegen etwas, das ich geschrieben habe. Es war wirklich seltsam. Dann hat er mich zu sich eingeladen … also, nicht zu sich, in sein Haus –«

»Nutrition Play.«

»Bitte was?«

»Er ist sauer, weil er in Nutrition Play vorkommt.«

Rebecca sagt nichts dazu. Weniger schaut hinaus auf das Meer und das Durcheinander an Algen und Müll, das von der Flut an die Küste gespült wird.

»Er kam und war charmant und … es ist nicht mal sein eigenes Haus. Er lebt auf Kosten irgendeiner reichen Frau namens Wanda. Wie immer also. Und ich …«, beginnt er und schließt seine Augen vor Scham. »Und ich war der dummen Überzeugung, dass er mir diese Reise finanziell ermöglicht hat.«

»Ach, Archie.«

»Es ist nicht seine Schuld«, erzählt Weniger seiner Schwester und stellt sein Dewey Lager ab (Aufflackern einer davontreibenden Erinnerung). »Ich hatte es mir in den Kopf gesetzt, dass er es war, der mich dorthin gebracht hat. Dass er reich geworden wäre und mit diesem Geld jetzt um sich schmeißen würde … Selbstverständlich hat er genau das nicht getan. Er hat es bloß in der Zeitung gelesen. Nein, eigentlich hat Wanda es in der Zeitung gelesen. Er hängt sich an irgendeine Frau, um ein abgesichertes Leben zu führen, und erzählt Lügen und kommt damit durch und …« Er verliert sich, schweift ab und starrt auf etwas über dem Wasser.

»Archie?«

»Ich habe diesen ganzen Weg auf mich genommen, weil ich meinem Vater etwas sagen wollte, und habe dann begriffen, dass nicht er es ist, dem ich das erzählen muss.«

Rebecca schweigt.

»Es ist ganz einfach. Bloß: ›Ich will nicht so sein wie du.‹«

»Ach, Archie.«

»Nein, bist du nicht.«

»Die Arroganz. Das Robert-hafte. Vielleicht ist es das Einzige, was ich kenne. Zumindest ist es das, was Freddy denkt.«

»Das ist doch Quatsch, Archie. Das ist Unsinn.«

Ein Nachtvogel singt: Ki-ki-koo. Ki-ki-koo.

Weniger reibt sich die Augen, kichert und fragt. »Was ist mit dir? Klingelst du noch immer nach der Magd?«

Ein Lächeln. »Ach, ich bin so froh, dass du fragst. Ich habe sie gefeuert.«

»Es ist so schwer, gutes Personal zu bekommen.«

»Stattdessen habe ich jetzt so eine Art … Schauer. Immer noch sehr damenhaft. Als wäre ich eine gutbetuchte Witwe, und du würdest mir vorschlagen, den Bus zu nehmen. Dann fange ich an …« Rebecca schließt die Augen, hebt die Hände und erschauert angewidert. »Eine Hommage an Maggie Smith.«

»Heißt das, deine Angststörung ist besser geworden?«

»Meine Ärztin kann es nicht genau sagen. Niemand weiß es. Ich bin ein medizinisches Wunder. Ich glaube, meine Ängste sind jetzt mittleren Alters und werden mit mir zusammen älter.«

»Solange du dabei damenhaft bleibst.«

Eine Geste der Ungeduld. »Ach ja! Ich denke einfach, so bin ich jetzt eben. Deine Freundin Zohra meint, das sei der Preis dafür, dass ich in einem puritanischen Land geschieden und glücklich bin. In einer 1980er-Comedy-Version meines Lebens würde Steve Martin den Pilger spielen, der, ähm, von einer Hexe verflucht wurde oder so, und er reist durch die Zeit und landet ganz, ganz klein geschrumpft in

Weniger zieht die Augenbrauen hoch. »Klingt, als wärst du da an etwas ganz Heißem dran.«

»Sozusagen!« Sie hebt wieder ihre Hände und erschauert, und sie beide lachen über diese schauerliche Sache, die ihr da passiert. »Ach! Ich habe deine Post.« Er erinnert sich, dass er seine Post hierher hat schicken lassen, und findet neben einem Haufen Rechnungen ein altmodisches Telegramm mit einer simplen Mitteilung: Lieber Prudent: Hab Dank für die rasche Rückgabe meiner liebsten Dolly. Ich hoffe, du findest, wonach du suchst. Parley.

»Was ist das?«, fragt Rebecca.

Er fängt an, von einem Mops und einer Pfeife und einem Camper zu erzählen –

»Nein, in deiner Hand, Archie.« Sie deutet auf seine rechte Hand, in der er einen Stift hält, den er – vielleicht aus einer fast reflexhaften Reaktion auf die Gegenwart von Rechnungen – aus der Brusttasche seines Sakkos genommen hat. »Ist das der von Mom?«

»Ja.«

Sie runzelt die Stirn. »Warte mal, hast du den nach der Beerdigung gestohlen?«

»Du wirst dich nicht mehr daran erinnern, aber wir haben darüber gesprochen«, erklärt er ihr ruhig. »Er steckte fest. Also die Kappe steckte fest, vielleicht war die Tinte ausgelaufen und ist dann getrocknet, ich weiß es nicht. Du meintest, ich solle ihn einfach nehmen.«

»Das klingt nicht nach mir.«

»Nun«, sagt er, »ich habe ihn mitgenommen. Und die

Rebecca fragt, wer es geschafft habe.

Weniger beschreibt, wie er eines Morgens beim Telefonieren nach einem Stift fragte und ihm der seiner Mutter gereicht wurde, von dem auf wundersame Weise die Kappe entfernt worden war. Einfach so, der Stift seiner Mutter. Als ob nichts wäre. »Ausgerechnet Freddy.«

Es stimmt, ich war’s.

»Das Schwert im Stein«, sagt sie einfach so.

Pause. »Ja, ich glaube schon«, sagt er. »Das Schwert im Stein. Was gibt es zum Abendessen?«

Es gibt natürlich Crab Cakes. Echte Delaware’sche Crab Cakes mit Mangosalat und Curry-Dressing. Ein Gericht ihrer Mutter, das sie immer dann zubereitet hat, wenn sie sich den Luxus von Krabbenfleisch gönnte – zum Geburtstag oder wenn die Kinder zu Besuch kamen –, und dessen jedes Mal, auch jetzt, mit feierlicher Ehrfurcht gedacht wird. Auch wenn sie am Meer aufgewachsen sind, haben sie kaum davon gegessen; ihre Mutter wuchs in Georgia auf, und arm dazu. Einen ganzen Fisch, Venus- oder Miesmuscheln zu kochen schien ihr genauso bizarr wie ihren Eltern Sushi. Abenteuer sind eben nicht für jeden etwas. Nach dem

Weniger trägt seinen Poncho. Rebecca hat eine Decke um sich gewickelt und die kleinen Fläschchen aus ihrer Minibar mitgebracht. Sie entschuldigt sich, dass sie nicht bei seiner Veranstaltung am nächsten Morgen dabei sein kann. »Ich habe schon eines der Plakate gesehen und …« Sie lacht.

