Familiäre Herkunft und Jugendjahre

Marcus Tullius Cicero wurde am 3. Januar 106 v. Chr. auf dem Familiengut in Arpinum, ungefähr 100 km südöstlich von Rom, geboren. Die hoch über dem Flusstal des Liris, des heutigen Garigliano, gelegene befestigte Bergstadt hatten die Römer gegen Ende des 4. Jahrhunderts den Samniten entrissen und in ihr Staatsgebiet inkorporiert.1 Die Arpinaten gehörten dem italischen Volksstamm der Volsker an, sie sprachen nicht die Sprache der Römer, Latein, sondern einen dem Umbrischen verwandten Dialekt. Schon aus diesem Grunde konnten sie anders als latinische Gemeinden, mit denen Rom von alters her eine Sprach- und Rechtsgemeinschaft bildete, nicht zu vollem Recht in die römische Bürgerschaft aufgenommen werden. Sie bildeten eine Gemeinde ohne Stimmrecht, eine civitas sine suffragio, innerhalb des römischen Staates. Von Zeit zu Zeit schickte der Stadtpraetor, der in Rom als oberster Gerichtsherr fungierte, einen Stellvertreter, einen praefectus, der dafür zu sorgen hatte, dass die lokale Rechtspflege sich den Normen des römischen Rechts anglich. Im übrigen verwalteten die Arpinaten ihre lokalen Angelegenheiten selbst, ihre waffenfähige Mannschaft diente im römischen Bürgeraufgebot, doch an den politischen Rechten römischer Bürger hatten sie nicht teil.

Die unausbleibliche Folge dieses Zwischenstadiums war, dass im Laufe einiger Generationen eine Assimilierung an das herrschende Staatsvolk eintrat. Am sinnfälligsten trat das an der Übernahme der lateinischen Sprache in Erscheinung. Damit war die Voraussetzung für die gleichberechtigte Aufnahme in den römischen Bürgerverband gegeben, und im Jahre 188 wurde sie durch ein tribunizisches Gesetz, ein Plebiszit, vollzogen.2 Das kleine Arpinum war ein getreues Abbild des großen Rom: Die Jahresmagistrate, der Stadtrat und die Volksversammlung entsprachen den politischen Institutionen des Gesamtstaates, den Magistraten mit den Konsuln an der Spitze, dem Senat und den Komitien. Arpinum wurde eine reguläre Landstadt römischer Bürger, ein municipium civium Romanorum. Auch was die Gesellschaft anbelangt, war die Stadt, wie andere Munizipien auch, ein Spiegelbild Roms. Hier wie dort bestand die regierende Klasse aus wohlhabenden Grundbesitzern, die über die Ressourcen Zeit und Geld verfügten, um ihr Leben der Politik widmen zu können. Sie allein waren in der Lage, sich in die unbesoldeten öffentlichen Ämter wählen zu lassen und lebenslang als Mitglieder den Ratsversammlungen, dem Senat in Rom oder den Stadträten in den Munizipien, anzugehören. Was in Rom die großen Familien der Nobilität, die Scipionen, die Meteller oder die Gracchen, um nur sie zu nennen, bedeuteten, das waren in Arpinum die Marii, die Gratidii und die Tullii mit dem Beinamen Cicero. Diese drei Familien repräsentierten nach allem, was wir wissen, den Kern der regierenden Klasse in der kleinen Stadt.

Von den lokalen Aristokratien Italiens wissen wir in aller Regel Nennenswertes nur, wenn es einzelnen ihrer Angehörigen gelang, in die regierende Klasse des Gesamtstaates, die Senatsaristokratie Roms, aufzusteigen. Dazu war es notwendig, die Stufen der Ämterlaufbahn, nach Möglichkeit bis zum Spitzenamt des Konsulats, zu durchlaufen, und das war nur möglich, wenn es einem gelang, sich bei den jeweiligen Wahlen gegen starke Konkurrenz durchzusetzen. Aufsteiger aus Familien, die in Rom noch keinen Namen hatten – sie hießen „Neulinge“, lateinisch homines novi –, hatten es schwer, schwerer als Angehörige der alten stadtrömischen Familien. Notwendig waren Ehrgeiz, häusliches Vermögen, persönliche Belastbarkeit, besondere Fähigkeiten und gute Beziehungen, am besten Förderung durch einflussreiche Angehörige der stadtrömischen Aristokratie. Nichts vermag dies besser zu erläutern als der Aufstieg von Ciceros älterem Landsmann Gaius Marius, der siebenmal, ganz unerhört bis dahin, zum Konsul gewählt wurde.3 Er verdankte diesen Aufstieg gewiss seiner militärischen Tüchtigkeit angesichts der Herausforderung durch äußere Feinde, aber der Einstieg in die Ämterlaufbahn des römischen Staates wurde ihm durch die Förderung seitens des mächtigen Familienclans der Meteller ermöglicht. Für den brennenden Ehrgeiz, der ihn beherrschte und ihm wie dem römischen Staat am Ende zum Verhängnis wurde, ist die Illoyalität bezeichnend, mit der er seinem Förderer Quintus Caecilius Metellus um des eigenen Fortkommens willen das Oberkommando auf dem afrikanischen Kriegsschauplatz entriss, um als Konsul den im Grunde schon gewonnenen Krieg gegen Iugurtha zu höherem eigenen Ruhm zu Ende zu bringen.

Ciceros Geburt fällt in eine Zeit heftigen inneren Streits, und dazu gehörte im letzten Drittel des 2. Jahrhunderts auch der Kampf um die offene oder geheime Stimmabgabe bei Wahlen und bei Abstimmungen in Volksversammlungen und Gerichten.4 Die althergebrachte offene Stimmabgabe erlaubte den großen alten, ebenso einflussreichen wie herrschaftsgewohnten Familien die Kontrolle über das Abstimmungsverhalten ihrer weitverzweigten Klientel abhängiger oder bestochener Leute und war somit Garant ihrer Macht bei Wahlen, Gesetzgebung und Gerichtsverfahren. Die an der Bewahrung des Althergebrachten Interessierten, die sogenannten Optimaten, verteidigten das Prinzip der offenen Stimmabgabe, während ihre Gegner zur Verbesserung ihrer Wahlchancen und ihrer Reformanliegen auf die Einführung der geheimen Abstimmung setzten. Der Kampf um diese Frage war in vollem Gange, als der junge, aus Arpinum stammende Gaius Marius, dem die Meteller den Weg zum Volkstribunat des Jahres 119 geebnet hatten, gegen den Willen beider Konsuln ein Gesetz durchbrachte, das den Einfluss der Nobilität auf das Abstimmungsverhalten weiter zu schwächen bestimmt war.5 Was damals in Rom geschah, hatte Rückwirkungen auf die römischen Munizipien. In Arpinum war offenbar Marcus Gratidius mit seinem Schwager Marius im Bunde, als er versuchte, auch in seiner Heimatstadt das geheime Abstimmungsverfahren einzuführen. Dabei stieß er auf den hartnäckigen Widerstand von Ciceros Großvater, der das optimatische Prinzip der offenen Stimmabgabe in den kleinen Verhältnissen von Arpinum bis an sein Lebensende erfolgreich verteidigte.6 Ciceros Großvater war mit Gratidia, der Schwester seines Opponenten, verheiratet, aber wie in Rom überlagerte der politische Streit die eng geknüpften Familienbündnisse. Auf der popularen Seite standen Marius und Gratidius, auf der anderen, der optimatischen, Ciceros Großvater. Auch er unterhielt Beziehungen zu einflussreichen stadtrömischen Familien mit optimatischer Orientierung. Für seinen erfolgreichen Widerstand gegen die Einführung der geheimen Stimmabgabe fand er die besondere Anerkennung des Marcus Aemilius Scaurus, der damals der Vormann der Optimaten im Senat war. Als Konsul sagte dieser im Jahre 115 bei einem Treffen zu Ciceros Großvater: „Hättest Du es doch vorgezogen, Marcus Cicero, mit solchem Mut und solcher Tatkraft zusammen mit uns in der großen Politik statt in der kleinstädtischen zu wirken!“7

