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Das Haus mit dem Springbrunnen

Es war einmal ein Mädchen, das starb und zurück ins Leben fand. Das kam so: Der Familie wurde gesagt, das Mädchen sei tot, aber sie gaben sie nicht heraus (sie waren alle zusammen mit dem Bus gefahren, und bei der Explosion hatte das Mädchen vorn gestanden, während die Eltern hinten saßen). Das Mädchen war noch ganz jung, erst fünfzehn, und sie wurde durch die Explosion durch die Luft geschleudert.

Solange die Krankenwagen gerufen und die Verletzten und Toten weggefahren wurden, hielt der Vater das Mädchen in den Armen, obwohl klar war, dass sie gestorben war, und der Arzt den Tod bestätigt hatte. Aber dann musste das Mädchen weggebracht werden, Vater und Mutter stiegen mit in den Krankenwagen und fuhren mit ihrem Kind zur Leichenhalle.

Sie lag auf der Bahre wie lebendig, hatte aber keinen Puls und atmete nicht. Die Eltern sollten nach Hause gehen, stattdessen blieben sie. Sie warteten auf die Freigabe des Leichnams, aber es standen noch alle möglichen Untersuchungen an, genauer gesagt, die Obduktion und die Feststellung der Todesursache.

Der Vater jedoch, der vor Leid den Verstand zu verlieren drohte und dazu ein tiefgläubiger Christ war, beschloss, sein Mädchen zu stehlen. Er brachte seine Frau, die schon halb bewusstlos war, nach Hause, überstand das Gespräch mit der Schwiegermutter, weckte die Nachbarin, eine Medizinerin, und erbat sich bei ihr einen weißen Kittel, dann nahm er sich alles Geld, was im Haus war, fuhr ins nächstgelegene Krankenhaus, borgte sich dort einen leeren Krankenwagen (es war zwei Uhr morgens) und schleuste sich mit einer Trage und einem jungen Hilfspfleger im weißen Kittel ins Krankenhaus ein, wo sein Mädchen aufgebahrt war, ging an der Wache vorbei die Treppe hinunter in den Keller, lief ungehindert den Gang entlang bis zur Leichenhalle. Dort war keiner. Er fand sein Kind, legte es mithilfe des jungen Pflegers auf die Trage und brachte es im Fahrstuhl in den zweiten Stock auf die chirurgische Intensivstation. Er hatte hier alles studiert, als sie am Abend zuvor in der Aufnahme gewartet hatten.

Er ließ den Hilfspfleger gehen, und nach einem kurzen Gespräch mit dem diensthabenden Arzt, dem er ein Bündel Geldscheine überreichte, gab er die Tochter in seine Hände.

Da das Mädchen keine Papiere vom Rettungsdienst bei sich hatte, schloss der Arzt, der Vater hätte den Krankenwagen auf eigene Faust gerufen und die Kranke (richtiger die Tote) ins nächstgelegene Krankenhaus gebracht. Der Arzt sah genau, dass das Mädchen tot war, aber er brauchte dringend Geld. Seine Frau hatte gerade ein Kind bekommen (ebenfalls ein Mädchen), und seine Nerven waren aufs Äußerste gespannt. Seine Mutter mochte seine Frau nicht, und alle beide heulten ihm abwechselnd was vor, das Baby schrie ebenfalls, und dann noch die Nachtdienste. Er musste Geld besorgen und eine Wohnung mieten. Was ihm der (zweifellos) verrückte Vater dieser toten Prinzessin anbot, reichte immerhin für ein halbes Jahr Miete.

Wortlos machte sich der Arzt an die Arbeit, so als hätte er tatsächlich einen lebendigen Menschen vor sich. Er befahl dem Vater, Krankenhaussachen anzuziehen und wies ihm das Bett neben dem Mädchen zu, denn der Vater war fest entschlossen, seine Tochter nicht zu verlassen.

Das Mädchen war weiß wie Marmor, das Gesicht von unbeschreiblicher Schönheit, und der Vater betrachtete sie, auf seinem Bett sitzend, mit komischem Blick. Die eine Pupille rutschte immer weg, und wenn er blinzelte, bekam er die Augenlider nur schwer auseinander.

Der Arzt, der ihn eine Weile beobachtet hatte, bat die Schwester, ein EKG zu machen, und jagte diesem neuen Patienten auf der Stelle eine Spritze rein. Der Vater war in der nächsten Sekunde weg. Das Mädchen lag da wie Schneewittchen, angeschlossen an Geräte. Der Arzt hantierte an ihr herum, tat alles, was in seinen Kräften stand, obwohl ihn nun niemand mehr mit seltsamem Blick kontrollierte. Genauer gesagt war dieser junge Arzt ein Fanatiker, für ihn gab es nichts Wichtigeres als einen interessanten Fall, als einen Patienten an der Schwelle des Todes, egal, um wen es sich handelte.

