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Der Gruß der Mutter

Ein junger Mann, Oleg mit Namen, blieb elternlos zurück, als seine Mutter starb. Er hatte nur noch die Schwester, der Vater jedoch, der zwar lebte, war, wie sich herausstellte, nicht Olegs richtiger Vater gewesen. Sein Vater war ein Unbekannter, mit dem sich die Mutter getroffen hatte, als sie bereits verheiratet war. Das fand Oleg heraus, als er die Papiere seiner verstorbenen Mutter durchsah, in der Hoffnung, mehr über sie zu erfahren. Hierbei entdeckte er ein Dokument, einen Brief, in dem ihr ein Unbekannter schrieb, er habe Familie und nicht das Recht, wegen eines künftigen Kindes unbekannter Herkunft zwei Kinder zu verlassen. Der Brief trug ein Datum. Die Mutter hatte ihren Mann demzufolge kurz vor der Entbindung verlassen und einen anderen heiraten wollen, was bedeutete, dass sich wirklich alles so verhielt, wie Olegs ältere Schwester einmal, rachsüchtig und bösartig, in einem Gespräch angedeutet hatte. Nachdem der junge Mann diesen Brief entdeckt hatte, sah er systematisch alle Papiere durch und fand einen schwarzen Umschlag mit Fotos, die seine Mutter in den verschiedenen Stadien des Entkleidens zeigten, unter anderem auch nackt. Das alles war wie im Theater fotografiert, in nacktem Zustand hatte die Mutter sogar einen langen Schal um sich drapiert, und das alles war ein harter Schlag für den jungen Mann. Er hatte von Verwandten gehört, dass seine Mutter in ihrer Jugend für ihre Schönheit berühmt gewesen war, doch auf den Fotos war sie bereits eine Frau um die fünfunddreißig, gut gewachsen, doch nicht sonderlich schön, sie hatte sich einfach gut gehalten.

Nach diesem Schlag schmiss der junge Mann – er war sechzehn Jahre alt – die Schule, er schmiss alles hin und tat zwei Jahre lang bis zur Armee überhaupt nichts, hörte auf niemanden, aß, was im Hause, im Kühlschrank war, verschwand, wenn der Vater und die Schwester heimkamen, und kam wieder, wenn sie schliefen. Bis er völlig erschöpft war und der Vater dank seines Einflusses erwirkt hatte, dass sich Oleg einer Ärztekommission vorstellen musste, die ihm wegen Schizophrenie eine Rente bewilligen sollte, doch in letzter Minute, unmittelbar vor der Untersuchung, starb der Vater nachts in seinem Bett, und alles zerschlug sich. Die Schwester zog aus der Wohnung aus und ließ Oleg allein in seinem Zimmer zurück, und bald darauf ging er zur Armee.

Dort passierte ihm folgende Geschichte: Man stellte ihn zusammen mit anderen Soldaten an einem Bergpfad auf, an einem Gebirgspass, über den ein flüchtiger Lagerhäftling kommen sollte. Dieser Häftling war schon fast einen Monat in Freiheit, er hatte es geschafft, auf seinem Weg fünf Menschen umzubringen, darunter auch ein junges Mädchen, und nun näherte er sich dem einzigen Bergpass, über den der Weg ins Große Land führte, das heißt in den europäischen Teil. Nach allem, was man wusste, würde der Häftling noch nicht so bald auftauchen, doch der Beobachtungstrupp wurde frühzeitig am Pfad postiert, drei Tage bevor man ihn erwartete, denn wer weiß, was für ein Transportmittel der Flüchtling benutzen würde. Der Trupp bestand aus Oleg, einem Sergeanten und drei weiteren Soldaten, sie saßen hinter einem großen Stein, auf dem sie ihre Maschinenpistolen abgelegt hatten. Sie hielten abwechselnd Wache, und gerade als Oleg an der Reihe war, erschien auf dem Pfad jener Mann, dessen Foto man ihnen vorher gezeigt hatte. Oleg konnte sich nicht zurückhalten und erschoss ihn, und dann stellte sich heraus, dass es ein ganz anderer war, ein Zwangsangesiedelter, der seine Strafe abgebüßt hatte und sich nun, allerdings ebenfalls illegal, nach Hause, nach Russland durchschlagen wollte. Der wirkliche Verbrecher wurde auf einem benachbarten Bergpass gefasst.