Obwohl der Großvater es für seine Person ablehnte, die kleinstädtische mit der hauptstädtischen Bühne zu vertauschen, steht außer Frage, dass er bei seinen Beziehungen seinen beiden Söhnen Marcus und Lucius den Weg zu einer Ämterlaufbahn in Rom hätte ebnen können. Tatsächlich finden wir Lucius im Jahre 102 im Stab des berühmten Redners Marcus Antonius, als dieser damit beauftragt war, der Seeräuberplage im östlichen Mittelmeer ein Ende zu bereiten.8 Doch Lucius starb früh, ohne eine Spur im Ämterverzeichnis der römischen Republik zu hinterlassen. Ciceros Vater Marcus war wegen seiner schwachen Gesundheit zu einem zurückgezogenen Leben gezwungen, das er teils auf dem arpinatischen Familiengut und teils in Rom, wo er ein Haus besaß, verbrachte.9 Er widmete sich seinen Bildungsinteressen, die – so, wie die Dinge damals lagen – vornehmlich der griechischen Literatur und Wissenskultur galten. Seinem handfesteren Vater war bestimmt nicht geheuer, was der Sohn in seiner Muße trieb. Von ihm überliefert sein Enkel das Wort: „Unsere Leute gleichen syrischen Sklaven: Je besser einer Griechisch kann, desto weniger taugt er.“10 Der alte Gutsherr dachte noch wie der alte Cato, der seinem Sohn ins Stammbuch geschrieben hatte: „Über deine Griechen, mein Sohn, werde ich sagen, was ich in Athen für Erfahrungen gesammelt habe, und dass es gut ist, in ihre Bücher einen Blick zu tun, nicht sie durchzuarbeiten; ich werde erweisen, dass ihre Art höchst nichtsnutzig ist und unbelehrbar; und glaube nur, dies ist ein Prophetenwort: Sobald dieses Volk uns seine Bücher gibt, wird es alles ruinieren.“11 Das war die Reaktion auf den Zustrom griechischer Lehrer, die der römischen Jugend die neuartigen Wissensstoffe der Grammatik, Rhetorik und Philosophie vermittelten und damit, vornehmlich bei den Älteren, auf Misstrauen und Abneigung stießen. Der um die griechische Bildung ausgetragene Generationenkonflikt überlebte, wie das Beispiel von Ciceros Großvater und Vater zeigt, den älteren Cato, aber das Neue setzte sich durch. Die griechischen Wissensdisziplinen bürgerten sich in Rom ein, die Söhne der Oberschicht wurden von griechischen Lehrern unterrichtet und wuchsen auf diese Weise zweisprachig auf. Der Unterricht diente, von der Beherrschung der Welt- und Wissenschaftssprache der hellenistischen Welt einmal abgesehen, der Schulung der Redefähigkeit, und dementsprechend war die Königsdisziplin die griechische Rhetorik, die kunstgerechte Ausbildung des Redners, der zu einer öffentlichen Führungsrolle vor Gericht und in der Politik bestimmt war. Aber diese praktische Ausrichtung des Bildungsgangs schloss, wie nicht zuletzt das Beispiel des jungen Cicero lehrt, keineswegs aus, dass intellektuelle Bildung, vor allem in Gestalt der griechischen Philosophie, einzelnen Schülern zu einer lebensbestimmenden Erfahrung wurde. Anders als dem Großvater war schon dem Vater Ciceros die griechische Wissenskultur zum Lebensbedürfnis geworden, und er sorgte dafür, dass seine beiden Söhne, Marcus und der jüngere Bruder Quintus, mit ihr aufwuchsen.12

Von der Mutter wissen wir kaum etwas. Cicero selbst hat sie in seinen Briefen nur einmal, in einer Phase tiefster Depression, erwähnt: „O hätte meine Mutter mich nie empfangen und nicht nachher noch einen [den Bruder Quintus] geboren“ und in seinen Werken an keiner Stelle. Wir kennten nicht einmal ihren Namen, wenn Ciceros griechischer Biograph Plutarch ihn nicht überliefert hätte.13 Sie hieß Helvia und stammte, so Plutarch, der ihr eine untadelige Lebensführung nachrühmt, aus guter Familie. Ob es diejenige ist, die zu Beginn des 2. Jahrhunderts dem römischen Staat zwei Praetoren gestellt hatte,14 wissen wir nicht. Immerhin darf angenommen werden, dass Helvia der gleichen Gutsbesitzerschicht angehörte wie die Familie ihres Mannes. Von ihr steht fest, dass sie die praktische Tüchtigkeit einer Gutsbesitzerin verkörperte. Ihr jüngerer Sohn Quintus erwähnt einmal beiläufig in einem Brief, dass die Mutter auch leere Krüge versiegeln ließ, um zu dokumentieren, dass nicht Unbefugte sie geleert hätten.15 Eine penible Hausfrau dieser Art hätte der Wirtschaftsgesinnung des älteren Cato gewiss Genüge getan, und man darf annehmen, dass ihr Schwiegervater Gefallen an ihrer sorgfältigen Hauswirtschaft fand. Ihr Mann und ihre beiden Söhne waren wohl weniger beeindruckt. Ciceros Vater lebte, wie erwähnt, seinen Studien und geistigen Interessen, und die beiden Söhne bereiteten sich durch intensives Lernen auf eine öffentliche Karriere vor. Kein Zeugnis lässt vermuten, dass sie sich persönlich um die Routineaufgaben eines Gutsherrn, um Aussaat und Ernte, Arbeitsorganisation und Vermarktung, gekümmert hätten. Vermutlich entsprachen sie dem Typus des absentee landlords, der an der Bodenrente und an repräsentativer Ausgestaltung der Landsitze, weniger an rationeller Eigenwirtschaft interessiert war.16