»Oh nein.«

»Es ist nicht dein Foto, Archie!«

»Das passiert ständig!«

Sie lachen und laufen, bis ihnen der Weg von Felsen versperrt wird, dann kehren sie um. Jetzt haben sie Sicht auf die Strandhäuser, die meisten leerstehend und gegen den Wind abgeschottet, aber ein paar sind erleuchtet, obwohl Nebensaison ist. Aus einem kommen Partygeräusche, Rebecca sagt, das seien ihre lesbischen Freundinnen. Sie könnten hineingehen, wenn er feiern wolle, aber Weniger ist dagegen. Er sagt, er brauche am Morgen einen klaren Kopf für die Lesereise – noch eine Etappe, und er hat seine Schulden beglichen! Seine Vortragsreise. Man meint die Gravitas förmlich in seiner Stimme zu hören. Aber Rebecca fragt nicht weiter nach.

»Wie läuft es mit Freddy?«

Weniger nimmt einen tiefen Atemzug und schließt seine Augen. »Bee, er ist auf eine Insel vor der Küste Maines geflohen. Für irgendein Projekt, von dem ich nichts weiß. Er meinte, etwas müsse sich bei uns ändern.«

»Bei uns?«

»Zwischen uns.« Romeo und Julia und Robert. »Aber er hat mir nicht gesagt, was genau.«

»Der gleiche Typ, der einmal um die Welt –«

»Liebst du ihn noch?«

»Klar tue ich das, Bee! Aber er hat sich verändert.«

»Hast du dich auch verändert, Archie?«, fragt sie.

»Ich möchte mich nicht verändern, Bee! Ich bin in meinen Fünfzigern«, sagt er entschlossen. »Ich habe mich genug verändert.«

Der Mond ist noch nicht aufgegangen, aber die Sterne sind schon zu sehen, und die Welt, die diesen Delawariern vermutlich gewöhnlich oder sogar hässlich vorkommt – die Berge an Seetang und Meeresmüll, der harte, steinige Sand, die Felsen, von denen der Vogelkot wie Kerzenwachs herunterläuft, der Geruch nach Verfaultem und Leben, die brechenden Wellen, die wie Applaus klingen, und überall, überall, versteckt oder kriecht oder schwimmt unaufhaltsam das Leben – diese Welt ist für alle anderen (also mich) außergewöhnlich, aberprächtig, ausgefallen, andersartig. Irgendwo im Wasser lauern lauschend Fische, angeordnet wie magische Dolche im Dunkeln.

»Zohra und ich haben nach der Scheidung viel Zeit miteinander verbracht«, sagt seine Schwester und holt ihr Handy hervor. »Sie hat etwas Ähnliches durchgemacht, weißt du. Ich lese dir mal vor, was sie mir geschickt hat. Ich habe es gleich hier. Ich habe so etwas in der Art gesagt wie du gerade, dass ich nicht möchte, dass sich alles verändert, dass ich nur diese eine Sache ändern wollte. Meine Ehe. Zohra meinte« – und Rebecca räuspert sich, bevor sie den britischen Akzent von Zorah nachahmt –, »›Scheiß drauf. Das bekommst du aber nicht, Rebecca. Du dekorierst hier nicht gerade dein Haus neu, das Haus steht verdammt nochmal in Flammen. Und du packst zusammen,

Rebecca schaut mit einem Lächeln von ihrem Handy auf. Als sie lacht, brechen die Wellen in tosenden Applaus aus.

Aus dem Haus der lesbischen Freundinnen sind Geräusche zu hören, und Rebecca schaut sich um. Menschen sind auf den Veranden und Balkonen entlang der Küste versammelt. Seine Schwester gibt einen johlenden Schrei von sich und zieht dann die kleinen Fläschchen aus ihrer Tasche. Arthur fragt, was los sei; vielleicht ist die Polizei schon unterwegs, wie schon vor Jahrzehnten, als sich die minderjährigen Wenigers hier an der Küste herumtrieben. Aber seine Schwester hält nur kurz inne, um ihn anzusehen und zu lachen.

»Archie!«, sagt sie mit Entzücken. »Es ist Super-Bibermond!«

 

Hier, heute Abend, sieht er den ganzen Strand entlang US-Amerikaner. Auf ihren Veranden und auf Plastikstühlen am Strand, in Decken oder Überwürfe gewickelt, schauen sie zum Mond hinauf. Im Schoß haben sie Biere und Knabbereien, die sie im Straßenlicht oder in einem Fall sogar im Licht einer Flurlampe essen, die extra zu diesem Zweck in

So wie vielleicht auch ich.

Amerika, wie steht es um deine Ehe? Dein zweihundertfünfzig Jahre altes Versprechen, zusammenzubleiben, in Krankheit und Gesundheit? Erst dreizehn Staaten, dann mehr und mehr, bis das Gelübde fünfzig Mal beteuert worden war. Es ging, wie bei so vielen Ehen, ich weiß, nicht um Liebe. Ich weiß, es hatte steuerliche Gründe, doch schon bald waren alle finanziell so verwickelt, dass ihr nicht nur Schulden, sondern auch Grundstückskäufe und grandiose Zukunftsvisionen miteinander teiltet, und doch standet ihr im Grunde genommen von Anfang an im Wesentlichen im Widerspruch zueinander. Uralter Zwist. Die Trennung, die ihr hattet, tut noch immer weh, nicht wahr? Wer hat am Ende wen betrogen? Ich habe gehört, ihr habt versucht, trocken zu werden. Das war nicht von Dauer, oder? Wie läuft es so, Amerika? Träumt ihr manchmal davon, endlich wieder jeder für sich und unabhängig zu sein? Niemals wieder in den Familienstreit eines anderen involviert sein zu müssen? Niemals wieder auch nur einen Cent zu teilen? Sich niemals wieder mit dem Waffen-Hobby der anderen

»Hurra!«, schreit Bee neben Archie und reckt ihr Rumfläschchen in die Höhe. »Hurra!«

 

»Mache dich auf, werde licht; denn dein Licht kommt« (Jesaja 60:1).

