Die fünf Jahre zwischen der schmachvollen Palinodie im Juni 56 und dem Antritt des Prokonsulats im Mai 51 bilden eine Phase in Ciceros Leben, in der er den moralischen Tiefpunkt seiner politischen Laufbahn und zugleich, als Theoretiker des römischen Staates, einen ersten glanzvollen Höhepunkt seines Wirkens in der Welt des Geistes und der Literatur erlebte. Da war auf der einen Seite das Unbehagen am Zustand der Politik und an der Fremdbestimmung, die ihm die Unterwerfung unter den Dreibund einbrachte und die er sich und anderen gelegentlich schönredete, und da war auf der anderen Seite das intensive Nachdenken über die Grundlagen der idealen res publica und den idealen Staatsmann, ein Nachdenken, das zur Objektivierung in literarischen Werken drängte. In den zwischen 56 und 51 entstehenden Büchern über den Redner (De oratore), den römischen Staat (De re publica) und seine Gesetze (De legibus) schuf Cicero einen Gegenentwurf zur politischen Realität seiner Zeit aus dem Glauben an die Vorbildlichkeit des Staates der Vorfahren und unter Rückgriff auf das philosophische Denken der Griechen. Somit ist es diesem Kapitel aufgegeben zu zeigen, wie beides, das Unbehagen an den Zeitverhältnissen und der Gegenentwurf eines an der Vergangenheit orientierten Ideals, miteinander zusammenhängt und aufeinander bezogen ist.
In der praktischen Politik verlor Cicero mit der Unterwerfung unter die Machthaber des Dreibundes seine Selbständigkeit und büßte fast vollständig seinen moralischen Kredit bei den optimatischen Gesinnungsfreunden ein.1 Die Triumvirn setzten die Beschlüsse von Luca nach und nach um. Pompeius und Crassus wurden zu Konsuln gewählt – freilich mit Verspätung im Januar 55. Bis dahin wurden die Wahlen hinausgeschoben, damit Caesar seine Soldaten zum Wahltermin beurlauben und so das gewünschte Ergebnis sichern konnte. Dann erhielten beide Konsuln durch das Plebiszit des Volkstribunen Trebonius die gewünschten außerordentlichen Kommandos auf fünf Jahre, Pompeius die beiden spanischen Provinzen und Crassus Syrien. Anschließend sorgten die Konsuln dafür, dass auch Caesars Kommando verlängert wurde. Dies geschah durch ein Gesetz, das bis zum 1. März 50 eine Beratungssperre für seine Ablösung verhängte. Der harte Kern der Optimaten gab sich jedoch noch nicht geschlagen. Für das Jahr 54 gelangten zwei unbeugsame Gegner Caesars in Schlüsselstellungen: Lucius Domitius Ahenobarbus wurde zum Konsul und Marcus Porcius Cato zum Praetor gewählt. Für die beiden folgenden Jahre kamen keine Wahlen zum fristgerechten Zeitpunkt zustande. Im Jahr 53 gab es monatelang keine ordentliche Regierung und keine Rechtspflege mehr, sondern nur die unvollkommene Nebenregierung durch Volkstribune. Wahlverschleppung, Bestechung und Gewalt beherrschten die politische Szene in Rom. Pompeius blieb auch nach Ablauf seines Konsulats als Beauftragter für die Getreideversorgung Roms in der Nähe der Stadt und übte sein außerordentliches Kommando in den beiden spanischen Provinzen durch Legaten aus, während Crassus noch als amtierender Konsul im November 55 nach Syrien aufbrach. Es war ein offenes Geheimnis, dass Pompeius gerne mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet die Ordnung in Rom wiederhergestellt hätte, doch dagegen standen Cato und sein optimatischer Anhang. Alles blieb in der Schwebe chaotischer Zustände, bis ein spektakulärer Gewaltausbruch, die Ermordung des Clodius im Januar 52 und die sich anschließenden Ausschreitungen seiner Anhänger in Rom, bei denen die Kurie, das Sitzungsgebäude des Senats, in Flammen aufging, Pompeius an das Ziel seiner geheimen Wünsche brachte. Der Senat rief den Notstand aus und ließ in Italien die wehrfähige Jugend mobilisieren. Auch Norditalien, der Süden von Caesars Großprovinz bis zum Po, war von dieser Anordnung betroffen, und Caesar nahm sie zum Anlass vorzuschlagen, dass er und Pompeius gemeinsam als Konsuln Ruhe und Ordnung wiederherstellten. Daraus wurde jedoch nichts. Die Erhebung des Vercingetorix erforderte die Anwesenheit Caesars auf dem gallischen Kriegsschauplatz. Nun waren die Optimaten bereit, Pompeius entgegenzukommen. Er wurde zwar nicht Diktator, sondern alleiniger Konsul, und in dieser quasidiktatorischen Position stellte er die Ordnung in Rom wieder her, ließ dann am 1. August seinen Schwiegervater Quintus Caecilius Metellus Scipio zu seinem Kollegen wählen, und gemeinsam gingen die beiden daran, die Republik mit den Mitteln der Gesetzgebung zu stabilisieren. Zu ihrem Gesetzgebungsprogramm gehörte auch eine Neuordnung der Provinzverwaltung. Zur Bekämpfung der unsäglichen Korruption, die sich aus der Prämierung der unter großem finanziellen Aufwand gewonnenen Wahlen mit der Zuweisung einträglicher Provinzkommandos ergab, wurde gesetzlich verfügt, dass zwischen der Amtsführung in Rom und der Statthalterschaft in einer Provinz ein Intervall von mindestens fünf Jahren liegen musste. Das hatte für Cicero die Folge, dass er verspätet nachholen musste, wogegen er sich immer gesträubt hatte. Am 1. Mai 51 verließ er Rom, um für ein Jahr die Statthalterschaft in der von Pompeius errichteten Provinz Kilikien zu übernehmen.
Es versteht sich von selbst, dass die Zustände der Jahre 56 bis 52 Ciceros Ideal einer auf der Eintracht der (oberen) Stände beruhenden Senatsherrschaft hohnsprachen. Was die Annäherung zwischen Pompeius und den Optimaten im Jahre 52 anbelangt, so entsprach sie zwar seinen alten Wunschvorstellungen, aber sie war ohne sein Zutun zustande gekommen, und ihre Auswirkungen waren andere, als er sich von einem solchen Zusammengehen erhofft hatte. Das Bündnis wurde nicht zum Ausgangspunkt einer dauerhaften Stabilisierung der Senatsherrschaft, sondern der Anfang ihres Endes, als Pompeius den von Caesar begonnenen Bürgerkrieg als Feldherr der legitimen Regierung verlor. Diese Folgen des Umschwungs von 52 waren den Mitlebenden naturgemäß noch verborgen. Cicero selbst gewann damals sogar, wie unten zu zeigen sein wird, an Selbständigkeit gegenüber Pompeius und Caesar. In den Jahren zuvor war er ihr Handlanger, und sein Aktionsfeld war nicht die große Politik, sondern deren Nebenschauplatz, die politische Gerichtsbarkeit. Auf diesem Felde wurden von optimatischer Seite weiterhin Stellvertreterkriege gegen die großen Drei geführt, indem man ihre prominenten Gefolgsleute vor Gericht zog. Im Herbst 56 traf es Lucius Cornelius Balbus, Caesars graue Eminenz, der als sein Bürochef zwischen Gallien und Rom hin und her pendelnd die Geschäfte seines Herrn besorgte und bei der Erneuerung des Dreibundes im Frühjahr 56 seine Hand im Spiel gehabt hatte. Balbus war von Geburt Bürger der mit Rom verbündeten spanischen Gemeinde Gades (heute Cádiz). In den 70er Jahren hatte er wegen seiner Verdienste von Pompeius, als dieser Spanien im Krieg mit der popularen Gegenregierung zurückgewann, das römische Bürgerrecht erhalten. Als im Jahre 61/60 Caesar das Jenseitige Spanien verwaltete, machte Balbus sich ihm unentbehrlich, und dieser behielt ihn weiterhin in seinen Diensten. Als Vertrauter Caesars und Schlüsselfigur des erneuerten Dreibundes war er den Optimaten verhasst, und um ihn auszuschalten, lancierten sie gegen ihn eine Anklage wegen widerrechtlicher Anmaßung des römischen Bürgerrechts. Von Caesar und Pompeius aufgefordert, sich an der Verteidigung des Balbus zu beteiligen, leistete Cicero der Aufforderung Folge und veröffentlichte anschließend die schriftliche Version seiner Rede.2 Von vornherein war klar, dass die gegen das Bürgerrecht des Balbus vorgebrachten Argumente nur der Vorwand waren, den Hauptagenten Caesars auszuschalten und damit diesen selbst zu treffen. Cicero versuchte pflichtgemäß, diese Argumente zu entkräften, aber ihm war bewusst, dass es dem vorgeschobenen Ankläger, einem Landsmann des Balbus, und seinen Hintermännern nur darum ging, Caesar zu treffen. Cicero warnte im Namen der Vernunft vor derartigen Stellvertreterkriegen, und er appellierte an die Gegenseite, seinem Vorbild zu folgen und um des Staates willen von der Feindschaft gegen Caesar abzulassen, ganz so, wie er es getan hatte: „Andere sind nicht dieser Meinung [wie ich es bin]. Sie haben vielleicht festere Grundsätze. Ich mache niemandem Vorwürfe; andererseits bin ich nicht mit allen [gegen mich erhobenen Vorwürfen] einverstanden und halte es nicht für ein Zeichen der Unbeständigkeit, wenn man sich mit seiner Meinung wie beim Steuern eines Schiffes nach den politischen Wetterverhältnissen richtet.“3 Mit diesem Bekenntnis konnte Cicero gewiss nicht einen Cato oder einen Domitius Ahenobarbus beeindrucken, doch vor Gericht setzte er sich durch: Balbus behielt sein römisches Bürgerrecht.