Cicero und sein Bruder verbrachten schon in früher Jugend viel Zeit in Rom, aber sie entfremdeten sich ihrer engeren Heimat nicht. Marcus gibt im Einleitungsgespräch zum zweiten Buch seiner Schrift Über die Gesetze aus dem Jahre 52/51 ein anrührendes Zeugnis seiner bleibenden Verbundenheit mit den Wurzeln seiner Familie. Der Dialog spielt in Arpinum, in der Umgebung des Gutshauses, in dem Cicero geboren wurde, und er bekennt, diesen Ort, wann immer es ihm möglich sei, in der heißen Jahreszeit aufzusuchen: „Doch an eben dieser Stelle“, sagt er zu seinem Freund Atticus, „sollst Du wissen, wurde ich geboren, als der Großvater noch lebte und die Villa nach alter Sitte noch bescheidene Ausmaße hatte … Deshalb steckt tief in meinem Inneren auf unbeschreibliche Weise ein Gefühl desto größerer Freude …“, und er nennt Arpinum seine und seines Bruders wahre Heimat, „denn hier sind wir aus uraltem Stamm hervorgegangen, hier sind unsere Heiligtümer, hier unser Geschlecht und viele Spuren, die an die Vorfahren erinnern“.17 Der Hauptort seiner Studien und das Ziel seines Ehrgeizes war freilich Rom, das gemeinsame Vaterland aller Römer, und was ihn von Jugend auf antrieb, war der Ehrgeiz. In einem Brief vom Herbst 54 erinnerte er seinen Bruder an das Lebensmotto, das er sich schon als Kind aus Homers Ilias gewählt hatte, „weit hervorzuragen und anderen überlegen zu sein“.18 Glaubt man Plutarchs Schilderung, so war der leicht und schnell lernende Knabe geradezu ein Wunderkind und unter Mitschülern und deren Eltern Gegenstand von Bewunderung und Neid.19 Nach dem Erlernen der elementaren Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens durchliefen die Schüler ein zweistufiges Kurssystem. Zunächst besuchten sie den Unterricht bei Grammatikern genannten Lehrern und lasen unter ihrer Anleitung einen Kanon von Dichtern und Prosaikern, die sprachlich und sachlich erklärt wurden. Hauptziel des Unterrichts war die Erweiterung der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, und dazu gehörte auch die Anleitung zu eigener dichterischer Produktion. Die wissenschaftlichen Grundlagen dieses griechischen Literaturunterrichts war in hellenistischer Zeit von bedeutenden Philologen gelegt worden, die an den großen Königsbibliotheken in Alexandria und Pergamon wirkten, und schon im Laufe des 2. Jahrhunderts war die Methode der hellenistischen Philologie auf die ältesten lateinischen Sprachdenkmäler und auf die noch verhältnismäßig junge römische Dichtung übertragen worden.20 Noch vor dem Tod des römischen Nationaldichters Quintus Ennius, 169 v. Chr., war ein berühmter griechischer Philologe, Krates von Mallos, ein Schüler des noch berühmteren Aristarch von Samothrake, als Gesandter des pergamenischen Königs Eumenes II. nach Rom gekommen und hatte dort die grammatischen Studien bekannt gemacht. Eine Generation später begann Lucius Aelius Stilo mit der philologischen Erklärung lateinischer Sprachdenkmäler. Dieser bedeutende Gelehrte, ein Angehöriger des römischen Ritterstandes, hatte es nicht nötig, zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes Schulunterricht zu geben. Doch Cicero hat ihn bereits in seiner Jugend gehört und ihm später im Rückblick auf seine eigene Bildungsgeschichte ein Denkmal gesetzt.21 Seinem Einfluss ist es wohl zu danken, dass in Ciceros Jugendzeit die Schulkinder das von ihm sprachlich und sachlich erläuterte Zwölftafelgesetz auswendig lernen mussten. Eine Generation später war das schon wieder aufgegeben.22 Die Beschäftigung mit den Sprachdenkmälern förderte die Kenntnis der Vergangenheit. Nicht zuletzt darauf beruhte das Ansehen, das die Philologie gewann, und dies wiederum förderte auch die Einrichtung von Grammatikerschulen, von denen es in Rom zeitweise zwanzig gegeben haben soll.23 Sowohl griechische als auch römische Grammatiker erteilten Sprach- und Literaturunterricht. Einer von Ciceros griechischen Lehrern war auch der aus dem syrischen Antiocheia stammende Dichter Archias, dem er später in öffentlicher Rede seine Dankbarkeit dafür bezeugt hat, dass er durch ihn in die Welt der Literatur und der Studien eingeführt worden sei.24 Zur Schulung der Ausdrucksmöglichkeiten wurde im Unterricht viel übersetzt, und die Schüler wurden zu eigenen Dichtungsversuchen in griechischer und lateinischer Sprache angeleitet. Bei dem jungen Cicero fiel dieser Unterricht auf fruchtbaren Boden. Er beherrschte den Wortschatz beider Sprachen, war mit ihrer Literatur vertraut und lernte, selbst zu dichten. Von dem umfangreichen dichterischen Jugendwerk, das es von ihm gab, wird noch zu reden sein.

An den Grammatikunterricht schloss sich die Ausbildung bei Rhetoriklehrern an. Cicero begann damit bereits im Alter zwischen zwölf und vierzehn Jahren.25 Auch die Rhetorik war eine griechische Lehrdisziplin. Ihre Grundlage war ein in Lehrbücher gefasstes System, dessen Anfangsgründe im 5. und 4. Jahrhundert gelegt worden waren und im 2. Jahrhundert mit der sogenannten Stasislehre des Hermagoras, einer juristischen Klassifizierung der möglichen gerichtlichen Streitfälle, einen Abschluss gefunden hatte. Weiterhin spielte das Studium veröffentlichter Reden als Muster eine wichtige Rolle im Unterricht. An ihrem Vorbild orientierten sich die Versuche der Schüler, Übungsreden zu vorgegebenen Themen und Rechtsfällen zu halten. Vorbilder waren die berühmten Reden der attischen Meister des 4. Jahrhunderts und die Proben römischer Redekunst, die seit der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts in Schriftform veröffentlicht worden waren. Cicero berichtet davon, dass er die Reden des gefeierten Redners Lucius Crassus für das Richtergesetz des Quintus Servilius Caepio aus dem Jahre 106 und für dessen jüngeren Verwandten aus dem Jahre 95 eifrig studierte, ja, dass er den Schlussteil der berühmten Verteidigungsrede, die Gaius Sulpicius Galba im Jahre 109 gehalten hatte, wortwörtlich auswendig lernte.26 Den Rhetorikunterricht selbst hielten griechische Lehrer in griechischer Sprache. Nach Ciceros eigener Schilderung wurden die berühmten Werke der griechischen Redeliteratur übersetzt, und daran schlossen sich Versuche zu freierer Wiedergabe des Gelesenen an.27 In griechischer Sprache wurde noch gelehrt, als Ciceros eigener Sohn Rhetorik studierte. Damals, im Jahre 54, verfasste der Vater für den Sohn ein in Katechismusform gekleidetes Aide-mémoire, das auf Latein den Stoff repetierte, den der Sohn auf Griechisch hatte lernen müssen.28 Als Cicero sich in seiner Jugend in die Kunst der Rede einarbeitete, in der er zeitlebens brillieren sollte, gab es bereits Bestrebungen, das Griechische zu verdrängen und Rhetorik ausschließlich in lateinischer Sprache zu lehren. Im ersten Jahrzehnt des 1. Jahrhunderts gründete ein gewisser Lucius Plotius Gallus die Schule der sogenannten lateinischen Rhetoren, rhetores Latini, die sofort großen Zulauf fanden. Der zwölfjährige Cicero, dem das Lernen schon zur zweiten Natur geworden war, wäre gerne in die neue Schule gegangen, aber er wurde daran gehindert. Im Rückblick auf diese Episode seiner Kindheit äußerte er sich später brieflich wie folgt: „Ich habe in Erinnerung behalten, dass, als wir noch Kinder waren, ein gewisser Plotius als erster (Rhetorik) auf Latein zu lehren begann. Als ein Ansturm auf ihn stattfand, weil gerade die Lerneifrigsten zu ihm in die Schule gingen, schmerzte es mich, dass mir nicht erlaubt wurde, das Gleiche zu tun. Ich wurde durch die Autorität hochgebildeter Männer zurückgehalten, die der Meinung waren, dass der Geist durch die griechischen Übungen bessere Nahrung fände.“29 Hinter den hochgebildeten Männern verbargen sich wahrscheinlich einflussreiche Freunde der Familie, die beiden Mucii Scaevolae, die als Juristen renommiert waren, und der große Redner Lucius Crassus, der als Zensor zusammen mit seinem Kollegen Gnaeus Domitius Ahenobarbus im Jahre 92 ein Edikt gegen die neumodische Schule der rhetores Latini erließ.30