Während seine Schwester noch schläft, erwacht Arthur Weniger, duscht und zieht den Anzug seines Vaters aus dem Kleidersack. Ein Hauch von Naphthalin steigt ihm in die Nase und bringt Weniger zurück in das Haus seiner Großmutter, an irgendeinem beliebigen Feiertag, und dieser Anzug schimmert neben einem Weihnachtsbaum, oder vielleicht schimmert er auch am Abend der Schulaufführung, als sein Vater sich zu ihm herunterbeugte und ihm sagte, er komme später dazu. Thomas hat den kleinen Archie Weniger gespielt, und Weniger selbst wird jetzt die Rolle des Vaters zuteil. Aber er hat keine Wahl – er wirft sein einziges gutes Hemd über, schlüpft in den Anzug und findet, dass er nahezu perfekt sitzt; um die Taille ist er etwas eng, die Ärmel etwas zu kurz (vielleicht ist die Schnürung mangelhaft?). Weniger steht vor dem Badezimmerspiegel seiner Schwester und sieht in einer stereoskopischen Aufnahme: sich selbst heute und seinen Vater vor fünfzig Jahren.

Der Anzug ist so strahlend blau wie nur irgend möglich.

Er packt seine wenigen Sachen zusammen, hinterlässt eine Nachricht an seine Schwester (Good morn, Goody Weniger!) und geht hinaus, um Rosina in Gang zu setzen. Das Licht, das sich am frühen Morgen am Strand zeigt, erinnert

Und so geschieht es: Weniger steckt auf der Straße hinter einem kleinen, roten Auto fest, auf dessen Dach ein Schild mit der Aufschrift FAHRSCHULE die sich darin befindlichen Insassen ankündigt. Auf dieser ganz gewöhnlichen Straße mit den aufgereihten, stählernen Briefkästen, die wie gefiederte Mützen auf ihren Pfosten stehen, fährt dieses Auto so, so, so langsam. Und so, so, so langsam und nahezu nicht wahrnehmbar fährt es im Zickzackkurs über die Spur. Weniger weiß, dass er nicht wirklich hinter dem Auto feststeckt: Es ist die Person am Steuer, die vor ihm eingeklemmt ist und verängstigt auf den riesigen, alten Van schaut, der im Rückspiegel zittert, und die gleichzeitig im Körper eines Teenagers aus Delaware gefangen ist, ein Gefühl, das Arthur Weniger nur allzu gut kennt. Ignoriert er deswegen das blinkende Licht auf seinem eigenen Armaturenbrett?

Sie waren alle schon immer hier, und es war Arthur Weniger, der ihnen den Rücken zugekehrt hat. Das Königreich seiner Kindheit, das er für das College und für Großstädte verließ und dem er nach dem Tod seiner Mutter für immer abschwor, alles weggab oder verkaufte, so dass er später gezwungen war, all das akribisch mit Worten zu rekonstruieren. Gibt es einen Begriff, frage ich mich, für einen staatenlosen Einwohner, geboren in einem Land, das vor langer Zeit verschwunden ist, und der nun ohne Ausweis oder Portfolio lebt?

Pasticcio? Walloon?

Der meistgenutzte Straßenname Amerikas ist Second Street (First wurde meist durch Main ersetzt), und es ist auf besagter Second Street, Ecke Elm Street (keine Ulme in Sicht), als Rosina ihre letzte Kurve fährt. Das Armaturenbrett leuchtet auf, der Motor gibt ein verräterisches Todesröcheln von sich, ein Rucken und Rütteln geht durch ihr ganzes System von der Nasenspitze bis zum Heck, und sie stößt, als Zeichen ihrer Erschöpfung, eine Schwade weißen Rauchs aus dem Auspuff, wie der Vatikan bei der erfolgreichen Suche nach einem neuen Papst. Von diesem Moment an schweigt

DelMarVa High School

Los, Pfeilschwanzkrebse!

Ich schwöre Treue auf den Homo … Von allen Orten auf dieser Welt, an denen man hätte anhalten können.

Doch der Erzengel hat einen Retter geschickt:

»Hey, bist du der alte Archie Weniger?«

Ein kleines, rotes Auto hat neben Rosina angehalten. Das weiße Gesicht eines weißen Mannes grinst ihm vom Beifahrersitz entgegen und winkt unserem Helden zu. Neben ihm sitzt eine rothaarige Teenagerin, die unübersehbar schwanger ist. Der Mann mit seinem buschigen, grauen Haar und seinem Schnäuzer kommt Arthur Weniger nicht bekannt vor, und doch ist da etwas Vertrautes in seinem Lächeln …

Das Schild über dem Fahrzeug der Retter?

Fahrschule.

Lassen Sie uns das Glück von Arthur Weniger genießen, denn es wird nicht lang anhalten: Der Lehrer der Fahrschülerin ist niemand Geringeres als Andrew Pollack, der Quarterback, der sich vor vielen, vielen Jahren über Weniger lustig gemacht hat und scheinbar keine Erinnerung daran

 

»Hallo, mein Herr«, sagt die Frau zwischen den Eingangssäulen, ein Bündel Broschüren in der Hand. Sie hat Sommersprossen und trägt einen scharlachroten Rock und Blazer und eine Brille. Ihre schulterlangen Haare und der Hut mit der breiten Krempe geben ihr das pastorale Aussehen

»Es tut mir leid, dass ich so spät dran bin!«, sagt Weniger ziemlich außer Atem, während er sein einziges sauberes Hemd nicht unwesentlich durchzuschwitzen beginnt. Er nimmt einen tiefen Atemzug und erklärt: »Mein Van hat den Geist aufgegeben, ich musste noch Ersatz finden!«

Das Gesicht von Diakonin Perkins zeigt aufrichtige Sorge. »Oh, was für ein Jammer!«

Sie hat die richtigen Worte gefunden: Jammer (obwohl der Jammer des heutigen Tages ganz woanders liegt). Weniger knöpft den zweiten Knopf seines Hemdes zu, verzieht sein Gesicht zu einem Lächeln, wie er es im Süden gelernt hat, und sagt zu Diakonin Perkins: »Nun, Ma’am, sehe ich so weit in Ordnung aus? Ich hoffe, ich bin nicht zu spät.«

Mit der einen Hand rückt sie ihren Hut zurecht und sagt: »Ich fürchte schon. Die Veranstaltung ist gerade zu Ende. Aber Sie sehen zauberhaft aus, mein Herr.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie können sich Ihr Buch signieren lassen, wenn Sie möchten.« Diakonin Perkins reicht ihm eine Broschüre, die er nimmt, aber nicht liest. »Sind Sie ein Fan von Mr. Weniger?«

»Wie bitte?«

»Arthur Weniger, mein Herr«, erklärt sie ihm mit einem sympathischen Lächeln. »Er ist gerade zum Ende gekommen.«

So wie zwei Flüsse auf einem Campingplatz miteinander kollidieren, bevor sie eins werden, prallen nun zwei Realitäten aufeinander.