Auch Cicero hatte vor seiner Palinodie gegen die Gefolgsleute der Triumvirn Stellvertreterkriege geführt: gegen Vatinius und gegen die Konsuln des Jahres 58, Gabinius und Calpurnius Piso, denen er erhebliche Mitschuld an seinem Exil gab. Er hatte nach seiner Rückkehr aus der Verbannung sogar öffentlich angekündigt, beide nach Ablauf ihres Prokonsulats in Syrien beziehungsweise Macedonia wegen ihrer Amtsvergehen vor Gericht zu ziehen.4 Davon konnte, als sie im Jahre 55 in Rom erschienen, keine Rede mehr sein. Aber Cicero war ein nachtragender Hasser seiner Feinde, er ließ sie nicht ungeschoren davonkommen. Im September 55 beklagte sich Piso im Senat über die verbalen Angriffe seines Gegners und sagte ihm dabei einige bittere Wahrheiten ins Gesicht. Er hielt ihm vor, dass er die wahren Urheber seines Exils, Caesar und Pompeius, aus Feigheit schone, dass er sich davor hüte, die wirklich Mächtigen anzurühren, und sich stattdessen nur mit solchen anlege, die ihm nicht gefährlich werden könnten: Er möge ihn, Piso, doch vor Gericht bringen, statt ihn zu beschimpfen und außerhalb des Gerichtsganges der größten Verbrechen zu bezichtigen. Der Hieb saß. Cicero konnte den Schwiegervater Caesars nicht gerichtlich belangen, und so entlud sich seine Wut in einer maßlosen Invektive, einer unflätigen Beschimpfungsorgie, in der auch das Bekenntnis des gebildeten, philosophisch interessierten Piso zu Epikur und seiner Schule zu schlimmen Ausfällen gegen die moralische Integrität des Angegriffenen herhalten musste.5 Es mag sein, dass das Publikum in Rom an solchen Schmähungen seine Freude hatte. Jedenfalls sprach Cicero gegenüber seinem Bruder die Erwartung aus, dass die Schuljugend seine Invektive mit Begeisterung auswendig lernen werde.6 Das änderte jedoch nichts daran, dass Cicero es mit Rücksicht auf Caesar, den mächtigen Mann in der Ferne, unterließ, Piso zu verklagen, und sich zu dieser Unterlassung wie folgt äußerte: „Ich muss jedoch berücksichtigen, wie viel Unruhe und Mühe ich als einer seiner [Caesars] besten Freunde ihm, der durch große öffentliche Aufgaben und einen schweren Krieg gebunden ist, verursachen würde. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf (wenn die Jugend auch gleichgültig ist und nicht so, wie sie sollte, nach Ruhm und Ehre strebt), dass sich Leute finden, die nicht abgeneigt sind, diesem Kadaver vom Schindanger die konsularische Beute [aus seiner Provinz] zu entreißen.“7
Cicero musste nicht nur auf eine gerichtliche Abrechnung mit seinen Feinden verzichten, wenn diese die Schutzbefohlenen der Mächtigen waren, er musste sie unter Umständen sogar verteidigen. Im Sommer 54 trat er auf Caesars dringenden Wunsch für Publius Vatinius ein, den allen Optimaten verhassten Handlanger Caesars, den Cicero im Frühjahr 56 öffentlich den Mörder seines Vaterlandes genannt hatte. Zu Beginn des Jahres 55 zum Praetor gewählt, wurde er nach Ablauf seines Amtsjahres wegen des Vergehens, Nachbarschaftsvereine für den Wahlkampf mobilisiert zu haben, gemäß einem einschlägigen Gesetz des Konsuls Marcus Crassus angeklagt. Cicero hatte sich auf Drängen des Pompeius schon zu Beginn des Jahres 55 mit dem frisch gewählten Praetor förmlich versöhnt, nun musste er ihn im August 54 auf Caesars Wunsch gar verteidigen. Er erreichte einen Freispruch – und sein Ansehen bei seinen optimatischen Gesinnungsfreunden sank auf einen Tiefpunkt. In der damals entstandenen, bereits mehrfach zitierten Invektive wurde Cicero als völlig charakterloser Überläufer (levissimus transfuga) beschimpft.8 Eleganter fiel die zweischneidige Huldigung aus, die Catull, „der schlechteste aller Dichter“, dem „beredtesten aller Nachkommen des Romulus“, der lebenden, toten und zukünftigen, darbrachte, indem er sich in dem Maße als den schlechtesten aller Dichter bezeichnete wie Cicero den besten Anwalt von allen.9 Das konnte harmlos als „der beste von allen Anwälten“, aber auch als „der beste Anwalt für alle und jeden“ verstanden werden. Auch Lentulus Spinther, der als Konsul im Jahre 57 große Anstrengungen zur Rückberufung Ciceros unternommen hatte und einer der wenigen Angehörigen der stadtrömischen Aristokratie war, die ihm wohlwollten, zeigten sich alarmiert über die Verteidigung des Vatinius. Er schrieb Cicero aus Kilikien, er habe durchaus Verständnis dafür, dass er sich mit Caesar und mit Appius Claudius, dem Bruder des Clodius, ausgesöhnt habe, aber er fragte ihn auch, ob er denn unbedingt Vatinius habe verteidigen müssen.10 Cicero holte zu einer ausführlichen Selbstrechtfertigung aus – sein Schreiben hat beinahe den Umfang einer seiner Senatsreden. Der Brief ist auch deswegen ein Schlüsseldokument zum Verständnis seiner politischen Haltung, als er hier anders als in den für die Öffentlichkeit bestimmten Verlautbarungen seinen Standpunkt sachlich, ohne aufzutrumpfen, darlegt und dabei auch auf seine Kritiker aus dem optimatischen Lager eingeht. Cicero wirft ihnen vor, dass sie im März/April 56, als er sich an die Spitze der gegen Caesar gerichteten Angriffe setzte, ihn mit Freuden in das Messer der persönlichen Verfeindung mit den Mächtigen laufen ließen, ohne bei der Fahne zu bleiben, als es ernst wurde, und dann nach seiner Wende ihn als Verräter diffamierten: „Eines aber prangern sie unverhohlen an: dass ich mit meinen Anträgen zu Ehren Caesars gleichsam meine frühere Überzeugung verleugne.“11 Er drehte den Spieß um und warf seinen Kritikern vor, dass sie ihrerseits ihre alte optimatische Haltung verraten hätten: Indem sie ihn im Stich ließen, sei ihm nichts anderes übrig geblieben, als so zu handeln, wie er es tat. Er berief sich auf Platon: Anders als diesem habe es ihm nicht freigestanden, sich aus der Politik zurückzuziehen, und folglich habe er in der strittigen Frage von Caesars gallischem Kommandos so gehandelt, dass es ihm Nutzen, sprich: Sicherheit brachte und dass es von jedem Patrioten gebilligt werden konnte. Mit Letzterem bezog er sich auf die in seiner Rede über die konsularischen Provinzen vertretene Rechtfertigung des Eroberungskrieges in Gallien, dass er der Sicherheit Roms und Italiens diene und dem römischen Staat Ruhm und Ehre einbringe. Für die Übernahme der Verteidigung des Vatinius berief er sich auf den dringenden Wunsch Caesars, aber er konnte es sich auch nicht verkneifen, seinen optimatischen Kritikern vorzuhalten, dass sie sich zur Bekämpfung des Pompeius mit Clodius, seinem Todfeind, zusammengetan hatten: „So sollten sie auch mir meinen Publius gönnen“12, heißt es mit Anspielung auf den Vornamen, den Vatinius mit Clodius gemein hatte.
Generell verteidigte Cicero seinen Schlingerkurs mit dem aus Theophrasts Schrift Über Politik nach den Umständen entlehnten Prinzip, dass der Politiker sein politisches Ziel im Auge zu behalten habe, aber auf dem Weg dorthin je nach Verhältnissen auch Umwege in Kauf nehmen müsse. Dafür wählte er im Brief an Lentulus Spinther einen Vergleich des Politikers mit dem Seefahrer: „Denn auch wenn ich keine persönlichen Rücksichten zu nehmen hätte, wäre ich der Auffassung, dass man eine so gewaltige Übermacht [wie die der drei Verbündeten] nicht bekämpfen und weder die Vorrangstellung der Machthaber, selbst wenn es möglich wäre, beseitigen noch auf seiner Überzeugung bestehen darf, nachdem nun einmal die Verhältnisse umgestürzt und die Gesinnung der Optimaten sich gewandelt hat, sondern dass man sich den Umständen zu fügen hat … Es ist wie beim Segeln: Die Kunst besteht darin, dass man sich nach Wind und Wetter richtet, auch wenn man so den Hafen nicht sogleich erreicht. Aber wenn man durch Umsetzen der Segel ans Ziel kommen kann, dann wäre es Torheit, den einmal eingeschlagenen Kurs unter Gefahren beizubehalten und ihn nicht lieber zu ändern, um schließlich doch dahin zu gelangen, wohin man will.“13 Wohin Cicero gelangen wollte, hat er oft genug gesagt: Er wünschte eine auf dem Konsens aller Gutgesinnten beruhende Senatsherrschaft, für die auch das Schlagwort vom inneren Frieden unter Wahrung der Würde des Staates und seiner Institutionen sowie seines führenden Standes (otium cum dignitate) steht. Unter den herrschenden Umständen war der Weg zu diesem Ziel die Einbindung der Mächtigen, die über Heere, Geldmittel und überragenden Einfluss verfügten, in die Standessolidarität der weniger Mächtigen. Das war nach Lage der Dinge eine Utopie, die der Vereinigung von Feuer und Wasser gleichkam. Wenn aber, um in Ciceros Bild zu bleiben, der Zielort der Kreuzfahrt sich als Fata Morgana entpuppte, was war dann die Kreuzfahrt anderes als der Versuch, auf stürmischer See nicht unterzugehen und sich zumindest das Überleben zu sichern? Diesen Gesichtspunkt hat Cicero in den Jahren 56 bis 53 oftmals, auch in dem großen Brief an Lentulus Spinther, betont, und zumindest damit fand er bei denen, die ihm wohlgesinnt waren, Verständnis. Aber was blieb, war die Frage, wie weit er dabei gehen musste oder durfte, und an diesem Punkt geriet er selbst bei der Minderheit der Verständnisvollen ins Zwielicht, wenn er Leute wie Vatinius verteidigte. Indessen war bei Cicero noch anderes im Spiel als das Bedürfnis, im Kampf der Parteien auf der sicheren Seite zu stehen. Er geriet in den Bannkreis der Persönlichkeit Caesars. Bei ihm fand er die Anerkennung und die aufmerksame Zuwendung, die er bei den meisten Angehörigen der Senatsaristokratie vermisste, materielle Vergünstigungen und Förderung seiner Klienten. In dem Brief an Lentulus Spinther fallen wie auch andernorts geradezu enthusiastische Worte über Caesar: „Hinzu kam Caesars bemerkenswerte, überwältigende Großzügigkeit mir und meinem Bruder gegenüber. Musste ich somit an sich schon für ihn eintreten, mochte er tun, was er wollte: Jetzt, in seinem unbeschreiblichen Glück, würde ich glauben, ihn auszeichnen zu müssen, auch wenn er uns gegenüber nicht so wäre, wie er ist. Das halte Dir bitte vor Augen: Nachdem ich mich von Euch als den Urhebern meiner Rehabilitierung getrennt habe, gibt es niemanden, durch dessen Dienste verpflichtet zu sein ich mich nicht nur bekenne, sondern es sogar mit Freuden tue.“14