Der Grund für die öffentliche und die private Intervention gegen die lateinische Rhetorenschule lag nicht etwa, wie behauptet worden ist, in einer optimatischen Aversion gegen die angeblich populare Tendenz der rhetores Latini,31 sondern in dem Vorbehalt gegen eine rein formale Schulung der Redefähigkeit ohne Verankerung im Widerlager der sachlichen Weltorientierung, die die griechische Wissenskultur, insbesondere die Philosophie, zu bieten hatte. Rhetorik und Philosophie waren feindliche Geschwister, die einen gemeinsamen Ursprung in der Sophistik des 5. Jahrhunderts hatten. Sie waren verschwistert und zugleich Konkurrentinnen im Kampf um die Jugendbildung, und als solche traten sie auch in Rom in Erscheinung, seitdem griechische Lehrer den neu erschlossenen Markt überschwemmten. Von der damit ausgelösten Irritation war bereits die Rede. Ganz im Sinne des älteren Cato hatte der Senat im Jahre 161 sogar einen Ausweisungsbeschluss für Rhetoren und Philosophen gefasst.32 Aber das konnte den Zustrom nicht bremsen, und mit dem steigenden Angebot hielt der Bedarf an Unterweisung in den neuen Disziplinen Schritt. Ja, es entstand ein Bildungstourismus, dessen Zielorte die Zentren griechischer Bildung in Athen und Rhodos sowie in den Städten der kleinasiatischen Ägäisküste waren.33 So konnte es nicht ausbleiben, dass das römische Publikum mit den Einwänden der Philosophie gegen die Rhetorik konfrontiert wurde. Platon hatte der sophistischen Rhetorik zwei gewichtige Hindernisse in den Weg gelegt. In seinem Dialog Gorgias – benannt nach dem Großmeister der sophistischen Rhetorik – erscheint die Überredungskunst als amoralisches Werkzeug der Selbstverteidigung und der Machtausübung ohne Rücksicht auf Recht und Moral, und im Dialog Phaidros wird die These vertreten, dass nur der Philosoph in der Lage sei, die Rhetorik in den Rang einer wissenschaftlichen Disziplin zu erheben, indem er die Kunst der Rede auf die Methode der Dialektik gründet, die durch Zerlegung der Begriffe (dihairesis) und sinnvolle Vereinigung des Getrennten (synagoge) zur Wahrheit gelangt. Wie die erhaltenen Lehrschriften des Aristoteles eindrucksvoll belegen, wurden Dialektik und Rhetorik zusammen mit den anderen theoretischen Wissensgebieten in die Zuständigkeit der Philosophie gezogen. Auch in Rom wurden die vom Standpunkt sachlicher und methodischer Überlegenheit geführten Angriffe der Philosophie gegen die Schulrhetorik zur Kenntnis genommen. Ja, es hat den Anschein, dass dies der Hintergrund für das zensorische Edikt gegen die rhetores Latini als Lehrer einer bloßen Zungenfertigkeit war. Jedenfalls hat Cicero später, in seinem Dialog über den Redner, den Urheber des Edikts Lucius Crassus seinen Standpunkt in diesem Sinne erläutern lassen: „Die Auswahl und Fügung der Worte am Satzende sind leicht zu erlernen beziehungsweise leicht einzuüben auch ohne feste Regeln. Die Masse der Sachthemen ist (hingegen) riesig, und da über diese schon die Griechen nicht verfügen und unsere Jugend sie aus diesem Grunde beim Lernen beinahe verlernt hat, so sind sogar, bei den Göttern, in den beiden letzten Jahren lateinische Redelehrer aufgetreten. Denen habe ich als Zensor durch mein Edikt das Handwerk gelegt – nicht weil ich, wie manche Leute gesagt haben sollen, nicht möchte, dass der Geist der jungen Leute geschärft werde, sondern im Gegenteil, weil ich nicht wollte, dass ihr Geist abgestumpft und die Unverschämtheit gestärkt würde. Denn bei den Griechen – sie mögen sein, wie sie nun einmal sind – sah ich doch immerhin neben der bloßen Übung im Reden ein gewisses Maß an Theorie und ein Wissen, das einer höheren Bildung würdig ist; was jedoch diese neuen (lateinischen) Lehrmeister anbelangt, so erkannte ich, dass sie nichts lehren konnten, außer dreist zu sein; dies aber ist, selbst wenn es mit guten Absichten verbunden ist, schon um seiner selbst willen, unbedingt zu meiden. Da das aber allein gelehrt wurde und es sich um eine Schule der Unverschämtheit handelte, hielt ich es für die Pflicht eines Zensors, dafür zu sorgen, dass es nicht weiter um sich griff. Doch setze ich meine Entscheidung und meinen Entschluss nicht so absolut, dass ich daran verzweifelte, dass das, worüber wir sprechen, nicht auf Latein gelehrt und zur Vollendung gebracht werden könnte, denn sowohl unsere Sprache als auch unsere natürlichen Anlagen erlauben es, jene alte und vorzügliche Wissenschaft der Griechen in unsere Geisteskultur zu übernehmen, aber dazu bedarf es gebildeter Männer, von denen es bisher bei uns, jedenfalls auf diesem Gebiet, keine gibt; wenn es sie aber erst einmal gibt, wird man sie den Griechen vorziehen dürfen.“34 Die hier beschworene zukünftige Entwicklung sollte sich zu Ciceros Lebzeiten – unter seiner Führung – vollziehen.