»Aber ich bin Arthur Weniger.«

Die beiden schauen einander an, als seien sie verrückt geworden.

Diakonin Perkins steht wie vorübergehend betäubt da, unfähig, etwas zu tun. Also sucht unser Held anderswo nach Antworten und geht einfach durch die offen stehende Tür in die Kirche hinein, deren große Fenster, horizontal geteilt in bernsteinfarbene Glasscheiben, den Raum in topasfarbenes Licht einhüllen (so wie man eine Kuchenform mit Butter bestreicht) und eine Reihe von Menschen in herbstlichem Licht erkennen lässt, die geduldig vor einem Tisch warten, hinter dem Arthur Weniger sowohl einen vertraut aussehenden Mann sieht, der Bücher signiert, als auch, was viel wichtiger ist (und endlich liest Weniger die Broschüre), seinen eigenen Anteil an diesem Irrsinn erkennt. Der Titel:

Ein Sonntag mit Arthur Weniger

Wie erstarrt steht unser Held vor dem Kirchenschiff, eingetaucht in goldenes Licht, und stößt eine Reihe Seufzer aus.

Ohhh!

Er war etwas durcheinander, aber ich habe das geklärt.

Nicht unbedingt das, was ich erwartet habe.

Ohhh!

Als ich Ihr Gesicht gesehen habe, da wusste ich einfach, das ist der Richtige.

Sicher, dass das der Autor war?

Es ist nicht dein Foto, Archie!

Ohhh!

Den anderen Autor, den anderen Arthur Weniger.

Ohhh!

Er erinnert mich an einen Welpen, der sein eigenes Spiegelbild anbellt, bevor er mit einem Jaulen versteht, dass der Eindringling er selbst ist.

»Arthur Weniger, ich werd’ verrückt!«

Unser Protagonist sitzt auf der Rückbank einer schwarzen Limousine auf dem Weg von Dover nach Wilmington, Delaware. Sonnenlicht durchflutet den Innenraum. Neben ihm auf der grauen Lederrückbank sitzt sein zeitweiliger Mitreisender: ein Mann etwa in seinem Alter, mit ansatzweise seiner Statur (kleiner, aber breiter) und mit beinahe seinem Haarausfall. Er trägt einen Schnäuzer, allerdings in der Farbe von Schneeleoparden und nicht im Weniger’schen Fuchsbraun, sowie einen Samtanzug in dunklem, nahezu

»Danke noch mal fürs Mitnehmen«, sagt unser Protagonist.

Arthur Weniger weint fast vor Lachen und winkt ab. »Nein, wirklich, mir tut es leid. Tut mir leid, aber ich finde das so witzig! Es ist witzig, kommen Sie schon.« Er wirkt offenkundig amüsiert über diese Situation und hat angeboten, unseren Helden mitzunehmen und ihn zu der zusammengebrochenen Rosina zu fahren (obwohl nicht er fährt, sondern beide von der Balanquin-Agentur eskortiert werden), um seine Sachen zu holen und ihn dann an einem Bahnhof in Wilmington, Delaware, abzusetzen. Er schaut lächelnd zu unserem Protagonisten rüber. »Arthur Weniger, endlich treffen wir uns.«

»Endlich, ja.«

»Moment!« Das Gesicht des Schwarzen Mannes verzieht sich zu einer Miene spöttischer Entrüstung. »Sie haben für letzte Nacht mein Hotelzimmer storniert, nicht wahr?«

»Oh mein Gott, ja, das habe ich«, sagt der weiße Mann und verbirgt sein Gesicht in den Händen. »Es tut mir so leid.«

»Schämen Sie sich!« Albernes Gelächter: HA-ha-ha. »Einfach mein Hotelzimmer stornieren!«

»Es kam mir einfach nie in den Sinn, dass Balanquin –«

»Nun, offensichtlich stand Ihr Agent die ganze Zeit mit

»Also habe ich Ihnen all diese Angebote weggenommen? Es tut mir so leid.« Unser Protagonist senkt die Hände. »Ich muss einfach fragen. Es ist mir so unangenehm …«

»Raus damit.«

»Hat Sie ein Ensemble aus den Südstaaten angefragt, um Ihre Arbeit auf die Bühne zu bringen?«

»In voller Länge?«

»Scheiße.«

»Sie riefen mich zurück und sagten mir ab. Sie hätten einen Fehler gemacht. Sagen Sie mir nicht … ach Quatsch!« HA-ha-ha.

Unser Protagonist lacht mit: AH-ah-ah.

Klirren und Rütteln signalisieren, dass sie über eine hohe Brücke mit Blick auf einen geraden, glänzenden Wasserweg fahren. Die Brille von Arthur Weniger fliegt auf die Sitzbank, und während er blindlings um seine Füße herumtappt, verschwindet das Bild, das sich unser Protagonist von ihm gemacht hat. Selbstverständlich, denkt er bei sich. Der Samt und die Stimme sind ebenso eine Verkleidung wie ein wolkengrauer Anzug. Tief im Inneren ist er ein unbeholfener Schriftsteller wie jeder andere auch. Ob er auch aus den Niederlanden ist?

In vertrautem Tonfall sagt Arthur Weniger: »Hey, es ist dafür zwar noch ein bisschen zu früh, aber das hier ist schon ein bedeutender Anlass, oder? Ich habe ein paar Fläschchen aus der Minibar mitgenommen –«

Unser Protagonist zückt Rebeccas Rum aus seiner Brusttasche.

»Arthur Weniger! Sieh mal einer an! Okay, geben Sie her,

»Verdammt«, sagt Arthur Weniger. »Ich hasse Southern Comfort! Na ja, wir nehmen es, wie es kommt. Auf Arthur Weniger.«

»Und Arthur Weniger.«

Sie prosten einander zu und lachen – AH-ah-ah; HA-ha-ha –, als würden sie sich über ein großes, gemeinsames Glück freuen.