Das Gefühl persönlicher Verpflichtung ging so weit, dass Cicero im Jahre 54 ein Gedicht auf Caesars Expedition nach Britannien verfasste und ihm widmete. Damit revanchierte er sich für die Liebenswürdigkeit, die Caesar ihm, wohl als Dank für die Übersendung von De oratore, mit der Widmung seiner Schrift Über Analogie in der Wortbildung (De analogia) erwiesen hatte. Darin hatte er Cicero als den Meister und Erfinder reicher Ausdrucksmöglichkeiten der lateinischen Sprache gepriesen, der sich damit um den Namen und den Rang des römischen Volkes verdient gemacht habe.15 Caesar beließ es nicht bei dieser Würdigung, die Ciceros Ehrliebe schmeichelte, er unterstützte den ewig Geldbedürftigen auch mit einem Darlehen zu Vorzugszinsen in Höhe von 800.000 Sesterzen und berief Quintus Cicero, dessen Vermögensverhältnisse ebenfalls in der Zeit der Verbannung seines Bruders schwer gelitten hatten, zu seinem Legaten nach Gallien, wo er wie andere auch von der Großzügigkeit Caesars profitierte.16 Zu dieser gehörte auch Caesars Bereitschaft, die Klienten senatorischer Standesgenossen auf deren Empfehlung hin in seinen Stab aufzunehmen und materiell zu fördern, ob er Verwendung für sie hatte oder nicht. Einer von denen, die Cicero empfahl, war der junge Jurist Gaius Trebatius. Ciceros Empfehlungsbrief an Caesar vom April 56 ist erhalten, und er ist ein aufschlussreiches Zeugnis für die Anziehungskraft, die Caesars Förderungsmöglichkeiten auf den Patronalismus der vornehmen Gesellschaft in Rom ausübten. Trebatius bedurfte der Verbesserung seiner Vermögensverhältnisse, und aus dem engen Kontakt, den sein Patron Cicero mit Caesars Agenten in Rom, Cornelius Balbus, unterhielt, ergab es sich, dass er seinen Schützling der Großzügigkeit Caesars empfehlen konnte. Cicero hat in seinem Empfehlungsbrief die Schlüsselszene wie folgt beschrieben:
„Als ich mich nämlich gerade bei mir zu Hause mit unserem Balbus über diesen Trebatius unterhielt, traf ein Brief von Dir ein, in dem am Ende geschrieben stand: ‚Den von Dir empfohlenen Sohn des Marcus Curtius werde ich zum König von Gallien machen – oder setze ihn auf das Empfehlungskonto von Lepta. Dann schicke Du mir einen anderen, dass ich ihn auszeichnen kann.‘ Wir beide, ich und Balbus, warfen unsere Hände in die Höhe: Das war ein glücklicher Umstand, dass dies, ich weiß nicht wie, nicht als Zufall, sondern als eine göttliche Fügung eintrat. Ich schicke also Trebatius zu Dir, und zwar so, dass ich anfangs meinte, ihn aus eigenem Antrieb, jetzt aber auf Deine Einladung hin schicken zu müssen. Umfange diesen Mann, mein Caesar, mit Deiner ganzen Leutseligkeit und alles, was Du auf meine Veranlassung meinen Leuten zukommen lassen wolltest, das häufe auf ihn.“17
Cicero hatte Caesar den Sohn des Marcus Curtius für die Stelle eines Militärtribunen empfohlen, und Caesar hatte die Empfehlung angenommen, sich jedoch über Ciceros Zurückhaltung beklagt, Gunsterweise von ihm zu erbitten.18 So fühlte sich Cicero doppelt ermutigt, ein gutes Wort für Trebatius einzulegen. Trebatius ging also nach Gallien, lehnte allerdings die ihm angebotene Stellung eines Militärtribunen ohne militärische Pflichten ab und scheint auch zunächst recht unzufrieden gewesen zu sein, dass sich seine finanziellen Erwartungen nicht sogleich erfüllten. Cicero musste ihn brieflich ermahnen, sich in Geduld zu üben. An Trebatius’ Spezialkenntnissen im römischen Zivilrecht herrschte im gallischen Feldlager vermutlich wenig Bedarf, doch Caesar machte gute Miene zu dem ihm zugemuteten Spiel und bedankte sich artig und mit hintergründiger Ironie über die Zusendung des jungen Juristen: „Dafür, dass ich Trebatius zu ihm geschickt habe“, schrieb Cicero an seinen Bruder nach Gallien, „bedankt er [Caesar] sich sogar bei mir, sehr witzig und geistvoll. Er behauptet nämlich, in der Masse der Leute seiner Umgebung habe es [bisher] keinen gegeben, der ein Bürgschaftsformular hätte aufsetzen können.“19 Diesen Ton griff Cicero, für seinen Witz bekannt und gefürchtet, gerne auf. In einem seiner Briefe neckte er Trebatius: „Ich habe Deinen Brief gelesen und daraus ersehen, dass unser Caesar Dich für einen vorzüglichen Juristen hält. Du hast allen Grund, Dich zu freuen, dass Du in Gegenden geraten bist, wo man von Dir glaubt, dass Du Dich in etwas auskennst. Wärest Du erst nach Britannien mitgegangen, wäre auf dieser Rieseninsel wahrhaftig keiner [in der Juristerei] sachkundiger gewesen als Du.“20
Cicero war empfänglich für Caesars Aufmerksamkeiten, und man versteht die bei späterer Gelegenheit im vertrauten Kreis gefallene Äußerung des Diktators Caesar, niemand sei leichter zu gewinnen als Cicero.21 Bei aller Wertschätzung für den wirkungsvollen Redner und Meister der lateinischen Sprache waren Caesars Bemühungen um Cicero kein Einzelfall, sie fügen sich vielmehr in sein strategisches Konzept, die führende Gesellschaft Roms und Italiens, ja, des gesamten Imperiums durch Wohltaten zu verpflichten und so seinen politischen Einfluss zu erweitern. Der Krieg, den Caesar in Gallien führte, brachte ihm die Mittel ein, die für den beschriebenen Zweck notwendig waren. Er war nichts weniger als ein gewaltiger Raub- und Beutezug. So wenig dies in Caesars Kriegsberichten, die der Rechtfertigung des Krieges und der Demonstration seiner Feldherrnkunst dienen, zutage tritt, so deutlich war den Mitlebenden, dass der Krieg in Gallien ihm dazu diente, die Gesellschaft bis in die nächste Umgebung seines Verbündeten und Rivalen Pompeius zu unterwandern. Sein Biograph Sueton schreibt: „In Gallien raubte Caesar die mit wertvollen Weihgeschenken gefüllten Tempel und Heiligtümer aus, und des öfteren zerstörte er keltische Siedlungen eher um der Beute willen als wegen eines Vergehens. Daher kam es, dass er Gold in Überfluss hatte und das Pfund (327,5 gr.) in Italien und in den Provinzen für 3.000 Sesterzen [anstelle von 4.000] verkaufen ließ.“22 Die andere große Einnahmequelle bestand in Massenversklavungen. Dabei waren die Grenzen zwischen Kriegführung und Sklavenjagd durchaus fließend. Aus Tempelraub und dem Erlös von Sklaven stammten die ungeheuren Geldmittel, die es Caesar erlaubten, sich durch königliche Großzügigkeit alle Welt zu verpflichten und so neben seiner schlagkräftigen Armee eine zweite Säule seiner Macht und seines Einflusses zu errichten. Sueton bestätigt es mit den Worten: „Er hatte sich ferner die ganze Umgebung des Pompeius, ferner einen großen Teil des Senats durch zinslose Darlehen oder solche mit ganz niedrigem Zinssatz verpflichtet, und er beschenkte Leute aus allen Ständen überreich, die auf seine Einladung hin oder von sich aus zu ihm kamen … Damals war er die einzige und sicherste Zuflucht aller Angeklagten, Verschuldeten und jugendlichen Verschwender, es sei denn, dass sie zu schwer durch Verbrechen, Schulden oder Exzesse belastet waren. Solchen Leuten pflegte er zu sagen: Was sie brauchten, sei ein Bürgerkrieg.“23
Zu den Nutznießern dieser Strategie gehörten, wie gesagt, auch die Brüder Cicero. Als Legat Caesars hatte Quintus Zugriffsmöglichkeiten auf die Massen versklavter Gallier, und er bot seinem Bruder, der Bedarf an Arbeitskräften hatte, Sklaven an, die dieser unter der Bedingung, dass dessen Bequemlichkeit und finanzielle Lage nicht darunter litten, auch annahm.24 Mit dieser kann es damals nicht schlecht gestanden haben. Im September 54 unternahm Cicero eine Inspektionsreise zu den Gütern seines Bruders in der Gegend von Arpinum und berichtete von intensiver Bautätigkeit und Landkäufen sowie der Renovierung des Stadtpalais in Rom.25 Aber die Vorteilsgewährung hatte ihren Preis. Er bestand in politischem Wohlverhalten und, im Falle von Marcus Cicero, in Unterstützung bei den politischen Stellvertreterkriegen vor Gericht. Cicero wurde genötigt, Vatinius zu verteidigen, und es wurde keine Rücksicht darauf genommen, dass er dabei sein Gesicht verlor. Der Fall des Vatinius war ein Menetekel, aber es sollte noch schlimmer kommen. Am 19. September 54 kam Aulus Gabinius, der abgelöste Statthalter von Syrien, in Rom an. Von optimatischer Seite waren gegen ihn bereits drei politische Strafprozesse eingeleitet worden: wegen unautorisierten Verlassens seiner Provinz zur Rückführung Ptolemaios’ XII. nach Ägypten, wegen Erpressung und wegen unerlaubter Wahlkampfmethoden. Am 28. September erschien Gabinius im Senat, die Steuerpächter Syriens erhoben Beschwerde gegen ihn, und dabei kam es zu einem heftigen Wortwechsel mit Cicero, der die Gelegenheit gerne wahrnahm, die Interessen seiner alten Klientel, der Steuerpächter, zu vertreten.26 Aber dann schwor ihn Pompeius darauf ein, zugunsten des Gabinius im Verfahren wegen unautorisierten Verlassens seiner Provinz eine entlastende Aussage beizusteuern.27 Gabinius wurde mit knapper Mehrheit, mit 38 gegen 32 Stimmen, am 23. Oktober freigesprochen. Dann folgte im Dezember der Prozess vor dem Repetundengericht, und Pompeius nötigte Cicero, nach einer förmlichen Versöhnung die Verteidigung des Gabinius zu übernehmen und damit seine frühere Ankündigung Lügen zu strafen, selbst Anklage wegen Erpressung gegen seinen Feind nach dessen Rückkehr aus Syrien zu erheben.28 Aber Ciceros Meisterschaft in der Kunst der Rede nutzte nichts. Gabinius’ Schuld war zu offensichtlich, um vertuscht werden zu können. Er wurde verurteilt und musste in die Verbannung gehen. Cicero