Der Vater schlief, und im Traum begegnete er seiner Tochter. Das heißt, er fuhr sie besuchen, so wie er früher zu ihr ins Sommerlager vor die Stadt gefahren war. Er packte etwas zu essen ein, aus unerfindlichen Gründen nur ein Sandwich mit Bulette, mehr nicht. Er stieg an einem wundervollen Sommerabend in den Bus, irgendwo in der Gegend der Metrostation Sokol, und fuhr an einen paradiesischen Ort. Auf dem Feld, mitten zwischen weichen grünen Hügeln, stand ein riesiges graues Haus mit Torbögen so hoch wie der Himmel, und als er diese gigantischen Torbögen durchschritten hatte und den Hof betrat, da schoss dort, auf einer smaragdgrünen Wiese, direkt aus dem Gras, ein Springbrunnen empor, ebenso hoch wie das Haus, mit einem einzigen Strahl, der sich oben in einer glitzernden Krone brach. Die Sonne ging langsam unter, und der Vater schlenderte vergnügt zum Eingang und stieg eine hohe Treppe hinauf. Die Tochter empfing ihn ein wenig verlegen, als ob er sie störe. Sie schaute zur Seite, als ob hier ihr eigenes Leben stattfinde, das mit ihm nichts mehr zu tun hatte.

Die Wohnung war riesig, mit hohen Decken und sehr breiten Fenstern, die nach Süden hinaus gingen, in den Schatten, zum Springbrunnen, den die untergehende Sonne von der Seite beleuchtete. Der Springbrunnen schoss noch über die Fenster hinaus.

»Ich habe dir ein Sandwich mit Bulette mitgebracht, wie du es gernhast«, sagte der Vater.

Er trat zu dem kleinen Tisch am Fenster, legte das Paket darauf, überlegte und packte das Sandwich aus. Es war ein merkwürdiges Sandwich, zwei Scheiben billiges Schwarzbrot. Um der Tochter zu zeigen, dass es mit einer Bulette belegt war, klappte er die Scheiben auseinander. In der Mitte lag (das sah er sofort) ein rohes Menschenherz. Der Vater war beunruhigt, dass das Herz nicht gekocht war, dass man das Sandwich nicht essen konnte, wickelte es wieder ein und sagte verstört:

»Ich habe das Sandwich verwechselt, ich bringe dir ein anderes.«

Die Tochter aber trat näher und betrachtete es mit komischem Gesichtsausdruck. Da steckte der Vater das Paket in die Jackentasche und legte schützend die Hand darauf, damit die Tochter es ihm nicht wegnehmen konnte.

Sie stand neben ihm, den Kopf gesenkt, mit ausgestreckter Hand:

»Gib es mir, Papa, ich habe Hunger, ich habe großen Hunger.«

»Du sollst dieses scheußliche Zeug nicht essen.«

»Gib her«, sagte sie traurig.

Sie streckte ihre geschmeidige Hand nach seiner Tasche aus, aber der Vater wusste, wenn sie das Sandwich essen sollte, würde sie sterben.

Also wandte er sich um, holte das Paket aus der Tasche, packte das Sandwich aus und begann das rohe Herz schnell selbst zu essen. Augenblicklich füllte sich sein Mund mit Blut.

Jetzt sterbe ich, dachte er, wie gut, dass ich früher gehe als sie.

»Können Sie mich hören, machen Sie die Augen auf!«, sagte jemand.

Mit Mühe bekam er die Lider auseinander und erblickte wie im Nebel das verschwommene Gesicht des Arztes.

»Ich höre Sie«, antwortete er.

»Welche Blutgruppe haben Sie?«

»Die gleiche wie meine Tochter.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja, ganz sicher.«

Sogleich wurde er irgendwohin gefahren, sein linker Arm wurde mit einem Riemen abgeschnürt, in die Vene wurde eine Nadel eingeführt.

»Was ist mit ihr?«, fragte der Vater.

»Was meinen Sie?«, fragte der Arzt, ganz in seine Arbeit vertieft.

»Lebt sie?«

»Was denken Sie denn!«, entgegnete der Arzt wie nebenbei.

»Sie lebt?!«

»Bleiben Sie liegen, bleiben Sie liegen«, rief er.

Der Vater lag da und hörte, wie neben ihm jemand röchelte, und er weinte.

