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Die Rache

Eine Frau hasste ihre Nachbarin, mit der sie die Wohnung teilte, eine alleinstehende Mutter mit Kind.

Je größer das Kind wurde und je mehr es in der Wohnung herumtobte, umso häufiger ließ die Frau wie aus Versehen eine Kanne heißes Wasser auf dem Fußboden stehen oder ein Glas mit Natriumhydroxid, oder sie ließ mitten auf dem Korridor eine Schachtel Stecknadeln fallen. Die arme Mutter ahnte anfangs nichts, da ihr Mädchen kaum laufen konnte, und auf dem Korridor ließ sie es nicht krabbeln, weil Winter war. Aber bald sollte die Zeit kommen, wo das Kind aus dem Zimmer in den geräumigen Korridor hinauslaufen konnte. Die Mutter machte ihre Nachbarin aufmerksam, wenn mitten im Weg ein Glas stand, oder sie sagte: »Rajetschka, Sie haben wieder Nadeln verloren«, worauf die Nachbarin sich an den Kopf griff und über ihre Vergesslichkeit klagte. Früher waren sie Freundinnen gewesen, kein Wunder, zwei alleinstehende Frauen in einer Zweizimmerwohnung, sie hatten vieles gemeinsam, sogar gemeinsame Gäste, und an den Geburtstagen machten sie sich gegenseitig Geschenke. Außerdem erzählten sie sich alles, aber als Sina einen dicken Bauch kriegte, fing Raja an, sie bis zur Bewusstlosigkeit zu hassen. Sie wurde regelrecht krank vor Hass, kam plötzlich spät nach Hause, konnte nachts nicht schlafen, ständig glaubte sie, hinter Sinas Wand eine Männerstimme zu hören, sie glaubte, Worte zu hören und ein Klopfen, während Sina in Wirklichkeit völlig allein war. Sina dagegen klammerte sich noch enger an Raja und sagte ihr sogar einmal, es sei ein großes Glück, dass sie so eine Nachbarin habe, wie eine ältere Schwester, die einen in schweren Stunden nicht im Stich lässt. Raja half Sina tatsächlich die Babysachen zu nähen und brachte sie, als es so weit war, zur Entbindungsklinik, nur sie mit dem Neugeborenen abzuholen schaffte sie nicht, sodass Sina noch einen Tag länger ohne Babysachen in der Klinik hockte und das Kind schließlich in einer zerrissenen staatlichen Decke nach Hause brachte, die sie zurückzugeben versprach. Raja schob ihre Krankheit vor, die ganze Zeit schob sie ihre Krankheit vor, sie ging kein einziges Mal für Sina einkaufen und half ihr auch nicht, das Kind zu baden, sie saß immer nur mit irgendwelchen Kompressen auf den Schultern herum. Das Kind schaute sie nicht einmal an, obwohl Sina es ständig mit sich herumtrug, mal ins Badezimmer, mal in die Küche, mal an die frische Luft, und auch die Tür zu ihrem Zimmer stand immer offen – komm rein und schau es dir an.

Sina hatte sich beizeiten um eine Heimarbeit gekümmert und gelernt, mit einer Strickmaschine umzugehen, sie hatte keinerlei Verwandtschaft, und das von der guten Nachbarin waren nur schöne Worte, in Wirklichkeit hatte sie niemanden, auf den sie sich verlassen konnte, sie hatte sich die Suppe selbst eingebrockt, jetzt musste sie sie auch alleine auslöffeln. Solange die Tochter klein war, brachte Sina die fertige Arbeit ohne sie weg und holte sich ihren Lohn allein ab, sie ließ das schlafende Kind zu Hause, aber sobald das Mädchen weniger schlief und größer wurde, fingen die Sorgen an. Sina musste es mitnehmen. Raja jedoch beschäftigte sich stur mit ihren Schultergelenken, sie war deshalb sogar krankgeschrieben, doch sie zu bitten, auf das Kind aufzupassen, wagte Sina nicht. Raja indes begann mit den Vorbereitungen für den Kindsmord, und immer öfter fand Sina, wenn sie das tapsende Mädchen an beiden Händen über den Korridor führte, auf dem Küchenfußboden ein scheinbar mit Wasser gefülltes Glas, oder sie fand auf dem Küchenhocker den dampfenden Teekessel mit zur Seite geklapptem Henkel, doch Verdacht schöpfte Sina nicht. Jedenfalls zwitscherte sie fröhlich wie immer mit ihrem Mädchen und forderte es auf: »Sag Mama.« Aber wenn Sina jetzt in den Laden oder zur Arbeit ging, schloss sie das Kind ein, und das hatte Folgen. Raja wurde furchtbar böse. Einmal war Sina weggegangen, das Mädchen wachte hinter der verschlossenen Tür auf, offensichtlich war es aus dem Bett gefallen und weinend zur Tür gekrabbelt. Raja wusste, dass das Kind noch nicht richtig laufen konnte, dass es aus dem Bettchen gefallen war und sich sicher arg gestoßen hatte, weil es so schrecklich schrie, und dass es so nah an der Tür lag. Raja konnte dieses Geschrei nicht mehr ertragen, sie zog Gummihandschuhe über, holte aus dem Badezimmer das Natriumhydroxid, das sie dort versteckt hatte, streute es in einen Eimer mit Wasser und fing an, den Korridor zu wischen, wobei sie die Lösung unter die Tür schwappen ließ, hinter der das Mädchen lag. Das Geschrei ging in ein Wimmern über. Raja wischte den Korridor trocken, spülte alles aus – Eimer, Schrubber und Handschuhe –, zog sich um und ging in die Poliklinik.