war das Scheitern seiner Verteidigung vermutlich nicht unlieb. Dafür scheint er in einem Anschlussverfahren Erfolg gehabt zu haben. Gabinius konnte den geschätzten Schaden, den er den Provinzialen zugefügt hatte, nicht ersetzen, und daraufhin wurde nach einer Bestimmung des von Caesar in seinem Konsulatsjahr promulgierten Repetundengesetzes der Bankier Gaius Rabirius Postumus als Mitnutznießer der Erpressungen des Gabinius vor Gericht gezogen. Rabirius hatte Ptolemaios XII. zumindest einen Teil der Geldsummen vorgeschossen, die dieser seinen römischen Schutzherren zuerst für seine Anerkennung als König, dann für seine Rückführung nach Alexandria zugesagt hatte, und war daraufhin zeitweise mit der Leitung des Finanzressorts in Ägypten betraut worden. In die Affäre waren Caesar, Pompeius und Gabinius verwickelt. Rabirius Postumus gehörte zum Kreis der Gefolgsleute Caesars, und nicht zuletzt in dessen Interesse verteidigte ihn Cicero zu Beginn des Jahres 53. Dabei verfolgte er eine Doppelstrategie: dass erstens die Bestimmungen des caesarischen Repetundengesetzes zur Mithaftung bei Erpressungsdelikten senatorischer Amtsträger auf den römischen Ritter Rabirius nicht anwendbar seien und zweitens in der Sache keinerlei Verbindung zwischen dem Erpressungsdelikt des Gabinius und den Geldgeschäften des Rabirius bestehe.29 Vertuscht blieb auf diese Weise, in wessen Hände das ägyptische Silber gelangt war, bei dessen Beitreibung Rabirius eine Schlüsselrolle gespielt hatte. Cicero bestritt nicht nur, dass Rabirius Anteil an den betreffenden Transaktionen gehabt habe: Er erklärte ihn auch für eigentlich zahlungsunfähig. Nur die Großzügigkeit Caesars habe ihn vor dem Bankrott gerettet. So endete das in der Sache schwache Plädoyer mit einer Apotheose Caesars, der ihm verdankten Rettung des Rabirius und aller in Not Geratenen, und dem Appell an die Richter, dass es bei ihrem Urteil nicht zuletzt auch um die Stellung Caesars gehe, die durch die Anklage gegen dessen Schutzbefohlenen unterminiert werden solle: „Ich schätze die Großzügigkeit und Freundestreue, die Caesar bei dieser Machtstellung, bei diesem Erfolg den Seinen zuteil werden lässt, höher ein als alle seine übrigen guten Eigenschaften. Ihr aber, ihr Richter, dürft diese neue Art von Hilfsbereitschaft, ein ungewöhnlicher Zug bei berühmten und allmächtigen Männern, nicht geringachten und abweisen, ja, ihr müsst sie sogar ermutigen und fördern, und zwar um so mehr, als ihr seht, dass man es in diesen Tagen darauf angelegt hat, seine Stellung zu erschüttern.“30
Caesar war in Ciceros damaliger Sicht die Lichtgestalt des Triumvirats. Völlig anders stand es mit dem Dritten im Bunde, Marcus Crassus. Cicero hatte ihn nie leiden können. Im Herbst waren Cicero und Crassus im Senat hart aneinander geraten. Crassus war im Begriff, noch während seiner regulären Amtszeit als Konsul gegen den heftigen Widerstand der Volkstribune in seine Provinz nach Syrien aufzubrechen, von wo aus er gegen die Parther zu Felde ziehen wollte. Angesichts dieser Situation hielt er es doch für geraten, Cicero nicht als Feind zurückzulassen. Pompeius arrangierte die Versöhnung, die im November 55 bei einem Dinner in den Gärten von Ciceros Schwiegersohn Furius Crassipes vollzogen wurde. Daraufhin unternahm es Cicero, den umstrittenen Aufbruch des Crassus zu rechtfertigen.31 Zur Besiegelung der neu gegründeten guten Beziehungen schickte Cicero im Januar 54 dem Abgereisten einen Brief hinterher, in dem er sich verpflichtete, während seiner Abwesenheit für seine Interessen in Rom einzutreten: „Dieses Schreiben möchte ich von Dir als förmlichen Vertrag, nicht als einfachen Brief angesehen wissen. Alles, was ich auf mich nehme und Dir verspreche, werde ich unverbrüchlich einhalten und gewissenhaft ausführen. Die von mir übernommene Verteidigung Deiner Ehre während Deiner Abwesenheit werde ich jetzt nicht nur um unserer Freundschaft willen, sondern auch um Dir meine Zuverlässigkeit zu beweisen, weiterführen.“32 Was Cicero tatsächlich von seinem neuen Freund hielt, vertraute er Atticus an, nachdem dieser Rom verlassen hatte: „Unser Crassus sei, sagt man, im Feldherrnmantel weniger würdig aufgetreten als Lucius Paullus, der im gleichen Alter war und ebenfalls in seinem zweiten Konsulat. Dieser elende Kerl!“33
Neben den ihm aufgenötigten Prozessvertretungen gab es auch Raum für solche, die nicht im Interesse der Triumvirn lagen. So beteiligte sich Cicero an der Verteidigung des Marcus Aemilius Scaurus, der angeklagt war, als Gouverneur von Sardinien und Korsika die Verpflichtung der Untertanen zu Getreidelieferungen in der üblich gewordenen Weise zu persönlicher Bereicherung ausgenutzt zu haben. Der Prozess fand unter starker Beteiligung von Angehörigen der Senatsaristokratie statt, die für und gegen den Angeklagten Partei ergriffen.34 Der Ankläger und seine Hintermänner wollten dem Angeklagten den Weg zur Bewerbung um das Konsulat versperren, die andere Seite trat dazu an, ihm den Weg offenzuhalten. Insofern war der Prozess ein getreues Abbild der sich kreuzenden politischen Freundschaften und persönlichen Feindschaften, in denen sich die politische Routine längst verfangen hatte. Aemilius Scaurus scheint keineswegs unschuldig gewesen zu sein, aber er konnte offenbar die stärkeren Bataillone bei der Auseinandersetzung vor Gericht aufbieten: Er wurde mit 62 zu 8 Stimmen freigesprochen, aber er unterlag dann in einem zweiten Verfahren wegen verbotener Wahlkampfmethoden trotz Ciceros Hilfe. Cicero hatte keine engen persönlichen Beziehungen zu Aemilius Scaurus unterhalten, seine Verteidigung zu übernehmen, war für ihn wohl eher eine Routineangelegenheit. Anders stand es mit seinem Eintreten für Gnaeus Plancius. Das war eine Ehrenpflicht; denn Plancius hatte als Quaestor der Provinz Macedonia dem Verbannten in Thessalonica Aufnahme und Schutz gewährt. Für das Jahr 54 war er zum Aedilen gewählt worden und sogleich von einem unterlegenen Mitbewerber nach dem Spezialgesetz des Crassus, das die Mobilisierung städtischer Nachbarschaftsvereine für den Wahlkampf verbot und unter Strafe stellte, angeklagt worden. Cicero verteidigte in seiner Rede nicht nur seinen Mandanten – wahrscheinlich mit Erfolg –, er verteidigte auch sich selbst.35 Denn der Ankläger Marcus Iuventius Laterensis sah in der Entscheidung Ciceros, die Verteidigung zu übernehmen, einen schweren Affront. Er hatte zu denen gehört, die sich für den Verbannten und seine Familie eingesetzt hatten, und so fühlte er sich herausgefordert, die Anklage seines Konkurrenten mit heftigen Angriffen gegen dessen Verteidiger zu verbinden. Er behauptete, dass Cicero im Jahre 58 gar nicht ernsthaft gefährdet gewesen, sondern nur aus übertriebener Ängstlichkeit aus der Stadt geflohen sei und damit die zu seiner Verteidigung bereiten Kräfte, Senat, Ritterschaft und alle optimatisch Gesinnten, im Stich gelassen habe. Diese damals an den Tag gelegte Schwäche stellte er dann auf eine Linie mit der Unterwerfung unter den Dreibund. Auf den speziellen Sündenfall der Verteidigung des Vatinius spielte er mit der süffisanten Bemerkung an, dass der Meister eben zu viele verteidige. Cicero sah sich auf das äußerste herausgefordert, stellte doch der Ankläger den Mythos der Bewahrung Roms vor einem verheerenden Bürgerkrieg in Frage. Cicero wiederholte seine Version der Ereignisse. Schwieriger fiel ihm die Antwort auf den Vorwurf, er habe seine politische Unabhängigkeit den Mächtigen geopfert. Hier kam es neben der Berufung auf Dankbarkeit und legitimes Sicherheitsinteresse zu dialektischen Verrenkungen, die in der Sache auf eine unverhohlene Apologie des Opportunismus hinausliefen: „Wir müssen uns allesamt gewissermaßen auf dem Rad der Politik zu behaupten suchen, das sich dreht und uns zwingt, die Richtung zu wählen, in die uns das Wohl und das Interesse des Staates jeweils weist … Soll ich nicht für den eintreten, den alle für den ersten Mann im Staate halten [Pompeius]? Und soll ich nicht in das allgemeine Lob auf Gaius Caesar einstimmen, das, wie ich feststelle, erst das römische Volk und jetzt auch der Senat (und ihm habe ich mich stets angeschlossen) durch zahlreiche Willensäußerungen bekräftigt hat? … Ich sehe, wie mein Schiff bei günstigem Wind seinen Weg verfolgt: Wenn es nun nicht auf den Hafen zusteuert, den ich einst vorgesehen hatte, sondern auf einen anderen, der nicht minder sicher und ruhig ist, soll ich dann unter Lebensgefahr gegen das Unwetter ankämpfen, statt mich ihm zu beugen und zu fügen – insbesondere wenn ich sehe, dass dann alles in Ordnung ist?“36
Vergleicht man diese Aussage mit dem Schiffsvergleich in dem großen Brief an Lentulus Spinther, so fällt auf, dass es hier im Unterschied dazu nicht mehr darum geht, den einen Zielhafen auch bei stürmischer See durch Umsetzen der Segel zu erreichen, sondern den Hafen anzulaufen, wohin die Winde das Schiff hinführen, wenn er nur sicher und ruhig ist. Indem er sich für diese Lehre des Opportunismus auf seine Erfahrung, auf die Lehren Theophrasts und auf historische Vorbilder berief, fuhr er so fort: „Ich für meinen Teil habe dies gelernt, dies gesehen, dies in Büchern gefunden, und dies bezeugt uns die schriftliche Überlieferung von den weisesten und berühmtesten Männern sowohl in unserem Lande als auch in anderen Staaten: dass dieselben Leute nicht stets dieselben, sondern jeweils die Meinungen vertreten, welche die politische Lage, die Zeitströmung und die Rücksicht auf den inneren Frieden fordern. Ebendies tue ich, Laterensis …“ Dann folgt eine letzte dialektische Volte: In der Betätigung des Opportunismus komme genau die senatorische Freiheit zum Zuge, die Laterensis fälschlicherweise an ihm vermisse.