Dann hantierten sie an ihm herum, und er versank wieder im Nichts, wieder war es überall grün, aber da weckte ihn ein Geräusch: die Tochter, die auf dem Nachbarbett lag, röchelte so laut, als ob sie nach Luft ringe. Er betrachtete sie von der Seite. Ihr Gesicht war weiß, der Mund halb geöffnet. Blut lief in einem Schlauch aus seinem Arm in ihren. Ihm war ganz leicht zumute, er versuchte geradezu, sein Blut anzutreiben, er wollte, dass es ganz und gar in den Körper seiner Tochter flösse. Er wollte sterben, damit sie am Leben blieb.

Dann war er plötzlich wieder in der Wohnung, in dem riesigen grauen Haus. Seine Tochter war nicht da. Leise ging er sie suchen, sah in alle Winkel, fand aber keine Menschenseele. Da setzte er sich auf ein kleines Sofa, und dann legte er sich hin. Ihm war wohl zumute, als ob seine Tochter schon irgendwo einen Platz gefunden hätte und glücklich und zufrieden lebte, und er sich nun ausruhen könnte. Er begann (im Traum) einzuschlafen, da erschien auf einmal die Tochter, wie ein Taifun kam sie ins Zimmer gefegt, heulte auf, brachte ringsum alles zum Zittern, krallte ihre Fingernägel in den Ellenbogen seines rechten Arms, bis unter die Haut. Er fühlte einen schmerzhaften Stich, schrie vor Schreck auf und öffnete die Augen. Der Arzt hatte ihm gerade eine Spritze in die Vene des rechten Arms gejagt.

Seine Tochter lag neben ihm, atmete schwer, aber röchelte nicht mehr. Er stützte sich auf den Ellenbogen, sah, dass sein linker Arm nicht mehr abgeschnürt und jetzt verbunden war, und wandte sich an den Arzt:

»Doktor, ich muss dringend telefonieren.«

»Warum«, fragte der Arzt, »noch gibt es keinen Grund zum Telefonieren. Legen Sie sich hin, sonst gehen auch Sie noch … flöten.«

Aber bevor er ging, gab er dem Vater doch noch sein Handy, und der Vater rief zu Hause bei seiner Frau an, aber es war niemand da. Frau und Schwiegermutter waren wahrscheinlich früh am Morgen zur Leichenhalle gefahren, litten nun Höllenqualen und begriffen nicht, wo der Leichnam der Tochter hingekommen war.

Dem Mädchen ging es schon besser, aber sie war noch nicht bei Bewusstsein. Der Vater wollte unbedingt bei ihr auf der Intensivstation bleiben und tat deshalb so, als sterbe er. Der Nachtarzt war bereits weg, mehr Geld besaß der unglückliche Vater nicht, aber man machte noch ein EKG und ließ ihn liegen, offenbar hatte der Nachtarzt irgendwas ausgemacht oder es stimmte wirklich etwas nicht mit seinem Herz.

Der Vater überlegte, was er tun solle – runtergehen konnte er nicht, telefonieren erlaubten sie ihm nicht, er kannte niemanden auf der Station, alle waren beschäftigt. Was mochten seine beiden Frauen jetzt empfinden, seine »Mädchen«, wie er sie nannte – die Frau und die Schwiegermutter. Sein Herz tat weh. Er wurde an einen Tropf gehängt, wie seine Tochter.

Dann schlief er ein, und als er erwachte, lag seine Tochter nicht mehr neben ihm.

»Schwester, wo ist das Mädchen, das hier lag?«

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Ich bin immerhin ihr Vater. Wo ist sie?«

»Sie wurde in den Operationssaal gebracht, regen Sie sich nicht auf und bleiben Sie liegen. Sie dürfen nicht aufstehen.«

»Was ist mit ihr?«

»Weiß ich nicht.«

»Liebes Fräulein, rufen Sie den Doktor!«

»Die haben alle zu tun.«

Nebenan stöhnte ein alter Mann, und jemand, wahrscheinlich der Arzt, machte irgendwelche Sachen mit einer alten Frau und redete auf sie ein wie auf eine Dorftrine, laut und lachend:

»Na, Omchen, willst du Suppe?« Pause. »Was für Suppe willst du denn?«

»Mm«, sagte die Alte mit blecherner Stimme.

»Willst du Möhrchensuppe?« Pause. »Mit Möhrchen, willst du? Hast du schon mal Suppe mit Möhrchen gegessen?«

Da antwortete die Alte:

»Möhrchen … mit Öhrchen.«

»Du kannst es!«, rief der Arzt.

Der Vater lag im Bett und regte sich auf. Da wurde sein Mädchen irgendwo operiert, da saß irgendwo seine vor Leid fast verrückt gewordene Frau, daneben die zitternde Schwiegermutter, und er … Der junge Arzt untersuchte ihn, wieder gaben sie ihm eine Spritze, und er fiel in tiefen Schlaf.