Die Schatten der Brückenpfeiler ziehen über den Fahrer und Arthur Weniger und Arthur Weniger hinweg. Unser Protagonist versucht ganz ruhig auf seinem Platz zu sitzen, aber während dieses Teils des Gesprächs lässt ihn jede Dehnungsfuge, über die das Auto fährt, wie auf einem Trampolin leicht aufhüpfen.

»Hey, einmal hätten wir uns fast getroffen!«, sagt Arthur Weniger. »Ich war auf der Durchreise in San Francisco, und Silvia Tsai veranstaltete eine Dinnerparty und meinte, Sie seien auch eingeladen. Sie dachte, wir sollten einander endlich mal kennenlernen! Aber Sie sind nicht gekommen.«

»Daran erinnere ich mich nicht.«

»Ich aber – Sie waren gerade dabei, um die Welt zu reisen!«

Unser Protagonist, überrascht von der Tragweite dieser Bemerkung, muss die Tränen wegblinzeln, von denen er nicht weiß, warum sie ihm kommen.

»Ich wurde gefragt, aber ich muss gestehen, das ist nicht so mein Ding.«

»Nun, ich habe zugesagt.«

»Ach, echt? Ich wette, das war ein hartes Stück Arbeit.«

Das Theater im Südosten. Die Reise entlang der Ostküste. Diese verrückte Sancho-Panza-Tour durch den Südwesten. Alles von diesem Mann gestohlen?

Wir überqueren den Chesapeake- und Delaware-Kanal, 1788 in Auftrag gegeben von Benjamin Franklin. Weil er zwei Bundesstaaten miteinander verbindet – Maryland und Delaware –, besteht ein für Geschwister üblicher Zwist mit einer angemessen absurden Lösung, an der bis heute festgehalten wird. Auf der Seite von Chesapeake legt das Boot mit einem Kapitän aus Maryland ab und fährt bis zur Staatengrenze, wo im Fahren ein Kapitän aus Delaware übernimmt, den anderen ausbootet und das Schiff zum Delaware River führt. Eine umgekehrte Kaperung passiert von Osten nach Westen. Dabei sind die beiden Hälften des Kanals so identisch wie Zwillinge.

Mit einem Ruck erreichen sie die andere Seite.

Unser Protagonist sagt: »Ich glaube, ich habe etwas, das Ihnen gehört.« Aus der Innentasche des Anzuges seines Vaters zieht er ein verschlissenes Portemonnaie und aus ihm einen verschlissenen Umschlag. Er starrt einen Moment darauf und händigt ihn dann feierlich seinem verwirrten Schriftstellerkollegen aus. »Ist eine lange Geschichte«, sagt er, während Arthur Weniger ihn öffnet. »Aber in Savannah hat eine Stiftung dem Falschen einen Scheck gegeben.« Unser Protagonist kann sein Seufzen kaum unterdrücken, während er denkt: Es tut mir leid, Freddy. Ich habe alles weggegeben.

Unser Protagonist senkt demütig sein Haupt. »Mittlerweile bin ich mir sicher, dass sie es dem falschen Arthur Weniger gegeben haben.«

Arthur Weniger zeigt auf unseren Protagonisten: »Sie meinen, dem weißen Typen!«

Unser Protagonist schweigt, den Kopf noch immer gesenkt.

»Weil es eine Stiftung für Schwarze Kunst ist!«, erklärt er weiter und lacht dabei. »Für Schwarze Kunstschaffende!«

»Ist das so?«, fragt unser Protagonist.

»So ist es, Arthur«, sagt er und lacht dann wieder, während er den Scheck mit einem Schulterzucken einsteckt. »Was machen Sie jetzt?«

»Nun«, sagt unser Protagonist, »ich weiß, was ich nicht mache, Arthur. Ich löse keine Schecks ein, die für andere bestimmt sind.«

»Arthur Weniger«, sagt Arthur Weniger, plötzlich ganz lebhaft, »ich löse jeden Scheck ein, den ich kriege!«

Schilder tauchen auf, die den Weg zum Flughafen weisen, und die Landschaft nimmt die Fadheit des Funktionalen an – Mietwagen, Parkplätze, fadenscheinige Motels, Autoreparaturwerkstätten und ein neonbeleuchteter Sexshop. Wir könnten absolut überall in Amerika sein.

Der Gesichtsausdruck von Arthur Weniger ist mit einem Mal fragend. »Was machen wir jetzt mit unseren Namen? Die werden uns wohl auf ewig miteinander verwechseln.« Und alarmierender: »Was ist, wenn das Nobelpreiskomitee bekanntgibt, dass Arthur Weniger den

»Arthur«, sagt er ernst. »Ich habe eine Frage.«

»Sollte ich mir vorher noch eine unserer geheimen Schnapsfläschchen nehmen?«

»Sie wurden nicht zufällig gefragt, in der Jury zu sitzen für« – und er erwähnt den Namen des Preises.

»Damit habe ich nichts zu tun«, sagt Arthur Weniger. »Für so etwas würde ich eh nicht in Frage kommen, ich bin ja nicht mal Amerikaner. Ich komme aus Kanada.«

Unser Protagonist schlägt vor, trotzdem noch einen Schnaps zu trinken, und das machen sie. Er holt den Stift seiner Mutter hervor. »Ob Sie wohl mein Buch signieren würden?«

»Wissen Sie«, sagt Arthur Weniger, als er mit dem Signieren fertig ist, »ich bin jetzt unterwegs, auf Lesereise durch das Land. Und danach kommt schon die nächste.«

»Besuchen Sie mich, wenn Sie an der Westküste sind.«

»Wir könnten zusammen eine Veranstaltung machen«, sagt Arthur Weniger. »Und alle umhauen!«

AH-ah-ah; HA-ha-ha.

(Braucht die Welt wirklich zwei dieser Geschöpfe?)

An der Bahnstation Wilmington trennen sich ihre Wege, und zwischen ihnen kehrt wieder etwas Formelles ein. Schließlich ist es sehr wahrscheinlich, dass sie in den nächsten zwanzig Jahren noch einmal aufeinandertreffen werden, weswegen sie die höfliche Distanz von Nachbarn wahren müssen, deren gemeinsamer Baum seine Äpfel auf beiden Seiten des Zauns fallen lässt. Weniger nimmt seine Reisetasche und winkt; nur sein Spiegelbild antwortet ihm. Dann fährt die Limousine weiter Richtung Baltimore.

 

Wenn diese Reise ein Motto hätte, wäre es »Falsch gedacht«.