Tatsächlich war Cicero zu einem Standpunkt gelangt, dem er in der Sestiusrede erhebliche Mitschuld an der Gefährdung eines gesicherten inneren Friedens unter Wahrung der Würde des Staates, seiner Institutionen und seiner führenden Männer gegeben hatte: dass um des lieben Friedens willen Verzicht auf die Würde geleistet wurde. Ein von griechischer Philosophie geprägter Mann wie Cicero war jedoch bei aller Beweglichkeit in der Kunst der Selbstrechtfertigung nicht gewissenlos, und es ist auch deutlich, dass er mit seinen öffentlichen Verlautbarungen sein Gewissen nicht beruhigen konnte. Wie es in seinem Inneren aussah, ist den Briefen an Freunde zu entnehmen, denen er sich rückhaltlos anvertrauen konnte. Schon im Februar 55 schrieb er an Lentulus Spinther: „Von konsularischer Würde eines entschlossenen, standhaften Senators, wie einst, kann keine Rede mehr sein; sie ist dahin, und schuld daran sind die, die dem Senat den ihm treu ergebenen Ritterstand und den bedeutendsten Mann [Pompeius] entfremdet haben.“37 Die Schuldzuweisung an den harten Kern der Optimaten, die auch sonst begegnet, mag hier auf sich beruhen. Entscheidend ist das Eingeständnis, dass konsularische Würde und senatorische Unabhängigkeit unmöglich geworden waren. Als ihm im April 56 der Tod eines Senators aus alter stadtrömischer Familie gemeldet wurde, pries er in einem Brief an Atticus den Verstorbenen glücklich, weil er das Unglück des Vaterlandes nicht mehr mitzuerleben brauche. „Denn was ist grässlicher als unser Leben, besonders meines? … Sage ich in einer politischen Debatte, was sich gebührt, erklärt man mich für verrückt, sage ich, was zweckmäßig ist, gelte ich als unfrei, schweige ich, so heißt es, ich sei gefangen und geknebelt. Kannst Du Dir vorstellen, wie schmerzlich das für mich sein muss?“38 Er überlegte, ob er sich nicht ganz in den „Hafen der Ruhe“ zurückziehen solle – damit war jetzt ein Leben fern von der Politik gemeint – aber er verwarf diesen Gedanken wieder, da er doch nicht zu verwirklichen sei, und stellte resignierend fest: „Also werde ich zum Handlanger, da wir Führer nicht sein wollten.“ Mitte November 55 teilte er Atticus mit, dass er ohne Bedauern dem Meinungsstreit im Senat fern geblieben sei: „Entweder wäre ich für das eingetreten, was mir nicht gefällt, oder ich hätte mich dem versagen müssen, dem man das nicht durfte.“39 In dieser Lage wandte er sich erneut seinen Studien und literarischen Plänen zu. Diese Absicht kündigte er bereits im Februar in einem Brief an Lentulus Spinther an: „Ich bin jemand, dem alle noch am ehesten zugestehen, entweder für Pompeius’ Wünsche einzutreten oder zu schweigen oder auch, was mir persönlich das liebste wäre, mich auf meine literarische Tätigkeit zurückzuziehen, und das werde ich gewiss auch tun, wenn seine Freundschaft es mir gestattet. Denn was mir vorschwebte, als ich die höchsten Ehrenstellen erreicht und die größten Mühen hinter mich gebracht hatte, Ehrerbietung, wenn ich meine Meinung äußerte, und Freiheit in politischer Betätigung, damit ist es endgültig aus, und nicht nur für mich, sondern für alle. Denn es gibt nur noch zweierlei: entweder den Wenigen ohne Wahrung der Würde zuzustimmen oder vergeblich zu opponieren.“40
Freilich hob der Rückzug zu den Studien und zu literarischen Plänen den Bezug zur Welt des Politischen nicht auf. Cicero war eben ein animal politicum, und wenn ihm auch eine Führungsrolle in der praktischen Politik verwehrt war, so waren seine Schriften doch nichts anderes als eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Da war zunächst die Sorge um das Bild der eigenen Person und Leistung bei Mit- und Nachwelt. Schon mehrfach ist davon die Rede gewesen, dass Cicero der unermüdliche Schöpfer seines eigenen Mythos war: Als Konsul hatte er Rom durch Aufdeckung der Catilinarischen Verschwörung vor dem Untergang gerettet, und zum Retter war er das zweite Mal geworden, als er das Vaterland vor einem verheerenden Bürgerkrieg bewahrte, indem er freiwillig ins Exil ging und so die Voraussetzung schuf, dass die res publica mit ihm zusammen zurückkehren konnte. Er litt daran, dass, wie er es sah, seine Feinde und Neider ihm die verdiente Anerkennung versagten, und so sorgte er dafür, dass seine Taten und Schicksale zu seinem höheren Ruhm in Werken der großen Literatur verewigt wurden. Schon vor seiner Verbannung hatte er sein Konsulat in einem historischen Epos in lateinischer Sprache verherrlicht, aber mit den Versuchen, den griechischen Dichter Archias für ein griechisches Epos und den berühmten Philosophen und Historiker Poseidonios für eine historische Monographie zu gewinnen, war er gescheitert. Nun stellte er die Fortsetzung des selbstgeschaffenen Mythos, die Zeit vom Exil bis zur triumphalen Rückkehr nach Rom, in einem zweiten historischen Epos, De temporibus suis, frei übersetzt etwa: Über meine Taten und Erlebnisse, dar,41 und bemühte sich erneut darum, einen Historiker zu finden, der sich des Themas annehmen würde. Er wandte sich an Lucius Lucceius, von dem er wusste, dass dieser kurz vor dem Abschluss seines Geschichtswerks über den Italischen Krieg und den sich anschließenden Bürgerkrieg zwischen Sulla und den Marianern stand. Das nahm Cicero zum Anlass für die Anregung, der Autor möge dem opus magnum nach dem Vorbild anderer Historiker eine historische Monographie folgen lassen, in deren Mittelpunkt die Geschichte Ciceros von seinem Konsulat bis zur Rückkehr aus der Verbannung stehen sollte, und er versuchte, ihm diese Aufgabe in einem langen Brief schmackhaft zu machen, in dem er die darstellerischen Möglichkeiten des Themas in eine, fast möchte man sagen, magische Beleuchtung rückte: „Eine annalistische Aufreihung von Tatsachen, gleichsam eine kalendarische Tabelle, vermag doch nur mäßig zu interessieren; eines hervorragenden Mannes oft wechselnde, gefahrvolle Erlebnisse dagegen wecken Bewunderung, Spannung, Freude, Unbehagen, Furcht, Hoffnung, und finden sie dann gar einen Abschluss mit einem denkwürdigen Ausgang, dann empfindet der Leser ein ungetrübtes Entzücken. Umso erwünschter wäre es mir, wenn Du Dich dazu verstehen würdest, von Deiner zusammenhängenden Darstellung, in der Du die geschichtlichen Ereignisse fortlaufend schilderst, dieses Drama meiner Erlebnisse und Schicksale abzutrennen. Es enthält nämlich einen bunten Wechsel von Vorgängen und zahlreiche von Entschlüssen und Zufällen bedingte Wendepunkte.“42 Doch Ciceros fulminantes Plädoyer für die Vorzüge der sogenannten dramatischen Geschichtsschreibung und ihrer auf psychologische Wirkung berechnete Darstellungsart hat Lucceius nicht veranlasst, seinen früheren, offenbar vagen Versprechungen Taten folgen zu lassen. Weder Lucceius noch Poseidonios wurden zu Historikern der Taten und Schicksale Ciceros.
Noch im Jahre 56 begann Cicero mit der Ausarbeitung der drei großen Werke, in denen er das ideale Bild des Redners und Staatsmannes, des römischen Staates und seiner gesetzlichen Grundlagen zeichnete. Er tat dies mit hohem literarischen Anspruch im Anschluss an Platon, in De oratore an den Phaidros, den der wahren Redekunst gewidmeten Dialog, in De re publica an die Politeia und in De legibus an die Nomoi. Dabei bediente er sich wie sein Vorbild der literarischen Form des Dialogs, jedoch nicht in der Weise eines Frage- und Antwortspiels, wie es in den frühen platonischen Werken vorherrscht. In dem letzten der genannten Werke, in De legibus, folgt Cicero dem platonischen Muster insoweit, als ein Hauptredner, in diesem Fall er selbst, einen zusammenhängenden Vortrag hält und seine beiden Mitunterredner auf zustimmende Äußerungen beziehungsweise Einwände beschränkt sind. Für die beiden anderen Werke, De oratore und De re publica, sind weiterentwickelte Formen des Dialogs, in dem mehrere historische Personen mit Vorträgen zu Wort kommen, nach dem Vorbild des Aristoteles respektive des Herakleides Pontikos zugrunde gelegt. Dies war die literarische Form, in der griechische Philosophen des 4. Jahrhunderts dem lesenden Publikum die Probleme und die Ergebnisse ihres Nachdenkens vorstellten – eine hochentwickelte Kunstform, die bis in die Renaissance prägendes Vorbild bleiben sollte. Cicero versetzte sie in die Welt der römischen Aristokratie, ihrer Villen, ihres gesellschaftlichen Verkehrs und ihrer Muße, und er brachte in seinen drei Dialogen die Themen zur Sprache, die für ihn und seinen Stand das höchste Interesse hatten: Es ging um den Redner, der für ihn der Staatsmann schlechthin war, den römischen Staat und sein gesetzliches Fundament vor dem Hintergrund eines aktuellen Zustandes, in dem Cicero die res publica, das vorbildliche Erbe der Vorfahren, verloren erschien.