Zu dieser Rolle einer geistigen Führerschaft befähigte Cicero die gediegene griechische Bildung, die er sich in seiner Jugend aneignete. Er erhielt nicht nur Rhetorikunterricht, sondern auch für Hauslehrer in Philosophie wurde gesorgt. Der erste war ein Epikureer namens Phaidros. Cicero lernte ihn persönlich schätzen und behielt ihn in guter Erinnerung, auch wenn er sich von dem Lebensideal Epikurs und seiner dem öffentlichen Leben abgewandten Philosophie wenig angezogen fühlte, nachdem er die Lehren anderer Philosophenschulen kennen gelernt hatte.35 Schon wichtiger war für ihn die frühe Begegnung mit dem Stoiker Diodotos, der ihn in die stoische Dialektik einführte. Von ihr sagte er später, dass sie eine gewissermaßen zusammengezogene und gestraffte Kunst der Rede sei. Cicero behielt Diodotos auch nach Abschluss seiner Lehrzeit bei sich, und im Sommer 59 ist der ehemalige Lehrer im Haus seines Schülers gestorben.36 Die eigentliche Bekehrung zur Philosophie geschah durch die Begegnung mit Philon von Larisa, der in Ciceros Jugend der platonischen Akademie in Athen vorstand. Im Jahre 88 hatte er zusammen mit anderen Athen verlassen, als die Stadt unter Bruch des Bündnisses mit Rom auf die Seite des Königs Mithradates VI. von Pontos wechselte, und war nach Rom gekommen. Philon vertrat die erkenntnistheoretische Position der von Karneades begründeten sogenannten Neuen Akademie. Sie bestritt die Möglichkeit absoluter Wahrheitserkenntnis und suchte stattdessen auf dem Wege kritischer Prüfung affirmativer Aussagen zu überzeugenden Annahmen zu gelangen, die es erlaubten, in theoretischem Meinungsstreit ebenso wie in praktischen Entscheidungssituationen eine begründete Wahl zu treffen.37 Philon gewann Cicero für diese Richtung des Philosophierens, und etwas von der Begeisterung der Begegnung mit diesem Lehrer findet einen Nachhall in Ciceros Schilderung seines Bildungsganges, die er im Jahre 46 in seinem Dialog Brutus gab: „Zu ebendieser Zeit, als das Schulhaupt der Akademie Philon mit gutgesinnten Bürgern Athens aus der Heimatstadt geflohen und nach Rom gekommen war, habe ich mich ihm ganz hingegeben, angespornt von einer ganz wunderbaren Begeisterung für die Philosophie.“38 Cicero wurde ungewöhnlich lange bei seinen Studien festgehalten; denn wie er selbst an gleicher Stelle sagt, erschien ihm nach der Machtergreifung der Popularen unter Marius und Cinna die Möglichkeit, als Sachwalter auf dem Forum zu wirken und so den Grund für eine Ämterlaufbahn in Rom zu legen, auf unabsehbare Zeit verbaut. Aber an dem offenbar früh gefassten Lebensplan hielt er fest. Gewiss hatten die philosophischen Studien für ihn einen Eigenwert, aber sie waren doch auch eingebunden in den Zweck einer Schulung der Kunst des Redens und Argumentierens. Von Philon ist überliefert, dass er auch Rhetorik lehrte,39 und überhaupt ist zu bedenken, dass die von ihm geübte Methode des Philosophierens, in allen theoretischen und praktischen Streitfragen durch Prüfung der Standpunkte das jeweils Überzeugende zu eruieren, der Vorgehensweise des Redners näher stand als der Dogmatismus der konkurrierenden Philosophenschulen. Bezeichnenderweise war Cicero die stoische Dialektik als eine Form der gestrafften Rede das Wichtigste, was ihm sein Lehrer Diodotos mitgeben konnte. Auch schloss die Hingabe an Philon keineswegs aus, dass er die Gelegenheit wahrnahm, bei dem berühmten griechischen Rhetor Apollonios Molon zu hören, als dieser zweimal, in den Jahren 87 und 81, als rhodischer Gesandter nach Rom kam und bei diesen Besuchen in der Stadt Proben seiner Kunst gab. Im Rückblick auf diese Zeit des Lernens und Übens hat Cicero im Brutus festgehalten: „Täglich hielt ich (zusammen mit Mitschülern) ausgearbeitete Übungsreden“, dabei gebrauchte er einen neugebildeten Ausdruck, den es, nach seinen Worten zu urteilen, in seiner Jugendzeit noch gar nicht gab (commentabar declamitans).40 Diese Übungsreden wurden gelegentlich in lateinischer Sprache gehalten, meist aber, schon um der griechischen Lehrer willen, die kein Latein verstanden, auf Griechisch.

In Rom war es üblich, dass junge Männer zur Vorbereitung auf eine öffentliche Laufbahn ein Praktikum bei angesehenen Rednern und Rechtskundigen als deren Zuhörer und Gehilfen absolvierten, das sogenannte tirocinium fori, den Rekrutendienst auf dem Forum. Mit der Anlegung der Erwachsenentoga im Jahre 90 hatte der junge Cicero das dafür nötige Alter erreicht, und er fand durch Vermittlung seines Vaters Aufnahme in die Gefolgschaft eines großen Rechtsgelehrten, des schon achtzigjährigen Quintus Mucius Scaevola Augur, und erlebte so aus nächster Nähe, wie dieser auf dem Forum und bei sich zu Hause Rechtsuchenden seine Gutachten erteilte.41 Cicero wurde auf diese Weise in das römische Privatrecht eingeführt, in ein Sachgebiet also, das nicht in die Kompetenz griechischer Rhetoren und Philosophen fiel und ohne dessen Kenntnis, wie Cicero seinen Lehrer in dem Dialog über den Redner sagen lässt, ein Sachwalter Gefahr läuft, der Lächerlichkeit anheim zu fallen: „Denn sich auf dem Forum herumzutreiben, an den Tribunalen der Praetoren an deren Rechtsprechung zu kleben, an den Verhandlungen bei großen Privatrechtsfällen teilzunehmen, bei denen oftmals nicht über eine Tatsache, sondern über Recht oder Unrecht gestritten wird, sich in den Prozessen vor dem Zentumviratsgericht groß zu tun, in denen es um die Ersitzung von Eigentumsrechten, Vormundschaften, Geschlechtszugehörigkeit, agnatische Verwandtschaften, Anspülungen und Umspülungen, Schuldverpflichtungen, Eigentumserwerb, Wände, Fenster und Dachtraufen, gebrochene und gültige Testamente sowie unzählige andere Dinge geht, wenn man überhaupt nicht weiß, was Eigentum, was Fremdgut, wodurch schließlich jemand Bürger oder Fremder, Sklave oder Freier ist, das kennzeichnet eine eklatante Unverschämtheit.“42 So sehr Cicero von der Rechtskenntnis des älteren Mucius Scaevola und, nach dessen Tod im Jahre 87, des jüngeren Scaevola, der den unterscheidenden Beinamen Pontifex trägt, auch profitierte, so fiel seine Lehrzeit auf dem Forum doch in eine ungünstige Zeit. Nach dem tragischen Scheitern des Volkstribunen Livius Drusus erhoben sich die Bundesgenossen, als ihnen das in Aussicht gestellte römische Bürgerrecht doch wieder verweigert worden war, gegen Rom, es gab Krieg, das Forum verwaiste, und politische Prozesse beschränkten sich auf die Verfolgung der Anhänger des ermordeten Volkstribunen. In seinem Dialog Brutus hat Cicero die Enttäuschung darüber so beschrieben: „(Der große Redner) Crassus war tot, Cotta verbannt, da kamen wir auf das Forum. Hortensius war im Krieg, im ersten Jahr [90 v. Chr.] als Soldat, im zweiten als Militärtribun, Sulpicius (Rufus) diente als Legat; auch Antonius war abwesend; nur nach dem Gesetz des (Volkstribunen) Varius (Hybrida) wurde Gericht gehalten, die übrigen Verfahren waren wegen des Krieges unterbrochen.“43