Anschließend ging sie ins Kino, dann durch die Geschäfte und kam erst am Abend nach Hause. Sinas Zimmer war dunkel und still. Raja sah fern und legte sich dann ins Bett, konnte aber nicht einschlafen. Sina kam die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag nicht nach Hause. Raja holte das Beil, brach die Tür auf und fand das Zimmer eingestaubt, auf dem Fußboden neben dem Bettchen war ein eingetrockneter Blutfleck, und eine breite Blutspur führte bis zur Tür. Von der Natriumhydroxidpfütze war nichts mehr zu sehen. Raja wischte ihrer Nachbarin den Fußboden, räumte auf und lebte von nun an in fieberhafter Erwartung. Nach einer Woche schließlich kam Sina nach Hause, sie sagte, sie habe das Mädchen beerdigt und habe jetzt eine Arbeit mit Vierundzwanzig-Stunden-Schicht, mehr sagte sie nicht. Die eingefallenen Augen und die gelbe, welke Haut sprachen für sich. Raja machte keine Anstalten, Sina zu trösten, jedes Leben in der Wohnung war erstorben. Raja saß einsam vor dem Fernseher, und Sina war für vierundzwanzig Stunden bei der Arbeit oder schlief sich aus. Sina war regelrecht durchgedreht, überall hängte sie Fotos von ihrer Tochter auf. Rajas Schmerzen wurden immer schlimmer, sie konnte die Arme nicht mehr heben und nicht mehr gehen, nicht einmal Spritzen in die Gelenke halfen. Die Ärzte stellten Arthrose fest. Es ging so weit, dass Raja sich nicht einmal mehr etwas kochen konnte oder auch nur den Wasserkessel aufsetzen. Wenn Sina zu Hause war, fütterte sie Raja, doch sie kam immer seltener, sie redete sich heraus, es wäre ihr zu anstrengend. Wegen der Schulterschmerzen konnte Raja nicht mehr schlafen. Als sie erfuhr, dass Sina Schwester in einer Art Krankenhaus war, bat Raja sie, ein starkes Schmerzmittel, Morphium zum Beispiel, zu besorgen. Sina sagte, das könnte sie nicht: »Auf so etwas lasse ich mich nicht ein.«

»Dann muss ich eben mehr von diesen hier nehmen. Zählst du mir bitte dreißig Stück ab.«

»Nein, niemals«, sagte Sina, »von meiner Hand stirbst du nicht.«

»Aber die eigenen Hände kriege ich nicht hoch«, wandte Raja ein.

»So billig kommst du mir nicht davon«, sagte Sina.

Da streckte die Kranke unter unmenschlichen Anstrengungen ihre Lippen nach dem Röhrchen, zog mit den Zähnen den Korken heraus und schüttete sich sämtliche Tabletten in den Mund. Sina saß an ihrem Bett. Raja starb sehr langsam. Als der Morgen kam, sagte Sina:

»Jetzt hör zu. Ich habe dich belogen. Meine Lenotschka lebt, sie kann jetzt richtig laufen. Sie ist in einem Kinderheim, und ich arbeite dort als Schwester. Und unter die Tür hast du nicht Natriumhydroxid geschüttet, sondern gewöhnliches Speisesoda, ich habe es gegen das Natriumhydroxid ausgetauscht. Und das Blut auf dem Boden – Lenotschka hat sich die Nase aufgeschlagen, als sie aus dem Bettchen fiel. Du bist also unschuldig, niemand hätte etwas beweisen können. Aber ich bin genauso unschuldig. Wir sind quitt.«

Und da sah sie, wie über das tote Gesicht langsam ein glückliches Lächeln glitt.