Die drei Bücher über den Redner lagen schon gegen Ende des Jahres 55 abgeschlossen zur Vervielfältigung vor. Am 15. November teilte Cicero seinem Freund Atticus mit: „Die Bücher über den Redner habe ich mit Sorgfalt zu Ende gebracht. Lange und oft habe ich an ihnen gearbeitet. Du kannst sie abschreiben lassen.“43 Ein Jahr später charakterisierte er das Werk in dem langen Rechtfertigungsschreiben an Lentulus Spinther mit folgenden Worten: „Ich habe also nach Art des Aristoteles – jedenfalls war das meine Absicht – drei Bücher über den Redner in Form einer dialogischen Erörterung verfasst, die, wie ich glaube, Deinem Lentulus [dem Sohn des Adressaten] nicht ohne Nutzen sein werden. Sie weichen nämlich von den üblichen Lehrbüchern ab und umfassen die gesamte Lehre der Alten vom Redner, die des Aristoteles wie die des Isokrates.“44 Cicero wollte also keines der gewöhnlichen Lehrbücher schreiben, und er hat sich in der Vorrede zum ersten Buch von seinem Jugendwerk De inventione distanziert und betont, dass es ihm nicht um die Darlegung des Schulstoffes gehe, dessen Kenntnis vorausgesetzt wird.45 Ebenso wenig bedeutet die Berufung auf Aristoteles und Isokrates, dass er deren Konzepte rhetorischer Schulung zu reproduzieren beabsichtigt hätte. Indem er sich auf die beiden Antipoden eines philosophischen und eines sophistischen Konzepts der Redekunst beruft, weist er auf eine alles einzelne übergreifende Fragestellung hin, auf die Erörterung des grundlegenden Problems, wie sich in der Kunst der Rede Sprache und Sachwissen zueinander verhalten. De oratore bewegt sich somit auch im Umfeld der Fragestellung des platonischen Phaidros, und Cicero hat diesen Zusammenhang am Anfang und am Ende seines Werkes durch deutliche Anleihen zum Ausdruck gebracht. In der dialogischen Einkleidung hat er seine Römer ebenso wie Platon seine Athener unter einer Platane an einem vorbeifließenden Bach zur Unterredung Platz nehmen lassen, und am Schluss weist Lucius Crassus, die Hauptperson des Dialogs, nach dem Vorbild der Voraussage des Sokrates über Isokrates auf den großen Redner der nachfolgenden Generation, Quintus Hortensius, hin. Das heißt freilich nicht, dass Cicero auch inhaltlich dem platonischen Phaidros folgt – im Gegenteil. Er erklärte Sokrates für den Urheber einer Trennung von Sprache und Denken, und er orientierte sich in seinem Plädoyer für die Überwindung dieses Zustandes an dem sophistischen Konzept von Philosophie, deren Erbe Isokrates gewesen war: „Es gab nun wohl bestimmte Männer, und zwar viele, die sich aufgrund ihrer Doppelbegabung zum Handeln und Reden auszeichneten, wie Themistokles, wie Perikles, wie Theramenes, oder die sich weniger politisch betätigten, aber trotzdem Lehrer gerade dieser Weisheit [des Reden und Handelns] waren, Gorgias, Thrasymachos und Isokrates; doch es fanden sich solche, die trotz ihrer überreichen Bildung und ihrer Talente sich dennoch gewissermaßen aus Prinzip gegen die mit politischer Tätigkeit verbundenen Verpflichtungen sträubten und deswegen die Betätigung als Redner sarkastisch verspotteten und verachteten. Deren führender Vertreter war Sokrates, der Mann, der nach dem Zeugnis ganz Griechenlands allen unschwer überlegen war an Intelligenz, Scharfsinn, sprachlicher Anmut und Genauigkeit, besonders aber an Beredsamkeit, Abwechslungsreichtum und Fülle, in welche Richtung er auch gehen mochte. Denen nun, welche die Gegenstände, die wir jetzt untersuchen, bearbeiteten, behandelten und lehrten – sie besaßen nur einen einzigen Namen, weil jede Erkenntnis in den wichtigsten Gegenständen und die praktische Betätigung in ihnen „Philosophie“ genannt wurde –, entriss er diesen gemeinsamen Namen und trennte in seinen Erörterungen die Wissenschaft, wie man weise denkt und wie man mit reichem Redeschmuck spricht – Disziplinen, die der Sache nach zusammenhängen … Daher kam es zu jener freilich widersinnigen, nutzlosen und schädlichen Spaltung von – um es so zu sagen – Zunge und Herz, so dass die einen uns lehren, den Verstand zu gebrauchen, andere das Reden.“46
Diese Sokrates zugeschriebene Spaltung will Cicero aufheben, und deshalb ist sein Weg ein anderer als der Platons im Phaidros. Dort war, wie Cicero hätte sagen können, ein spalterischer Begriff der Philosophie zugrunde gelegt und die These vertreten worden, dass nur der Philosoph der platonischen Akademie mit seinem Wissen von der Natur der Dinge und der Dialektik als dem Weg zum Wissen im Zuge der Zerlegung und sinnvollen Vereinigung von Begriffen „wahrer“ Redner sein könne. Demgegenüber vertritt Cicero in De oratore einen eklektischen und additiven Wissensbegriff. Der Redner bedarf einer Fülle von Kenntnissen, die er aus der rhetorischen Techne, aus der nachsokratischen Philosophie, aus der Jurisprudenz sowie aus historischer Bildung bezieht. Die Polymathie der älteren Sophisten erscheint somit im modernisierten Gewand von griechischer Bildung und römischer Erfahrungswelt. Das Cicero in De oratore vorschwebende universale Konzept von Sprache und Wissen hat seinen Sitz, wie er ausdrücklich betont, im öffentlichen Leben, vor Gerichten und in den Rats- und Volksversammlungen,47 und somit geht es in dem Dialog über den Redner zugleich um den Staatsmann und um die notwendigen Voraussetzungen seines Wirkens. Der universal gebildete Redner entspricht in Ciceros Sicht dem Staatsmann, der zur Lenkung der res publica berufen ist, und wie aus den Resten des nur fragmentarisch erhaltenen fünften Buchs von De re publica deutlich wird, hat er zur Charakterisierung des Staatslenkers (rei publicae rector) auf sein Konzept des Redners zurückgegriffen. Wirken kann dieser nur in einer geordneten Staatlichkeit, wie sie nach Ciceros Vorstellung die res publica der Vorfahren vorbildlich verkörpert hatte, aber damit stand es nach seinem Urteil, doch nicht nur in seinem, damals alles andere als zum Besten. Schon in der Dialogszenerie ist die Gefährdung der überlieferten staatlichen Ordnung allgegenwärtig. Der Dialog spielt im September 91, als der Konsul Marcius Philippus das Reformwerk zum Scheitern brachte, mit dem der Volkstribun Livius Drusus die damalige Krise der Republik überwinden wollte. Damit löste er die Katastrophe des Bundesgenossenkriegs und im weiteren Verlauf den Bürgerkrieg zwischen Sulla und den Popularen um Marius und Cinna aus. Crassus, der Hauptredner im Dialog, und die übrigen Teilnehmer waren Anhänger der Reform, und ihre Unterredung ist in die Zeit unmittelbar vor dem Rededuell zwischen Philippus und Crassus verlegt, in dessen Folge Crassus vor Erregung und Erschöpfung zusammengebrochen und verstorben war. Cicero hat diese dramatische Konstellation in der Vorrede zum dritten Buch zum Anlass genommen, Crassus in einer an Platons Phaidon erinnernden Abschiedsstimmung glücklich zu preisen, dass er die furchtbaren Folgen von Livius Drusus’ Scheitern nicht mehr persönlich miterleben musste.