Falsch in Bezug auf das Wetter. Falsch in Bezug auf die Reiseroute. Falsch in Bezug auf Schaltgetriebe, Boomerangs und Blaubeeren, Inlandseen und Wüstenstraßen und Canyons; falsch in Bezug auf Lavvus, Kneipen und Fährenfahrtzeiten. Falsch in Bezug auf Liebhaber. Väter. Berühmte Autoren und Theaterensembles und Preise. Falsch in Bezug auf Walloons.

Aber vor allem lag er in Bezug auf die Menschen falsch. Eigentlich kein Wunder, irren sich Romanautoren mit ihrer Vorliebe für Struktur und Sprache und Symmetrie in ihren Romanen doch häufig über die Menschen, die in der wirklichen Welt leben, so wie sich Architekten bezüglich Kirchen irren. Was in einem Roman als wahr und vertretbar gilt – dass die Kellnerin, die nur dazu da ist, den Protagonisten mit Suppe zu bekleckern, bloß eine Frisur und eine Hand braucht –, wäre in der wirklichen Welt ein unverzeihlicher, moralischer Fehler. Und auch wenn sich unser Autor mittleren Alters vermutlich eher die Rolle eines Rosencrantz oder Guildenstern zumessen würde, also niemals die eines Protagonisten, hat die Wahrheit der eigenen Existenz offenbar noch nicht wirklich seine Seele berührt: Im wahren Leben gibt es keine Protagonisten. Oder vielmehr ist der Umkehrschluss wahr: Es gibt nichts als Protagonisten. Protagonisten, so weit das Auge reicht.

 

Und da steht er nun, unser Arthur Weniger, an der Station Wilmington, Delaware, wo ihn die Limousine abgesetzt hat.

»Freddy«, sagt er zu einer Tiefsee-Mailbox. »Freddy, ich weiß ja nicht einmal, wo du steckst.«

HaaaaaAAAAAAAAR!, kreischt ein heranfahrender Zug. Das Geräusch verwandelt sich von weit entferntem Wimmern zu einem unmittelbar bevorstehenden Donner (seine Schwester konnte mit nichts als ihren Händen einen Zug auf genau diese Art imitieren, ganz unschuldig bewies sie damit, dass alles relativ ist – vielleicht werden wir allwissend geboren).

Weniger steht ganz still und ruhig da, die Augen geschlossen, und bereitet sich auf den irgendwie angenehmen Windstoß vor, der einen vorbeifahrenden Zug begleitet. Er nimmt einen tiefen Atemzug und riecht die Lavendelbüsche und die Kühle des matschigen Delaware. Seine rechte Hand kriecht zu seinem Herzen und ruht dort auf der Brusttasche seines Sakkos, wo die Beständigkeit des alten Stifts

HAAAAAAAAAAR!

Weniger wirft die Nuss in die Wirren des vorbeifahrenden Zugs, dann bricht er an der Backsteinwand zusammen. Er legt die Hand auf seine Stirn, während der Zug vorbeirattert. Er schnappt nach Luft. Der vorbeifahrende Zug zieht einen kleinen Tornado mit sich und lässt die Blätter in Spiralen um ihn tanzen, wirbelt das Sakko seines Vaters auf und lässt seine Haare, die er heute Morgen so sorgsam zurechtgelegt hat, nach hinten wehen und die rosafarbene Unschuld seiner Kopfhaut enthüllen. Seine Augen sind mit Tränen gefüllt. Er atmet heftig schluchzend. Sein Körper fängt an, unkontrolliert zu zittern; das Vermächtnis seiner Familie trifft nun auch ihn. Die Geräusche drängen wie eine Sturzflut auf ihn ein. Seine Augen sind geschlossen, der Rücken zur Wand.

»Freddy, ich …« Er ringt nach Luft. »Ich habe mich zum Narren gemacht!«

Ich bin um die Welt gereist, um Weniger zurückzugewinnen, und an dem Tag, als er mich fand, saß ich am oberen

HAAAAAaaaaaaaar!

In seinem Gesicht sah ich die Jahre der Verzweiflung und sagte zu meinem Liebsten: »Wovon redest du da? Ich werde dich nicht verlassen!«

Als der Zug in der Ferne verschwindet, legt sich auch der Wind, und Arthur Weniger tritt von der Wand weg. Er sieht dem Zug nach, der längst verschwunden ist. Sein Gesicht noch feucht von den Tränen, sucht er nach einem Kleenex und fühlt in der Seitentasche etwas Kühles, Zylindriges. Er holt den Stift hervor und erschaudert.

Das Schwert im Stein.

Neben dem Fahrplan der Bahnstation Wilmington ist ein altes Telefonhäuschen (allerdings fehlt das Telefon), und Weniger betritt das Prisma, um sich dem aufkommenden Sturm zu entziehen.

Triff falsche Entscheidungen, großartig! Das ist großartig! Aber triff sie.

»Jungchen, du sprichst mit der Ältesten Lebenden Walfängerwitwe!«

 

Wir kehren zu unserem Erzähler zurück, der bereits unterwegs ist –

Hatte ich das nicht erwähnt? Die Geschichte hat sich selbst weitergeschrieben, während Sie weg waren …

 

Leider Gottes wirst du mich nicht in der PENSION ZUR ÄLTESTEN LEBENDEN WALFÄNGERWITWE finden, mein Walloon. Ich sagte ihr und Captain Nicholson und all den Papageientauchern auf Valonica Lebewohl und nahm den Bus runter nach Boston, wo ich mir ein Zugticket für die Fahrt buchte, die ich dich immer angefleht hatte mit mir zu machen. Was soll ein verliebter Mann sonst tun? Während du dir in Wilmington den Wind um die Ohren blasen lässt, habe ich es bis nach Chicago geschafft, wo sich die Dächer der Firmenhochhäuser über die Wolken aus Würstchendampf erheben, und ich warte auf den Anschlusszug meiner eigenen Reise quer durch das Land.

Der erste war der Lake Shore Limited. Ich gönnte mir ein Schlafwagenabteil, ein so genanntes »Roomette«, und ich ging davon aus, dass ich es mir in europäischer Manier mit einer fremden Person würde teilen müssen. Doch es kam anders, US-Amerikaner sind nicht an Mitbewohnerkomödien interessiert. Komisch, aber ich war erleichtert. In mir spürte ich eine Art Amerikanismus aufkeimen. Ich versuchte, ihn im Bordrestaurant mit Whiskey zu ertränken (gegen Penthos und Kholon), dann fiel ich in einen

Ach, Arthur Weniger. Kein Grund, anzurufen, denn dir wird ja doch nur Captain Nicholson antworten können. Außerdem braucht es weit mehr als einen Anruf. Ich will irgendeine große Geste, wie die antiken Läufer, die als Beweis dafür, dass sie es auf die Berge und wieder hinunter geschafft hatten, in ihren Händen Schnee mitbrachten. Ich möchte Schnee in deinen Händen. Ich möchte, dass du für mich stark bist, egal, welcher Tag ist. Ich möchte, dass du fragst: War es das wert, Freddy? Ich weiß noch nicht, was ich antworten werde.