Der Krieg beendete das wenig befriedigende Praktikum auf dem Forum. Mit siebzehn Jahren wurde Cicero eingezogen. Wir finden ihn im Jahre 89 als Angehörigen von Stäben oberster Befehlshaber. In der Umgebung des Konsuls Gnaeus Pompeius Strabo wurde er Zeuge einer Unterhandlung zwischen diesem und dem Anführer der gegen Rom kämpfenden Marser Publius Vettius Scato.44 Im weiteren Verlauf des Jahres begegnen wir ihm im Lager des Publius Cornelius Sulla vor Nola in Kampanien. Dort war er Zeuge einer mirakulösen Opferhandlung, die Sulla später in seiner Autobiographie erwähnt hat.45 Als Angehöriger des Ritterstandes diente der junge Rekrut nicht als gewöhnlicher Soldat, sondern als Offiziersanwärter in einer privilegierten Position.46 Für den anstrengenden und gefährlichen Dienst in der Truppe wäre er ohnehin ungeeignet gewesen. Noch neun Jahre später war er, wie er sich erinnerte, selbst den weitaus geringeren Strapazen eines Redners auf dem Forum nicht gewachsen: „Zu dieser Zeit“, heißt es im Brutus, „war ich extrem mager und körperlich schwach, der Hals lang und dünn. Diese Konstitution und dieses Aussehen waren nach allgemeiner Überzeugung nicht weit von Lebensgefahr entfernt, wenn Arbeit und Anstrengung der Stimme hinzukommen.“47 Es ist schwer vorstellbar, dass er die weitaus härteren Strapazen eines „marianischen Maulesels“ – dies war die scherzhafte Bezeichnung eines einfachen Soldaten der von Marius reformierten Armee – hätte überleben können. Märsche unter schwerer Traglast, die Knochenarbeit des Schanzens beim Aufschlagen der Lager und der Kampf mit blanker Waffe – dies alles wäre wohl über seine Kraft gegangen. Cicero quittierte den Kriegsdienst, sobald er konnte. Mit dem Heer, das der Konsul Sulla in Kampanien versammelte, nach Griechenland gegen König Mithradates zu ziehen, kam ihm sicher nicht in den Sinn. Vielmehr finden wir ihn im Jahr 88 wieder in Rom. Dort hörte er zusammen mit Freunden wie Quintus Pomponius Atticus die Reden des Volkstribunen Publius Sulpicius Rufus,48 der dafür kämpfte, dass das politische Ergebnis des Bundesgenossenkrieges, die gleichberechtige Aufnahme der Italiker in die römische Bürgerschaft, nicht durch kleinliche Manipulationen bei der Einweisung der Neubürger in die Stimmkörperschaften wieder in Frage gestellt würde. Sulpicius Rufus scheiterte unter dramatischen Umständen und kam ums Leben. Als er Marius durch Plebiszit das schon Sulla erteilte Kommando gegen König Mithradates übertrug, um diesen mitsamt seinem Anhang zur Unterstützung für sein politisches Programm zu gewinnen, marschierte Sulla an der Spitze seiner Soldaten nach Rom und erzwang eine Wende zu seinen Gunsten. Kaum aber war er nach Griechenland aufgebrochen, kam es in Rom erneut zu bürgerkriegsartigen Unruhen. Lucius Cornelius Cinna errichtete ein populares Regime, und der aus der Verbannung zurückgekehrte todkranke Marius fungierte im Jahre 86 noch einmal für einige Wochen als Konsul. Der zweifache gewaltsame Umsturz der Jahre 88 und 87 war von blutigen Massakern begleitet, dann folgten drei verhältnismäßig ruhige Jahre, solange Cinna das Konsulat innehatte und Sulla im Osten festgehalten war. Als jener gestorben war und dieser im Jahre 83 schließlich in Italien landete, kam es zu einem überaus grausamen Bürgerkrieg, in dem Sulla siegte. Er nahm blutige Rache an seinen Feinden und stellte als Diktator das wiederhergestellte optimatische Regime auf eine neue gesetzliche Grundlage. Alle diese Vorgänge waren von beispiellosen Gräueltaten begleitet, beide Seiten liquidierten wirkliche und vermeintliche Feinde, Sulla enteignete ganze Stadtgemeinden, um seine Veteranen auf Bauernstellen ansiedeln zu können, und die Proskriptionen von Angehörigen der grundbesitzenden Klasse in Italien bewirkten eine Umverteilung von großen Teilen der mobilen und immobilen Vermögenswerte zugunsten der Anhänger und Günstlinge des Siegers. Dies alles war möglich, weil der Zustand des römischen Staates es erlaubte, persönliche Führungsansprüche und Interessen durch Einsatz der bewaffneten Macht zu entscheiden. Was die Familie Ciceros anbelangt, überstand sie die blutigen Wirren unbeschadet. Der Vater und die Söhne führten ein Leben im Verborgenen, der Vater grundsätzlich, die Söhne altersbedingt und bis auf weiteres, das heißt bis zur Wiederherstellung von Verhältnissen, in denen die Gerichte wieder arbeiteten und der politische Meinungsstreit friedlich ausgetragen wurde. Der junge Cicero war weit davon entfernt, aus dem dramatischen Scheitern des Volkstribunen Sulpicius Rufus und dem, was folgte, die Konsequenz zu ziehen, die sein Freund Quintus Pomponius Atticus zog: dass er auf eine politische Karriere verzichtete, sich seinen Geschäften und Studien widmete und dabei Beziehungen zu allen Parteien in der Rolle eines geschätzten Ratgebers unterhielt. Cicero wartete auf die Stunde, in der seine Kunst der Rede, an deren Vervollkommnung er unermüdlich arbeitete, endlich die ersehnte öffentliche Bühne fand. Gewiss verurteilte er die Umstände, unter denen Sulla die Senatsherrschaft auf eine neue gesetzliche Grundlage stellte, aber er begrüßte das Ergebnis als Wiederherstellung staatlicher Ordnung, recuperata res publica hieß die Losung49, und so kam er in den Jahren 81/80 endlich zum Zuge. Bis dahin hielt er sich bedeckt und lebte in unsicherer Zeit seinen Studien.

Bezeichnenderweise begnügte Cicero sich in der Zeit einer erzwungenen Muße nicht mit Lektüre und Redeübungen, sondern es drängte ihn, wie auch später in den fünfziger Jahren oder während der Herrschaft des Diktators Caesar, im Medium schriftlicher Werke die Frucht seiner Studien zu öffentlicher Wirkung zu bringen. Aus dem Umgang mit griechischer und lateinischer Dichtung entstanden eigene Versuche, die nichtdramatischen Gattungen der hellenistischen Poesie für die lateinische Sprache zu gewinnen, das Lehrgedicht, die mythologische Erzählung, die dichterische Gestaltung entlegener Verwandlungssagen.50 Am besten bekannt ist dank der Erhaltung eines längeren Fragments seine Bearbeitung der Sternzeichen (griechisch: Phainomena) des Arat. Daneben stehen einzelne Titel, aus denen immerhin die Thematik, um die es ging, erkennbar ist. Pontius Glaucus, gedichtet in vierfüßigen Trochäen, ist nach dem Titelhelden, einem böotischen Schiffer, benannt, von dem erzählt wurde, dass er sich nach dem Genuss eines Zaubertranks ins Meer gestürzt hatte und in einen unsterblichen, wahrsagenden Meeresbewohner verwandelt wurde. Von Verwandlungen handelten auch die Halcyones. In dem einzigen erhaltenen Vers ist Keyx, der Gatte der Halcyone, genannt, der zusammen mit seiner Frau in einen Eisvogel verwandelt wurde. In diesem wie im zuvor genannten Fall handelt es sich um Stoffe, die später Ovid in seinen Metamorphosen wieder aufgegriffen hat. Von einem weiteren Jugendgedicht, dessen Titel in der handschriftlichen Überlieferung heillos verderbt ist, hat sich ebenfalls ein einziger Vers, mit einer Zeitbestimmung in poetischer Sprache, erhalten: „Schon hat das Tyrrhenische Meer weit und breit die Taube verlassen.“51