Man behandelte Oleg gut, er wurde als vorübergehend unzurechnungsfähig eingestuft, kam in ein Krankenhaus, und dann wurde er als militärdienstuntauglich ganz aus der Armee entlassen, und er war noch billig davongekommen, denn die Frau des Angesiedelten, so erzählte man, war unentwegt auf der Suche nach jenem übergeschnappten Soldaten, der ihren Mann umgebracht hatte, nur weil der die Grenze des ihm zugewiesenen Siedlungsgebiets um einige Schritte übertreten hatte – entlang des Bergpasses verlief nämlich die Grenze des Verwaltungsgebiets.

Oleg kehrte nach Hause zurück. Er war schon fast ganz kahl, die Zähne fielen ihm, einer nach dem anderen, aus, er hatte nichts zu essen, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als ohne jede Ausbildung arbeiten zu gehen. Doch da trat plötzlich die ältere Schwester in sein Leben, nahm alles in die Hand, brachte Oleg in einer Berufsschule unter, räumte sein Zimmer auf, besorgte Lebensmittel und Geld, obwohl sie nur seine Halbschwester war und ihn früher nie gemocht hatte. Eines Abends, bevor sie ging, sagte sie ganz beiläufig zu ihm: »Glaub nicht an den Unsinn, den ich dir damals von Mutter erzählt habe, unser Vater hatte sie nur verdächtigt, er war ein schwieriger Mensch, der konnte jeden um den Verstand bringen.«

Und ging.

Als die Schwester fort war, öffnete Oleg den Koffer und begann in den Papieren zu wühlen, zwischen denen der Brief gelegen hatte, er fand aber nur einen Umschlag mit einem Foto von der Beerdigung der Mutter. In dem schwarzen Umschlag, in dem Oleg die Fotos der sich entkleidenden Mutter wusste, steckte nur ein kleines schwarzes Blatt Papier, ganz alt und mürbe, und als Oleg es herausziehen wollte, zerfiel es zu Staub.

Oleg sah die Papiere durch und fand überall Briefe seiner Mutter an den Vater, in denen von Liebe die Rede war, von Treue, von Oleg und wie sehr er seinem Vater ähnele. Oleg weinte den ganzen Abend, die Tränen flossen von selbst aus seinen Augen, und am nächsten Morgen wartete er auf seine Schwester, um ihr zu erzählen, wie verrückt er mit sechzehn Jahren gewesen sei und dass er Dinge gesehen habe, die es gar nicht gab, und deshalb sogar einen Menschen umgebracht hatte, der überhaupt nicht aussah wie auf dem Foto, anhand dessen sie ihn identifizieren sollten.

Doch die Schwester kam nicht, offenbar hatte sie ihn vergessen, und auch er vergaß sie bald, er war mit seinem eigenen Leben beschäftigt. Er schloss die Berufsschule ab, anschließend die Universität, heiratete und schaffte sich Kinder an.

Er hatte dunkle Augen, und auch seine Frau war eine dunkeläugige Brünette, doch beide Söhne waren weißblond und hatten blaue Augen – haargenau wie die verstorbene Mutter, ihre Großmutter.

Eines Tages schlug Olegs Frau überraschend vor, zum Grab seiner Mutter zu fahren. Sie fanden es nur mit Mühe, auf dem alten Friedhof standen die Grabsteine ganz eng beieinander, und auf dem Grab der Mutter entdeckten sie plötzlich einen zweiten, kleineren Grabstein.

»Sicher mein Vater«, sagte Oleg, der beim Begräbnis des Vaters nicht dabei gewesen war.

»Nein, lies doch, das ist deine Schwester«, entgegnete seine Frau.

Oleg erschrak, wie hatte er seine Schwester nur so vergessen können, er beugte sich über die Tafel und las die Inschrift. Es war tatsächlich seine Schwester.

»Nur den Todestag haben sie verwechselt«, sagte er, »meine Schwester ist lange nach diesem Tag bei mir gewesen, schon nach der Armee. Ich habe dir doch erzählt, sie hat mich wieder auf die Beine gestellt, sie hat mir buchstäblich das Leben zurückgegeben. Ich war jung und bin gleich bei jedem bisschen durchgedreht.«

»Das kann nicht sein, die verwechseln keine Daten«, erwiderte seine Frau. »Du bist es, der alles durcheinanderbringt. In welchem Jahr bist du aus der Armee entlassen worden?«

Und sie standen am Grab und fingen an zu streiten, das Grab war vernachlässigt und völlig überwuchert, und das Unkraut, das den Sommer über hochgeschossen war, kitzelte ihre Knie, bis sie gingen.