Vielleicht werden wir zwei Entdecker unser Lewis-und-Clark-Gespräch führen. Was werden wir über diese zehn gemeinsamen Jahre sagen? Ich würde mich in deiner Gesellschaft außerordentlich glücklich schätzen!

Der nächste Zug kommt an – der Empire Builder! Ich steige ein und finde mein nächstes Roomette, das Klappbett noch in der Inkarnation einer Couch. Während ich meine Tasche verstaue und mich auf meinen Platz setze, und der Empire Builder auf seinem Weg nach Westen Dampf macht (wie man so schön sagt), ist es sehr wahrscheinlich, dass Weniger bereits mit Adele spricht, die ihn darüber informiert, dass ich zwei Tage zuvor abgereist bin. Er fragt, warum ich herkam? Die Antwort darauf kennt sie

Aber ich kenne sie:

Ich habe noch nie Amerika gesehen. Aber das möchte ich gerne, vielleicht auch, um meinen Partner besser zu verstehen – seine Liebe zu Ketchup der Kolonialzeit, Root Beer der Prohibitionsära, dem Mont-Blanc-großen Stück Eis in jedem Schluck Wasser, seine Angst über Race und Rassismus zu sprechen, seine Faszination von der Insel Großbritannien und sein Desinteresse gegenüber dem Kontinent Afrika, das Verteidigen der Demokraten und der Fahrenheitskala, dem Glauben daran – obwohl die letzten Jahrhunderte das Gegenteil bewiesen haben –, dass wir die Freiheit haben, ganz wir selbst zu sein, dass wir die Freiheit haben zu lieben, wie und wen wir wollen, und dass das Glück eine Handbreit entfernt ist und wir bloß danach zu greifen brauchen.

Vielleicht. Aber auch – um mich selbst zu verstehen. Stellen Sie sich vor, jeden Tag neben einer Person aufzuwachen, die einem ein Wunder verspricht, und jeden Tag glaubt man es, und jeden Tag passiert aufs Neue nichts. Schauen wir nicht alle unsere Liebsten manchmal an und denken: Warum bleibe ich? Warum bleiben wir? Bleiben ist etwas Entschiedenes, auch wenn die Antwort noch immer in ihrem Versteck kauert. Ich will sie ans Licht locken.

(Studierst du jetzt die Fahrpläne, mein Schatz? Suchst du bei einer Autovermietung nach einem Mietwagen oder schaust du nach Flügen Richtung Eerie, St. Cloud, Wishram, Redding?)

Von Chicago aus durchquere ich den großen Mittleren Westen. Die Nacht bricht über den eisigen Seen von Minnesota an. Ich wache einmal auf, um die Zugtoiletten

Ich erwache in North Dakota und entdecke ein Kind, das mich durch das Fenster anstarrt; ich hatte vergessen, meine Vorhänge zu schließen. Wir sind in Minot, und offensichtlich hat es geschneit. Das Kind wirft mir einen skeptischen Blick zu und geht weiter, wodurch sich ein Bahnhof offenbart, der voller Gepäck und Menschen ist, so dass man fast meinen könnte, wir seien nach Budapest gereist, und eine lange, sich windende Schlange aus Dampf erweckt den Anschein, wir seien auch in der Zeit gereist. Der Zugbegleiter, der an meine Tür klopft und mir Kaffee anbietet, hat sogar einen Akzent. In diesem Moment fühle ich mich vollends beglückt (der Dampf enthüllt seinen Urheber: einen Hot-Dog-Stand).

Als wir das Vanille-glasierte North Dakota durchqueren, denke ich an Arthur Weniger.

(Hast du einen Anruf von Hallo-ich-habe-Peter-Hunt-in-der-Leitung-bitte-warten-Sie bekommen? Hast du die

Ich brauche keinen Ring. Ich habe die Ehe schon einmal ausprobiert, wie viele wissen. Lassen Sie mich noch einmal klarstellen, dass Tom Dennis ein guter, anständiger Mann war, der mich liebevoll behandelte, und als ich ihn darum bat, ließ er mich gehen. Ich glaube, dass er mich wirklich geliebt hat. Aber mein Verlobter war kein einfacher Zeitgenosse. Er ließ Gläser auf Holztischen stehen (auf Holztischen, liebe Leser!), und er ließ Socken und Bonbonpapier liegen, wann immer sie nicht mehr von unmittelbarem Nutzen waren. Er wurde zu einem dieser Menschen am Strand, die davon ausgehen, dass ihr Müll mit der Flut verschwinden wird. Allein deswegen hätte ich wissen müssen, dass meine Beziehung in Schwierigkeiten steckte. Aber ich wusste auch, dass alle Paare diese Streitigkeiten erlebten, und ich ging davon aus, dass sie kein Hindernis für die Liebe waren, sondern lediglich ihr holpriger Weg. Stellen Sie sich meine Überraschung vor, als ich (Tom Dennis bloß noch entfernt im Rückspiegel zu erkennen) zu Weniger in die Hütte zog und dieser neue Mitbewohner die gleichen Tendenzen aufzeigte – Socken auf dem Boden, Unterwäsche hinter der Badezimmertür, schmutziges Geschirr –, und, liebe Leser, es machte mir nichts aus! Ich erinnere mich noch, wie ich das Bett machte und unter seinem Kopfkissen eine Unmenge an Taschentüchern fand (damit er sich am Morgen seine Nase schnäuzen konnte), die sich pilzartig darunter ausgebreitet zu haben schienen, und nicht von Wut, sondern von … Zärtlichkeit erfüllt war! Mit Tom Dennis waren es Aufgaben gewesen, die ich bereit war zu erledigen. Mit Weniger – machte es mir absolut nichts aus.

Er ist nicht der Beste.

Aber der Beste, den ich je hatte.