Ein Nilus betiteltes Gedicht enthielt vermutlich eine dichterische Beschreibung von Szenen, wie sie aus erzählenden Bildwerken des Vaters Nil wie dem aus Praeneste bekannt sind. Hellenistische Genremalerei anderer Art mag das Gedicht Der Pantoffelheld (Uxorius) repräsentiert haben. Wahrscheinlich ist auch die Sammlung von Einzelgedichten, die unter dem sprechenden Titel „Blumenwiese“, Limon, veröffentlicht war, ebenfalls dem dichterischen Frühwerk zuzurechnen.52 Alle diese Jugendgedichte entsprangen nicht einem inhaltlichen Interesse an den zugrunde gelegten Stoffen, sondern der Herausforderung, moderne hellenistische Dichtung für die lateinische Sprache zu gewinnen. Sie sind unter diesem Aspekt ein Gegenstück zu den Übersetzungen der Meisterwerke griechischer Redekunst, die Cicero damals zu Übungszwecken angefertigt hat, und waren doch mehr als das: Sie sollten die lateinische Dichtung durch Aneignung der Formen und Stoffe hellenistischer Dichtung bereichern.

Wahrscheinlich gehört auch das epische Gedicht Marius der Zeit der erzwungenen Muße in den achtziger Jahren an. Marius’ Kimbernkriege hatte bereits der aus Antiocheia stammende Dichter Archias in einem in griechischer Sprache verfassten Epos verherrlicht.53 Daran knüpfte der junge Cicero an, als er zum Ruhme seines älteren Landsmannes dessen Taten in lateinischen Hexametern besang. Ein längeres Stück aus diesem Epos hat Cicero uns durch ein Selbstzitat in der Schrift über Weissagung, De divinatione, bewahrt. Die pompösen Verse gelten einem Vorzeichen, das dem vor Sulla geflohenen Helden die triumphale Rückkehr nach Rom verheißt:

Selber fliegt er (der Adler) vom Abend zum strahlenden Aufgang der Sonne.

Als ihn Marius sah – auf glückverheißenden Schwingen

Glitt er dahin –, da nahm der gottbegeisterte Augur

Das zum glücklichen Zeichen ruhmvoller Heimkehr. Und oben

Donnerte gleich zur Linken der Vater der Himmlischen selber,

Iuppiter, billigte so das glänzende Omen des Adlers.54

Der Wortlaut schließt völlig aus, dass das Vorzeichen einem Ereignis gilt, das der Verfasser des Gedichts als Unglück für den Staat gedeutet hätte. Das Gedicht war offenbar nicht von der Kritik an dem popularen Politiker bestimmt, dessen Rückkehr nach Rom von einer Orgie blutiger Rache begleitet war, sondern war eine unkritische Verherrlichung des Marius, die sich weder zu Ciceros politischem Ideal der Bewahrung der traditionellen Optimatenrepublik noch zur Familientradition der Gegnerschaft gegen populare Reformbestrebungen fügen will. Demnach ist das Epos Ausdruck eines unpolitischen Stolzes auf den berühmten Landsmann, wie er noch in einer Gerichtsrede Ciceros aus dem Jahre 54 zum Ausdruck kommt: „Aber welchen Arpinaten Du auch treffen magst: Du wirst, auch wenn Du gar nicht willst, möglicherweise etwas über uns (die Tullii Cicerones), ganz bestimmt aber über Gaius Marius hören.“55 Der junge Cicero hatte die Rede gehört, die Marius bei seiner Rückkehr nach Rom gehalten hatte, und er erinnerte sich noch 30 Jahre später daran. „… ich habe ihn (Marius) gekannt, als er schon hochbetagt war; damals hatte die Größe seines Unglücks seinen Mut keineswegs gebrochen, sondern gestärkt und erneuert. Ihn hörte ich sagen, es sei ihm in der Zeit schlecht gegangen, da er das Vaterland, das er vor der Eroberung [durch Kimbern und Teutonen] bewahrt habe, entbehren musste, da er erfuhr, dass seine Feinde sein Hab und Gut in Besitz nahmen und plünderten, da er seinen jugendlichen Sohn sein Unglück teilen sah, da er in Sümpfen versteckt, Leib und Leben dem hilfreichen Erbarmen der Bürger von Minturnae verdankte, da er, mit einem armseligen Boot nach Afrika übersetzend, zu denen kam, denen er Königreiche verliehen hatte; doch nun, da er seine Stellung wiedergewonnen habe, werde er alles daran setzen, dass er – da ihm ja das Verlorene zurückerstattet worden sei – auch über seine Tatkraft verfüge, die er nie verloren habe.“56 Das war die Ankündigung tatkräftigen Handelns aus Rachsucht. Beirren ließ sich davon der junge Cicero in seiner Begeisterung offenbar nicht.

Ciceros Produktivität war nicht auf Dichtung beschränkt. Er verfasste zwei Prosawerke, die ebenfalls veröffentlicht wurden. Das eine, bis auf wenige Fragmente verlorengegangen, war eine Übersetzung von Xenophons Oikonomos, einer Abhandlung über rechte Haushaltsführung eines attischen Gutsherrn. Der Dialog zwischen Sokrates und Kritobulos mündet in ein Lob der Landwirtschaft, und Sokrates berichtet, wie der Gutsbesitzer Ischomachos seine junge Frau in die Aufgaben einer Gutsherrin einweist. Bemerkenswert ist auch, dass dabei die Rolle der Frau für die Erhaltung und Mehrung des Hausvermögens ins Licht gesetzt wird. Von der Übersetzung steht fest, dass Cicero sie im Alter von etwa 21 Jahren, also wohl im Jahre 85, anfertigte.57 Die Thematik lässt vermuten, dass er die reizvolle kleine Schrift im Hinblick auf seine künftige Rolle als Gutsherr und Ehemann las und dann ins Lateinische übertrug. Wenn das zutrifft, ist es für Cicero geradezu typisch: Er war bemüht, sich zur Bewältigung praktischer Lebensaufgaben der Grundlage griechischer Theorie zu versichern, und dabei nicht stehen zu bleiben, sondern das Gelesene in lateinische, zur Veröffentlichung bestimmte Bücher umzusetzen.