Cicero hatte De oratore vollendet und arbeitete an seinem Dialog über den Staat, da wurde zu seinem Entsetzen der aus Syrien zurückgekehrte Aulus Gabinius von der Anklage des unautorisierten Überschreitens der Grenzen seiner Provinz freigesprochen. Darin sah er den Verlust der staatlichen Ordnung, und so schrieb er im Oktober 54 an seinen Bruder: „Du siehst, es gibt keinen Staat mehr, keinen Senat, keine Gerichte, keine Würde in irgendeinem von uns.“ Dies bedeutete, wie er kurz darauf seinem Bruder mitteilte, das Ende seiner Rolle in der praktischen Politik: „Ich versuche zwar, mich von jeder Sorge um den Staat freizumachen, und widme mich den Wissenschaften, aber gleichwohl muss ich Dir etwas mitteilen, was ich, beim Herkules, besonders vor Dir verheimlichen wollte. Mich quält, mein liebster Bruder, mich quält, dass es keinen Staat mehr gibt, keine Gerichte, und dass ich mich in meinem Alter [er stand im 55. Lebensjahr], in welchem mein Ansehen als Senator in voller Blüte stehen sollte, mit Tätigkeiten auf dem Forum herumschlage oder mich zu Hause mit literarischen Arbeiten aufrechterhalte, dass indes jenes Ideal, nämlich Immer der erste zu sein und sich auszuzeichnen vor anderen, ganz zerronnen ist …“48 Was Cicero aufrechterhielt, waren also seine literarischen Arbeiten, sie waren Ersatz für die ihm verwehrte politische Führungsrolle und zugleich ihre Fortsetzung auf der Ebene der Theorie vom römischen Staat. Seine zahlreichen Aufenthalte auf seinen Villen in Tusculum, Arpinum und am Golf von Neapel verwandte er zu intensivem Studium und zum Schreiben. Unentbehrlich war ihm dabei Marcus Pomponius Dionysius, ein gelehrter Freigelassener des Atticus, der ihm auch als Hauslehrer seines Sohnes Marcus und seines Neffen Quintus diente. Zum ersten Mal wird er in Ciceros Korrespondenz im Jahre 56 erwähnt, als er zusammen mit dem griechischen Philologen Tyrannion und dem Sklaven Menophilus Ciceros Bibliothek in Antium ordnete.49 Cicero erweiterte im folgenden Jahr seine Bibliothek durch Ankauf der Bücherschätze, die aus dem Besitz des Diktators Lucius Cornelius Sulla stammten. Dessen Sohn Faustus musste wegen finanzieller Schwierigkeiten verkaufen. Während der Arbeit an De oratore schrieb Cicero am 22. April 55 aus Cumae an Atticus: „Ich weide mich hier an Faustus’ Bibliothek. Du dachtest vielleicht, an den Delikatessen von Puteoli und aus dem Lucrinersee. Auch die fehlen nicht. Aber wahrhaftig, alle sonstigen Zerstreuungen lassen mich kalt, alle Vergnügungen ekeln mich an angesichts der politischen Lage. So halte ich mich durch die Studien aufrecht und erhole mich bei ihnen und ziehe Deine Sitzbank, die unter dem Bild des Aristoteles bei Dir steht, dem Amtssessel dieser Leute vor [der Konsuln Pompeius und Crassus] und erginge mich lieber bei Dir zu Hause mit Dir als mit dem [Pompeius], um dessen Begleitung ich, wie ich sehe, nicht herumkomme.“50
Dies war noch während der Entstehungszeit von De oratore geschrieben, und auch in der Folgezeit, während er an De re publica arbeitete, blieb seine Stimmung die gleiche. Im November 54 waren die beiden ersten Bücher vollendet, und Cicero las sie einem kleinen Kreis von Vertrauten vor. Der Autor war sich danach über die endgültige Gestalt des Werkes noch nicht im klaren. Geplant waren neun Bücher. Aus dem Zuhörerkreis wurde ihm vorgeschlagen, selbst anstelle des jüngeren Scipio die Rolle des Hauptsprechers zu übernehmen.51 Er überdachte sein Konzept, ließ, was die Zeit und die Personen des Dialogs anbelangt, alles beim Alten, aber verteilte den Stoff auf sechs anstelle von neun Büchern. Insgesamt hat Cicero vermutlich drei Jahre an dem Werk gearbeitet, in den Jahren von 54 bis 52. Im folgenden Jahr wurde es veröffentlicht. Als er im Mai 51 Rom zur Übernahme der Statthalterschaft in Kilikien verlassen hatte, erhielt er die Nachricht: „Deine politischen Bücher sind in aller Munde.“52 Cicero hat später die sechs Bücher De re publica seinen philosophischen Schriften aus der Zeit der Alleinherrschaft Caesars zugerechnet und ihren Gegenstand als großes, der Philosophie eigenes Thema bezeichnet, das von Platon, Aristoteles, Theophrast und der gesamten Schule der Peripatetiker reichhaltig bearbeitet worden sei.53 Aber so tief sich Cicero auch in die staatstheoretische Literatur der Griechen eingelesen hatte – die Zeugnisse reichen zurück bis in die Zeit vor seiner Verbannung –, so ist doch seine Theorie des römischen Staates, zu der auch der Dialog über die Gesetze zu zählen ist, nicht einfach eine Nutzanwendung griechischer politischer Philosophie auf römische Verhältnisse.54 Nichts wäre beispielsweise irreführender als Cicero wegen Übernahme platonischer Buchtitel und motivischer Entlehnungen zu einem Platoniker zu erklären. Gewiss ist der Traum Scipios, mit dem De re publica endet, formal das Gegenstück zu dem großen Schlussmythos in Platons Politeia, doch in der Sache stellt Cicero das platonische Konzept, dass die der Wissenschaft gewidmete Existenz den Vorrang vor dem tätigen Leben des Politikers verdiene, auf den Kopf. Ebenso wenig folgt er der platonischen Forderung einer Philosophenherrschaft für den „Staat der Gerechtigkeit“. Cicero entscheidet sich im ersten Buch von De re publica für das tätige Leben des Staatsmannes, ganz so, wie er es schon vor seiner Verbannung in Auseinandersetzung mit der zwischen Dikaiarch und Theophrast ausgetragenen Kontroverse getan hatte, und er ersetzt im zweiten Buch die platonische Philosophenherrschaft durch die Vorstellung einer Vorbildlichkeit der historisch gewachsenen römischen res publica. Dass der jüngere Scipio die durch Tiberius Gracchus ausgelöste Krise des römischen Staates hätte überwinden können, wenn er mit diktatorischer Vollmacht ausgestattet am Leben geblieben wäre, ist die Voraussetzung von Scipios Traum am Schluss von De re publica: Den Staatsmann erwartet auch im Scheitern als Lohn seiner Tätigkeit der Genuss reiner Wissenschaft jenseits der Grenzen des irdischen Lebens.55
Es liegt auf der Hand, dass diese Uminterpretation des platonischen Konzepts in gleicher Weise Ciceros Lebenssituation und seine grundlegenden Überzeugungen widerspiegelt. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, ein theoretisches Modell des Idealstaates zu entwerfen. Er hielt sich an den Glauben einer Vorbildlichkeit des römischen Staates, wie er angeblich in vorgracchischer Zeit existierte, und deutete ihn als praktische Verwirklichung der griechischen Theorie von der gemischten Verfassung. Als Grenze zwischen dem Idealzustand und dem beklagten Verlust der res publica galt ihm die Zeit der gracchischen Unruhen. Für diese Grenzziehung schienen tatsächlich gute Gründe zu sprechen. Die Krise der Republik trat mit dem Kampf um die gracchischen Reformen in ihr offenes Stadium ein und fand mit dem Untergang der Gracchen kein Ende. Freilich war diese Krise nicht über Nacht gekommen, sie hatte eine lange, verdeckte Vorgeschichte, und es ist mehr als fraglich, ob es jemals den idealen Zustand gegeben hat, den Cicero dem Staat der Vorfahren zuschreibt. Das von ihm in De re publica entworfene Bild ist wohl eher ein Konstrukt, nicht ein getreues Abbild vergangener Wirklichkeit, sondern Angleichung der römischen res publica an das griechische Modell der gemischten Verfassung.56 Dieses Modell besagte, dass die Magistratur, in Rom vertreten durch die Konsuln, als Äquivalent der königlichen Gewalt, der Rat, in Rom der Senat, als aristokratisches Element und die Volksversammlung als demokratisches zusammenwirken und sich so im Gleichgewicht halten, dass keines der drei Elemente das Übergewicht gewinnt und so die Mechanik politischer Instabilität, Entartung und Kreislauf der Verfassungen, nicht in Gang kommen kann. Dieses Modell hatte Polybios, der griechische Historiker des Aufstiegs Roms zur Weltherrschaft, um die Mitte des zweiten Jahrhunderts für eine Erklärung der Stabilität benutzt, die neben der Heeresverfassung Rom in die Lage versetzte, verheerende Niederlagen zu überstehen und am Ende den großen Krieg gegen Hannibal siegreich zu beenden.57 Ob diese Erklärung zutrifft, kann hier auf sich beruhen. Aber dass die ‚gemischte Verfassung‘ keine Garantie ihrer Stabilität enthielt, war sowohl Polybios als auch Cicero bewusst, und nach dem Ende der Republik hat Tacitus sie in das Reich des Wunschdenkens verwiesen: „Alle Völker und Staaten haben entweder Volks- oder Adels- oder Alleinherrschaften. Eine Staatsform, die aus diesen drei Verfassungstypen ausgewählt und zusammengesetzt ist, kann leichter gelobt als verwirklicht werden, beziehungsweise, sie kann, wenn sie denn einmal verwirklicht ist, nicht lange dauern.“58 Das war der Widerspruch aus der Erfahrung der Wirklichkeit gegen die Verheißungen der Theorie. Schon Cicero hatte, als er De re publica schrieb, nach einer Erklärung dafür zu suchen, dass zu seiner Zeit von Dauer und Stabilität keine Rede mehr sein konnte. Seine Antwort fand er in der Vorstellung vom Verfall der Sitte der Vorfahren, also der idealisierten Sozialnorm des mos maiorum. Zusammen mit ihr, so meinte er, waren die großen Männer der Vergangenheit, die er verehrte, ausgestorben. Darin sah er die Schuld der Nachgeborenen, nicht etwa ein unerklärliches Verhängnis, und in diesem Sinne heißt es im fünften Buch von De re publica: „Dank der Väter Sitte und den Männern ihrer Art steht der römische Staat auf festen Füßen. Diesen Vers scheint er [der Dichter Quintus Ennius] mir, sei es wegen seiner Kürze, sei es wegen seines Wahrheitsgehalts wie aus einem Orakel verkündet zu haben. Denn weder hätten die Männer, wenn dies nicht die Sitte der Bürgerschaft gewesen wäre, noch die Sitte, wenn nicht solche Männer an der Spitze gestanden hätten, den Staat begründen oder eine so große und weit ausgebreitete Herrschaft ausüben und so lange bewahren können. Also verfügte vor unserer Zeit die Sitte der Vorfahren über herausragende Männer, und an der Sitte und den Einrichtungen der Vorfahren hielten diese herausragenden Männer fest. Obwohl unsere Zeit den Staat wie ein vorzügliches, jedoch altershalber schon verblassendes Gemälde empfangen hatte, hat sie es nicht nur versäumt, es in den Farben zu erneuern, mit denen es gemalt war, sondern hat nicht einmal dafür gesorgt, dass es wenigstens die Form und die äußeren Umrisse bewahrte. Denn was bleibt von der Sitte, von der der Dichter gesagt hat, mit ihr stehe der römische Staat auf festen Füßen? Wir sehen, dass sie so in Vergessenheit geraten ist, dass sie nicht nur nicht gelebt, sondern nicht einmal mehr gekannt wird. Und was soll ich noch von den Männern reden, da die Sitte selbst aus Mangel an den entsprechenden Männern zugrunde gegangen ist? Für dieses große Übel haben wir nicht nur Rechenschaft zu geben, sondern müssen wir uns wie Angeklagte in einem Kapitalprozess verteidigen. Denn durch unsere Verfehlungen, nicht aus irgendeinem Zufall bewahren wir den römischen Staat nur noch dem Namen nach, in Wahrheit haben wir ihn längst preisgegeben.“59
Die Erklärung für den Verlust des Staates der Vorfahren wird also auf einer ganz anderen Ebene gesucht als auf derjenigen einer Entwicklung der politischen Verfassung oder dem Wandel der Lebensverhältnisse. Es ist keine Rede von den objektiven Veränderungen, die die Existenz des Weltreichs und der Einbruch der Geldwirtschaft bewirkten, dafür umso mehr von den Veränderungen der Verhaltensweisen, von der Verabsolutierung des individuellen Ehrgeizes (ambitio) und der Geldgier (avaritia). Gewiss wäre es ungerecht, Cicero daraus einen Vorwurf zu machen. Aber das schließt die Berechtigung einer Kritik nicht aus, die auf die Verständnisgrenzen der in den geschichtlichen Prozess Verwickelten, und sei es der klügsten Beobachter, aufmerksam macht. Cicero besaß eine hohe Sensibilität für die fundamentale Bedeutung von Recht und Gerechtigkeit im staatlich organisierten Zusammenleben der Menschen, und dementsprechend heißt es in der berühmten Staatsdefinition des ersten Buches: „Der Staat ist also die gemeinsame Angelegenheit eines Volkes, Volk aber ist nicht jede wie auch immer miteinander verbundene Gemeinschaft, sondern eine Gemeinschaft gebildet durch Übereinstimmung in Rechtsordnung und Gemeinsamkeit des Nutzens …“60 Als er dies niederschrieb, war Gabinius wider alles Recht in seinem ersten Prozess freigesprochen worden, und Cicero kommentierte den Skandal mit den Worten: „Der Freispruch des Gabinius gilt allgemein als das Gesetz der Straflosigkeit.“61 Gewalt, Korruption und Rechtsbeugung beherrschten die Szene, genau das verstand Cicero unter dem Verlust der res publica. Das dritte Buch widmete er dem Problem der Gerechtigkeit, und bei diesem Thema griff er auf ein berühmt-berüchtigtes Redepaar zurück, mit dem im Jahre 155 das Schulhaupt der Akademie, Karneades, in Rom unliebsames Aufsehen erregt hatte. In dem ersten Vortrag vertrat er die Gültigkeit eines allgemeinen Naturrechts nach dem Prinzip: „Jedem das Seine“, im zweiten bestritt er dessen Allgemeingültigkeit und vertrat die Auffassung, dass das Recht der einzelnen Staaten auf den Vorteil der Herrschenden ausgerichtet sei und dass insbesondere Kriege und die Bildung von Großreichen auf der Wahrnehmung egoistischer Interessen beruhten und im Widerstreit zu der Forderung nach Gerechtigkeit stünden. Seinen römischen Zuhörern hielt er vor, dass sie auf ihre Eroberungen verzichten und zu ihren primitiven Hütten auf dem Palatin zurückkehren müssten, wenn sie gerecht sein wollten.62 Dies hat Cicero so wenig ertragen können wie seinerzeit die Zuhörer des Karneades. Er hat deshalb die Reihenfolge der Vorträge vertauscht und so der Verteidigung des Naturrechts das letzte Wort gegeben. Aber wie konnte er auf dieser Grundlage Caesars Eroberungs- und Raubkrieg in Gallien oder die Methoden rechtfertigen, mit denen die Statthalter Roms die Untertanen drangsalierten? Er umging die Realität, indem er ihr das Ideal entgegensetzte. Das Konzept des „rechtmäßigen Krieges“, das von Haus aus ein Ritual zur Eröffnung eines Krieges bedeutete, füllte er mit einem ethischen Gehalt im Sinne der Gerechtigkeit.63 Von da aus war es dann nur ein Schritt zu der Behauptung, dass die Vorfahren Kriege nur zur Selbstverteidigung oder zum Schutz ihrer Bundesgenossen geführt hätten. Und was die Ausübung der Herrschaft über Unterworfene anbelangt, verstieg er sich zu der These, dass nach dem Naturrecht die Stärkeren die Herrschaft über die Schwächeren zu deren Vorteil ausübten und dass ungerecht nur die Herrschaft über diejenigen sei, die zur Freiheit fähig seien. Aus diesem Stoff waren die Rechtfertigungsideologien, mit denen sowohl im Altertum als auch in der Neuzeit die unsägliche Institution der Sklaverei verteidigt worden ist. Das Problem der Gerechtigkeit hat Cicero freilich nicht losgelassen, und in dem Werk über die Gesetze, das De re publica fortsetzte, hat er es unter anderer Fragestellung aufgegriffen.