Von North Dakota aus gleiten wir durch Montana. Nach Tagen der Ebenerdigkeit (stundenlang so gleichförmig, dass wir uns nicht zu bewegen scheinen) fühlt sich das Herannahen der Berge so beängstigend an wie Frankensteins Kreatur, die sich auf eine Einsiedlerhütte zubewegt. Die schneebedeckten, im Blutbad des Sonnenuntergangs gefärbten Gipfel erheben sich mit dem Glanz von Filmstars aus der Ebene, und es ist ein unglaubliches Gefühl, zu begreifen, dass wir das samtene Seil der Gebirgsausläufer hinter uns gelassen haben und in ihre Gegenwart geführt werden; ich bin beeindruckt. Rosa- und türkisfarbene Felsen und Steilhänge ziehen an mir vorbei, Facetten von Eis. Eine allgemeine Bläue stellt sich ein, aber selbst in der Dämmerung leuchten die Gletscher in gehorteter Pracht.

Der Zugführer sagt: »Wishram, Wishram.«

Wir erreichen Portland am Morgen, und der Anschluss an die letzte Etappe meiner Reise – die Coast Starlight – verläuft reibungslos. Sie bringt mich in mein letztes Roomette, das bis auf kleinere Unterschiede in Haken und Schlössern mit den vorhergehenden identisch ist. Irgendwo im Norden: Cape Alava, wo die letzten Sonnenstrahlen des Tages amerikanischen Boden berühren. Mein Ziel ist San Francisco, und während wir Richtung Süden ruckeln, beobachte ich, wie die Sonne über Chemult, Oregon, untergeht. Einer der vielen Orte, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich

»Jemand hat versucht, auf den Zug aufzuspringen!«, sagt eine rothaarige Frau um die dreißig, die einen Kimono trägt. Ihre Haare sind oben lang und an den Seiten rasiert und grün gefärbt; ihr ebenfalls grüner Kimono enthüllt eine Reihe an Tattoos (allerdings nicht in voller Größe). Sie isst von einem Block Käse. Ich frage sie, ob sie in Richtung San Francisco unterwegs ist, und sie klärt mich darüber auf, dass sie zurück zu ihrem Freund will. »Ich habe die falsche Entscheidung getroffen«, sagt sie und schaut dabei auf ihren Käse. »Ich hoffe, er kann mir vergeben.« Wie sie ihn beschreibt? Ein tätowierter, taiwanesischer Phlebologe. »Und du?«

Ich sage ihr, dass ich auf ein Zeichen warte.

Sie runzelt die Stirn und bietet mir etwas von ihrem Käse an. Ich denke an einen Soziologen in der Kälte einer Veranda in Maine und lehne ab. Ich bemerke, wie ich denke: Ich kann ohne Käse leben. Wir verschwinden vor den verschneiten Bergen in der Dunkelheit, und im Schein der Lampe liest sie die Meldung über einen Literaturpreis für eine außerordentliche schriftstellerische Karriere vor. Ich erzähle ihr, dass ich den Mann kenne.

Und nun muss ich von einer merkwürdigen Entwicklung berichten, die ein Muster zu bilden begann, das ich schon früher hätte bemerken müssen, wäre ich von dieser Ankündigung nicht so schockiert gewesen.

Rabatz in Redding, jenseits der kalifornischen Grenze: Während unseres kurzen Zwischenhalts am Morgen sehe

Im Morgenlicht tauchen Bergsilhouetten auf, dann kommen allmählich Kiefern zum Vorschein, die sie wie Federn bedecken, und in Chico, gerade als wir den Bahnhof verlassen wollen, versucht derselbe entschlossene Jesse James aus Redding erneut einzusteigen, diesmal zu spät, um noch den Schaffner zu bestechen, und durch komplexe Spiegelungen kann ich gerade noch eine Filmtrope erkennen: einen Mann, der einem Bremserwagen nachläuft. Zu seinem Pech haben moderne Züge keine Bremserwagen. Ich nehme an, dass er hustend im Staub zurückbleibt.

Bedrängt von Fluss und Felsen, verlaufen die Schienen von hier bis nach Sacramento neben dem Highway. Ich bin mir mittlerweile sicher, dass derselbe leuchtend rote Wagen mit uns Schritt hält. An einer Stelle kommt er uns so nah, dass ich fast den Fahrer erkennen kann, doch die Straße zieht zur Seite, und sicher habe ich einfach die Autos miteinander verwechselt. Mir kommt in den Sinn, dass wir uns einem Piratenort am American River und dem Hotel D’Amour nähern. Doch dann geraten wir etwas unerwartet in eine Nebelbank; die Starlight schwebt über eine Gegend, die von Weiß eingehüllt ist. Nicht wie Schnee, nicht wie etwas, das fällt oder sich bewegt, nicht greifbar oder

Halt – Ich sehe etwas, und bevor ich es auch benennen kann, sehe ich es, steuerbord, jenseitig in den Wolken schweben: eine Erscheinung. Warum, wie die Dichterin sagt, dieses süße Gefühl der Freude? In der Ferne, auf mittlerer Distanz schwebend, ein unvollendetes Werk auf der Leinwand, dreht er sich um und sieht auch mich:

Ein Elch.

Durch das Nichts starren wir einander an. Dann ist er weg.

Der Zug wird langsamer. Der leuchtend rote Wagen zieht die Geschwindigkeit an und rast voraus, wirft dreidimensionale Schatten in den Nebel und verschwindet.

Ach, Nebel der Einsamkeit, ach, mystischer Elch der Liebe, ach, Arthur Weniger.

Mein Roomette ruckelt, als wir in Martinez einfahren, auf dessen Parkplatz der leuchtend rote Wagen ein Zuhause gefunden hat. Der Fluss breitet sich vor uns aus, und der Nebel lichtet sich, und auf einer Bank hat jemand ein Schild gemalt mit der Aufschrift: WILLKOMMEN IM MILDEN, MILDEN WESTEN. Noch ein Ruckeln und wir bewegen uns weiter in Richtung San Francisco.

Dann klopft es an der Tür.

Wir könnten eine Zeitmaschine erfinden, mein Walloon, und zurückgehen und uns nie füreinander entscheiden. Wir könnten noch weiter zurückgehen und es mit allem,

Noch ein Klopfen. Hinter der Tür ruft jemand:

»Leiter runter! Leiter runter!«

Ich schaue ein letztes Mal auf die nebeldurchzogene Landschaft, dann stehe ich auf, öffne die Tür und frage mich, welcher Wanderer dort vor mir steht, mit einem von Sorgen gezeichneten Gesicht, das von einem hoffnungsvollen Lächeln verzogen ist, und dem leuchtende Nelken von seinen blassen Wangen blühen; welcher Preisträger quer durch Amerika gereist ist, um sich für mich zu entscheiden, und vor Erleichterung keucht, als er mein Gesicht sieht …

 

Nun, liebe Leser, die Antwort auf diese Frage überlasse ich einfach