Dies gilt auch für die rhetorische Jugendschrift De inventione. Cicero plante nichts Geringeres als eine Gesamtdarstellung des rhetorischen Lehrsystems in lateinischer Sprache. Verwirklicht wurde der Plan jedoch nur für das erste Hauptstück, die Lehre von der Auffindung des Stoffes, die in zwei Büchern unter dem Titel De inventione veröffentlicht wurde. Die Zeitanspielungen in diesem Werk gehen nicht über das Jahr 91, den Ausbruch des Bundesgenossenkrieges, hinaus, es ist also in den achtziger Jahren entstanden und somit etwa zeitgleich mit der anonymen Darstellung des gesamten rhetorischen Lehrgebäudes, die einem gewissen Herennius gewidmet ist. Beide Werke sind Zeugnisse des Prozesses, der zu einer umfassenden Latinisierung der griechischen Geisteskultur führte. Sie sind der beste Beweis dafür, dass die rhetores Latini um Plotius Gallus, gegen die sich noch im Jahre 92 das zensorische Edikt des Lucius Crassus gerichtet hatte, nicht nur einem verbreiteten Bedürfnis entsprochen hatten, sondern dass ihrem Projekt auch die Zukunft gehörte. Was Ciceros erhaltenes Jugendwerk jenseits der Umsetzung des griechischen Lehrsystems in ein römisches Milieu auszeichnet, sind die grundsätzlichen Gedanken der Vorrede über die ambivalente Rolle der Redekunst und des Redners in Staat und Gesellschaft.58 Cicero zeigte sich mit den Einwänden der Philosophen gegen die Rhetoren wohlvertraut. Seine Erörterung des Problems nimmt ihren Ausgangspunkt von der seit Platon vieldiskutierten Frage nach dem Nutzen beziehungsweise der Schädlichkeit der Redekunst, und er nimmt dabei Bezug auf die Verheerungen, die sie in jüngster Zeit auch im römischen Staat angerichtet hatte (ohne sich freilich auf Einzelheiten einzulassen). Um in der Frage nach Schaden oder Nutzen einen festen Stand zu gewinnen, geht er von einem Modell der Entstehung von Staat und zivilisierter Gesellschaft aus und vertritt die These, dass beides, Staat und Gesellschaft, von einem Weisen gestiftet worden sei, der geistig-moralische Einsicht mit der Fähigkeit zu überzeugender Rede verband und so in der Lage war, die im Urzustand des Kampfes aller gegen alle vegetierende Menschheit zu den Segnungen von Staatlichkeit und Rechtsordnung zu führen. Auf der Grundlage dieser Vorüberlegungen wird der Streit zwischen Philosophie und Rhetorik in einer Synthese aufgelöst: Weisheit ohne Beredsamkeit nützt den staatlichen Gemeinschaften zu wenig, aber Beredsamkeit ohne Weisheit schadet meist und nützt niemals. Daraus ergibt sich die Forderung, die Kunst der Rede in dem Fundament rationaler und moralischer Einsicht zu verankern.

Damit aber ist die Frage aufgeworfen, wie es denn dazu kam, dass die Erfahrungen der Gegenwart dem der Vergangenheit zugeschriebenen Ideal so wenig entsprachen. Wieder besteht die Antwort in einem idealtypischen Modell, in dem Ideal und erfahrene Wirklichkeit in das Verhältnis von Ursprung und Verfall gesetzt sind. Erfunden wurde die auf Einsicht gegründete Kunst der Rede, damit der Urzustand, in der das ‚Recht des Stärkeren‘ herrschte, überwunden würde und stattdessen ein friedliches Zusammenleben und eine Opferbereitschaft für die Gemeinschaft sich durchsetzten. Doch mit der Gewöhnung an diesen Zustand, so wird der Faden weitergesponnen, kam eine gewisse Bequemlichkeit, commoditas, auf: „Da begann die Schlechtigkeit, gestützt auf bloßes Talent, die Staaten zugrunde zu richten, und die Moral der Menschen zu wanken.“59 Wie eine solche Entwicklung zum Schlechten eintreten konnte, wird wieder an einem Gedankenmodell erläutert: Die große Masse war nicht in der Lage, sich um die öffentlichen Angelegenheiten zu kümmern, und die dazu befähigt waren, wandten sich vom Tagesgeschäft der Politik und Rechtspflege ab und ließen damit eine Lücke, in die sich Unberufene eindrängten. Das brachte den Beruf des Redners in Verruf, Leute mit geistig-moralischem Niveau zogen sich aus dem öffentlichen Leben zurück und leisteten damit dem Verderben Vorschub. Dies ist die Antwort des jungen, an öffentlichem Wirken interessierten Autors auf die philosophische Kritik an einer bloß machtorientierten Rhetorik. Er gibt die Berechtigung dieser Kritik zu und will ihr mit dem Rückgriff auf das Ideal einer Verbindung von Einsicht und Beredsamkeit begegnen. Dabei begnügte sich Cicero nicht mit einem abstrakten Gedankenmodell, vielmehr siedelte er es mit einem doppelten Bezug in einer – freilich konstruierten – historischen Wirklichkeit an: einmal in dem Entstehungsprozess von Staat und Gesellschaft und zum anderen im jüngst vergangenen Jahrhundert der römischen Geschichte. Denn das von ihm entwickelte Modell des idealen Redners, der zugleich der wahre Staatsmann ist, schreibt er umstandslos großen römischen Rednern des 2. Jahrhunderts zu: „Dies [was er zuvor dargelegt hat] ist unserem Cato nicht entgangen, nicht Laelius, nicht (Scipio) Africanus und auch, um die Wahrheit zu sagen, deren Schülern nicht, den Gracchen, den Neffen des (Scipio) Africanus: In diesen Männern waren die höchste Tugend und die durch höchste Tugend gesteigerte Autorität wirksam – und eine Redekunst, die bei diesen [Eigenschaften] eine Zierde und dem Staat Schutz und Schirm ist.“60 An diesem Satz verblüfft nicht nur die Unbefangenheit, mit der Cicero geschichtliche Persönlichkeiten zu Zeugen seines eigenen Ideals vom Redner und Staatsmann machte. Mehr noch erstaunt, dass er ausgerechnet die Gracchen zu Vorbildern erhebt und sie ohne Rücksicht auf die tatsächlichen politischen Gegensätze zu Schülern ihres Onkels Scipio Africanus erklärt. Bei aller Anerkennung ihrer Redegewalt hat Cicero später über ihre politische Rolle ganz anders gedacht, als in der oben zitierten Äußerung impliziert ist, etwa so, wie Tacitus es tat: „Aber so viel ließ sich das Gemeinwesen die Beredsamkeit der Gracchen nicht kosten, dass es sogar ihre Gesetze hingenommen hätte.“61 – Das Proömium von De inventione spiegelt eine Stärke Ciceros, die zugleich seine Schwäche bleiben sollte. Er hatte, vertraut mit der griechischen Bildung seiner Zeit, das Bedürfnis nach gedanklicher Klärung der öffentlichen Rolle, die zu spielen ihm vorschwebte, er orientierte sich dabei an Idealbildern, und er neigte dazu, das Ideal für die Wirklichkeit zu nehmen oder diese nach Maßgabe des Abstandes oder der Nähe zu jenem zu beurteilen. Herauskommen sollten aus dieser Disposition im Laufe eines langen Lebens in schwieriger Zeit wenige Hochgefühle und viele Enttäuschungen – aber auch in ungewöhnlichem Maße Reflexion und geistige Produktivität.