Am Abend stand er leise auf und ging so, wie er war, barfuß und im Krankenhaushemd, aus dem Zimmer. Er schaffte es unbemerkt bis zur Treppe und ging die kalten Stufen nach unten, wie ein Gespenst. Er stieg zum Keller hinunter, orientierte sich an dem Pfeil, auf dem »Pathologie« stand.

Da rief ein Typ im weißen Kittel:

»Hallo, was machen Sie hier?«

»Ich komme aus der Leichenhalle«, entgegnete der Vater, »ich habe mich verirrt.«

»Was heißt, aus der Leichenhalle?«

»Ich bin raus, aber meine Papiere sind drin geblieben. Ich möchte zurück, aber die Leichenhalle ist verschwunden.«

»Ich verstehe gar nichts«, sagte der weiße Kittel, hakte ihn unter und führte ihn den Gang entlang.

Dann fragte er:

»Sie sind auferstanden?«

»Ich bin wieder lebendig geworden, niemand war da, ich bin los, und dann habe ich doch beschlossen, zurück zu gehen, damit sie mich registrieren.«

»Unglaublich«, antwortete der Weißkittel.

Sie kamen zur Pathologie, und der Arzthelfer dort empfing sie mit Flüchen. Der Vater hörte sich das alles an und sagte:

»Meine Tochter ist auch hier, sie muss nach der Operation hierhergebracht worden sein.«

Er nannte ihren Namen.

»Sie ist nicht hier, hier nicht! Da haben mir heute Morgen schon welche einen Knoten ins Gehirn geplappert! So eine gibt’s hier nicht! Die haben uns hier völlig wahnsinnig gemacht! Und jetzt noch dieser Verrückte! Bist wohl aus der Klapsmühle ausgerissen, was? Wo kommt er her?«

»Er ist im Gang umhergeirrt«, antwortete der Weißkittel.

»Ruf bloß die Wache«, sagte der Arzthelfer und fluchte erneut.

»Lassen Sie mich zu Hause anrufen«, bat der Vater. »Jetzt weiß ich’s wieder, ich habe auf der Intensivstation gelegen, im zweiten Stock. Ich habe mein Gedächtnis verloren, ich bin nach der Explosion auf der Warschauer Straße hierhergekommen.«

Da wurden die beiden still. Die Explosion auf der Warschauer war am Tag zuvor passiert. Sie führten den zitternden, barfüßigen Mann zu einem Tisch, auf dem ein Telefon stand.

Die Frau nahm den Hörer ab und heulte sofort los:

»Du! Du! Wo treibst du dich rum! Ihr Leichnam wurde weggeschafft, wir wissen nicht, wo sie ist! Und du treibst dich rum! Und keine Kopeke im Haus! Wir konnten nicht mal das Taxi bezahlen! Hast wohl alles du genommen, was?«

»Ich, ich war bewusstlos und bin ins Krankenhaus gekommen, auf die Intensivstation …«

»Wo, in welches?«

»In dasselbe wie sie …«

»Aber wo ist sie? Wo?«, heulte die Frau.

»Ich weiß nicht, ich weiß es selber nicht. Ich bin völlig nackt, bring mir was mit. Ich stehe barfuß in der Leichenhalle. Welches Krankenhaus ist das hier?«

»Wie bist du bloß dorthin geraten, ich verstehe überhaupt nichts mehr«, heulte die Frau wieder.

Er reichte den Hörer an den Weißkittel weiter. Der teilte der Frau seelenruhig, als ob ihn das alles nicht juckte, die Adresse des Krankenhauses mit und legte auf.

Der Arzthelfer brachte dem Vater einen Kittel und irgendwelche ausgeleierten Filzlatschen, offenbar hatte er Mitleid mit diesem seltsamen Menschen bekommen, und er schickte ihn zur Pforte am Eingang.

Dorthin kamen seine Frau und die Schwiegermutter mit gleichermaßen aufgequollenen Gesichtern. Sie zogen ihm Kleider und Schuhe an, umarmten ihn, hörten sich glücklich weinend an, was er ihnen zu erzählen hatte, und dann setzten sie sich ins Wartezimmer, denn man hatte ihnen gesagt, dass ihr Mädchen operiert worden und außer Lebensgefahr sei und jetzt auf der Intensivstation liege.

Zwei Wochen später konnte sie schon wieder aufstehen. Der Vater führte sie auf dem Gang der Station spazieren und wiederholte immer wieder, dass sie nach der Explosion noch gelebt hätte, das sei einfach ein Schock gewesen, ein Schock. Niemand hätte das gemerkt, aber er hätte es gleich gewusst.

Allerdings sagte er nichts über das rohe Menschenherz, das er essen musste, damit sie es nicht bekam. Aber das war ja im Traum gewesen, und was im Traum ist, zählt nicht.