Als er im Jahre 52 mit der Arbeit an De legibus begann, hatte sich in Rom eine dramatische Veränderung der politischen Szenerie ereignet.64 Auf der via Appia stießen am 18. Januar zufällig Clodius und Milo mit ihren Leibgarden aufeinander. Clodius wurde bei dem Handgemenge verletzt und anschließend umgebracht. Die Folge waren die oben bereits erwähnten schweren Ausschreitungen in Rom. Pompeius wurde schließlich mit der Wiederherstellung der Ordnung beauftragt und zum Konsul ohne Kollegen gewählt. Im Vorjahr hatte er alles getan, um die Wahl Milos zum Konsul zu verhindern. Anfang April wurde Anklage gegen Milo wegen Gewalttätigkeit nach einem Sondergesetz des Konsuls Pompeius erhoben. Für Milo traten viele seiner optimatischen Parteigänger ein, nicht zuletzt Cicero, der ihm viel zu verdanken hatte: Er hatte im Jahre 57 entscheidend dazu beigetragen, dass Clodius’ Widerstand gegen Ciceros Rückberufung nach Rom gebrochen wurde. Es spricht für Cicero, dass für ihn die moralische Pflicht der Dankbarkeit kein leeres Wort war. Er ließ sich von der Übernahme der Verteidigung Milos auch nicht dadurch abbringen, dass Pompeius und Caesar den Angeklagten verurteilt und aus der stadtrömischen Politik entfernt sehen wollten. Asconius Pedianus schreibt in seinem Kommentar zu Ciceros Verteidigungsrede: „So groß war Ciceros Zuverlässigkeit und Treue, dass weder die Entfremdung der Menge noch die Verdächtigungen des Gnaeus Pompeius, weder die Gefahr, dass er vor dem Volk verklagt werden könne, noch die offen gegen Milo erhobenen Waffen ihn von dessen [Milos] Verteidigung abschrecken konnten, obwohl er doch alle Gefahr für sich selbst und jeden Anstoß bei der feindseligen Menge hätte vermeiden und Pompeius’ Gunst zurückgewinnen können, hätte er nur ein wenig in seinem Eifer, [Milo] zu verteidigen, nachgelassen.“65
Zu den Schwierigkeiten, mit denen die Verteidigung zu kämpfen hatte, gehörte die Beschränkung ihrer Möglichkeiten durch das Spezialgesetz des Pompeius. In einem abgekürzten Verfahren folgten auf die Befragung der Zeugen die Plädoyers, und der Verteidigung wurden nur drei Stunden eingeräumt. Es war damit ausgeschlossen, dass mehrere Anwälte sich wie sonst üblich die Aufgabe der Verteidigung teilten, und so einigten sich die Anhänger Milos auf die Wahl des berühmtesten Redners, also Ciceros, zum Wortführer in einer aussichtslosen Sache. Denn die Tötung des Clodius war ein von Milo befohlener Mord gewesen. Bei dem Zusammentreffen der beiden bewaffneten Leibgarden war Clodius verletzt in ein benachbartes Wirtshaus gebracht worden; dann hatte Milo aus Furcht vor einer Revanche seinen Leuten befohlen, das Haus zu stürmen und Clodius umzubringen. Wegen dieses Sachverhalts wollten die optimatischen Anhänger Milos die Verteidigung allein auf den Gesichtspunkt gründen, dass die Tötung im Interesse des Staates erfolgt sei und deshalb straflos bleiben müsse.66 Im Prinzip war Cicero der gleichen Meinung, doch eingedenk der Folgen, die die Hinrichtung der Catilinarier für ihn gehabt hatte, widersprach er und setzte eine Linie der Verteidigung durch, die den Gesichtspunkt der Beseitigung eines Staatsfeindes mit dem einer Tötung aus Notwehr kombinierte.67 Er behauptete in seiner Verteidigungsrede, dass Clodius das Treffen auf der via Appia in böser Absicht geplant habe – die Anklage warf umgekehrt Milo vor, seinerseits Clodius einen Hinterhalt gelegt zu haben. Beide Seiten waren übrigens im Unrecht, denn die Untersuchung des Falles ergab, dass das fatale Zusammentreffen zufällig erfolgt war. Cicero versuchte nun, sich in der Weise aus der Affäre zu ziehen, dass er einerseits die Tötung als Notwehr darstellte, da ihr ein geplanter Überfall der Gegenseite vorausgegangen sei, und andererseits die Tötung als einen Glücksfall für den Staat wertete: Obwohl der Täter nicht aus diesem Motiv gehandelt habe, verdiene er doch objektiv den Ruhm, wie er beispielsweise den berühmten Tyrannenmördern zuteil geworden sei. Um nun beide Argumentationsebenen zu verknüpfen, brachte Cicero die Götter ins Spiel: Zur Rettung Roms hätten sie Clodius den Gedanken eingegeben, Milo zu überfallen, und bewirkten damit, dass einerseits der Staat von einem Feind befreit wurde und andererseits der Angeklagte sich auf einen rechtlich unanfechtbaren Tötungsgrund, eben Notwehr, berufen konnte. Die tatsächlichen Umstände der Tötung, die die Tat als Mord qualifizierten, überging Cicero, denn sie entzogen seiner Verteidigungsstrategie jegliche Plausibilität. Angesichts der aufgeheizten Stimmung, in der die Verhandlung stattfand, verfehlte das feine Gespinst seiner Argumentation ohnehin seine Wirkung. Asconius Pedianus schreibt: „Als Cicero zu sprechen begann, wurde er vom Geschrei der Clodiusanhänger empfangen, die trotz ihrer Furcht vor den ringsum aufgestellten Soldaten nicht an sich halten konnten, und so sprach Cicero nicht mit der gewohnten Festigkeit. Aber auch die gesprochene Rede ist mitstenographiert worden und so erhalten geblieben. Die wir lesen, hat er so vollendet geschrieben, dass sie mit gutem Recht als seine beste gelten kann.“68
Der mit einer Stimmenmehrheit von 38 zu 13 verurteilte Milo ging nach Massilia (Marseille) ins Exil. Er besaß Humor und machte gute Miene zu Ciceros überarbeiteter brillanter Verteidigungsrede. Als er sie gelesen hatte, soll er gesagt haben, er preise sich glücklich; denn wenn Cicero vor Gericht die geschriebene Rede gehalten hätte, könne er jetzt nicht die herrlichen Seebarben genießen, wie es sie nur in Massilia gebe.69 Trotz des Misserfolgs verfolgte Cicero den eingeschlagenen Kurs weiter. In dem Prozesskrieg, der der Verurteilung Milos folgte, verteidigte er dessen prominenten Anhänger Marcus Saufeius und erwirkte zweimal einen Freispruch. Umgekehrt erhob er noch im Dezember entgegen dem Wunsch und der Intervention des Pompeius Anklage gegen den Volkstribun des Jahres 52, Titus Munatius Plancus Bursa, einen getreuen Gefolgsmann des Clodius, wegen der gewalttätigen Ausschreitungen nach dessen Ermordung und setzte seine Verurteilung durch. Er war nun wieder in Übereinstimmung mit sich und seinen optimatischen Gesinnungsfreunden. An einen seiner Freunde und Nachbarn in der Villenlandschaft am Golf von Neapel namens Marcus Marius schrieb er voller Genugtuung, als er sich für dessen Glückwünsche zur Verurteilung Bursas bedankte: „Vor allem aber empfinde ich Genugtuung darüber, dass die Gutgesinnten [bei dem Prozess] so entschieden für mich eingetreten sind gegen die unglaublichen Anstrengungen des erlauchten und allmächtigen Mannes [des Pompeius] … Ein großer Schlag ist uns geglückt! Niemals sind Bürger mutiger gewesen als diejenigen, die es gewagt haben, ihn [Bursa] gegen die gewaltigen Machtmittel dessen zu verteidigen, von dem sie selbst [nach Pompeius’ Spezialgesetz zur Verfolgung der Gewalttätigkeit] zu Richtern ernannt waren.“70
Cicero war, als er diesen Brief schrieb, noch immer von seinen Prozessvertretungen schwer in Anspruch genommen. Was ihm an freier Zeit blieb, verwandte er auf die Fortsetzung seines staatstheoretischen Werkes. Auf die Vollendung von De re publica folgte die Arbeit an De legibus. Im Unterschied zu De re publica ist in De legibus das fiktive Gespräch in die Gegenwart verlegt, die tragende Rolle des Hauptsprechers übernimmt Cicero selbst, seine Mitunterredner sind sein Bruder Quintus und sein engster Freund Atticus. Der Ort des Dialogs ist das väterliche Gut in Arpinum, die Heimat der Familie. Das Werk ist unvollendet geblieben, und was ausgearbeitet war, bevor Cicero im Mai 51 Rom verlassen musste, insgesamt mindestens fünf Bücher von geplanten acht (nach dem Vorbild von Platons Nomoi), ist erst nach seinem Tod aus dem Nachlass herausgegeben worden.71 Erhalten geblieben sind die beiden ersten Bücher, vom dritten etwa drei Fünftel, dazu noch einige Fragmente, unter anderem eines aus dem fünften Buch. Cicero griff zurück auf das griechische Konzept, die Ordnung eines Staates auf ein umfassendes Gesetzgebungswerk zu gründen. Darin waren Platons Nomoi sein Vorbild, aber im Unterschied zu Platon konstruiert er keinen Modellstaat aus Versatzstücken realer Rechtsordnungen, sondern sein eigentliches Thema ist die Fundierung des römischen Staates auf ein Grundgesetz, das mit der im ersten Buch dargelegten philosophischen Naturrechtslehre der Griechen in Beziehung gesetzt wird. Freilich ist die Art dieser Beziehung umstritten. Das Grundgesetz des römischen Staates ist aus der griechischen Naturrechtslehre nicht schlüssig abzuleiten. Allenfalls ließe sich die These vertreten, dass nach Ciceros Vorstellung ein immanenter Bezug zwischen beiden besteht. Aber wie dem auch sei: Evident ist, dass Ciceros eigentliches Thema die Gesetze des römischen Staates sind und diese das Subjekt, das Naturrecht das Prädikat in dem Argument Ciceros ist, das besagt, dass die Gesetze des römischen Staates dem Naturrecht entsprechen.72 Alfred Heuß hat darin den Ausdruck der Insuffizienz des philosophischen Theoretikers Cicero sehen wollen, aber er hat ihn doch als Theoretiker des römischen Staates durchaus ernst genommen. Das zweite und dritte Buch enthalten im archaischen Sprachstil des aus dem 5. Jahrhundert stammenden Zwölftafelgesetzes die Gesetze zum Sakral- und Staatsrecht. Diesen Gesetzestexten ist ein Kommentar beigegeben, aus dem die praktische Absicht erkennbar wird, mit dem Mittel der Gesetzgebung einen Beitrag zur Stabilisierung der erschütterten Ordnung der res publica zu leisten. Damit setzt Cicero die Methode der praktischen Politik, den Krisenerscheinungen der späten Republik mit Hilfe der Gesetzgebung beizukommen, auf der Ebene der politischen Theorie fort. Aber während es in der praktischen Politik meist um Einzelprobleme ging und die Gesetzgebung ebenso wie die politische Gerichtsbarkeit als Waffe im Kampf der Parteien diente, also Teil des Problems war, das sie bekämpfte, ging es Cicero darum, die gesamte Staatsordnung im Interesse einer Stabilisierung der Senatsherrschaft auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen. Die Mitte dieses Verfassungsstaates bildet der Senat: Die Magistrate fungieren als seine ausführenden Organe, das Volk wählt im Besitz bestimmter Freiheits- und Souveränitätsrecht die Magistrate und ordnet sich dem Regiment des Senats unter, denn dieser setzt sich aus den vom Volk gewählten Magistraten zusammen. Cicero war alles andere als ein Demokrat. Selbst die Wahl der Magistrate durch das Volk erklärte er für einen Fehler der Verfassung, der erst durch die Anerkennung der führenden Rolle des Senats seine Rechtfertigung findet: „Wenn aber aus denen, die eine Magistratur übernommen haben, der Senat gebildet wird, so ist es gewiss eine Konzession an das Volk, wenn die Wahl durch die Zensoren abgeschafft wird und niemand außer durch den Willen des Volkes an die höchste Stelle gelangt. Aber gegen diesen Mangel verschafft unser Gesetz ein Gegengewicht, wenn es die Machtstellung des Senats festigt. Denn es folgt [der Festlegung der Volkswahl] die Bestimmung: Seine [des Senats] Beschlüsse sollen Rechtskraft besitzen. Die Sache verhält sich nämlich so: Wenn der Senat Herr über die Regierungsbeschlüsse ist und, was er beschließt, alle verteidigen und wenn die übrigen Stände durch die politischen Entscheidungen des ersten Standes den Staat regiert sehen wollen, kann aus diesem Rechtsausgleich, da beim Volk die souveräne Gewalt (potestas), beim Senat die Führungsautorität (auctoritas) liegt, jene ideale Ausgewogenheit und Harmonie im Staat erreicht werden, zumal wenn man sich noch an das nächstfolgende Gesetz hält; denn unmittelbar darauf heißt es: Dieser Stand [die Senatsaristokratie] soll von Unmoral frei und den übrigen ein Vorbild sein.“ 73
Vom Volk geht also alle Macht aus, aber es regiert nicht, und die gemischte Verfassung hat nicht so sehr wie bei Polybios die Aufgabe, Stabilität durch Verhinderung des Kreislaufs der Verfassungen zu garantieren, als die Senatsherrschaft zu sichern. Dies soll geschehen durch Einbindung der Magistratur in das System, durch Sicherung der Rechtsverbindlichkeit der Senatsbeschlüsse und durch die moralischen Führungsqualitäten einer Senatsaristokratie, die die innere Zustimmung der übrigen Stände zu der Regierung des Staates durch den Senat verbürgten. Schon dies, der Dreh- und Angelpunkt der Überlegungen Ciceros, entsprach, wie er wusste, in keiner Weise der Realität seiner Zeit. Im Verfall der Sitten und im Fehlen der Männer vom alten Schlag, die der Gesellschaft als Vorbild dienen konnten, erblickte Cicero die eigentliche Ursache des von ihm beklagten Verlusts der res publica. Die Gesprächsteilnehmer sind sich darin einig, dass sich hier ein weites Feld für das sittenrichterliche Amt der Zensoren, die Strafgewalt der Gerichte und die moralische Erziehung der Gesellschaft durch Vorbilder öffnet.74 Cicero war sich über die Notwendigkeit einer verstärkten Kontrolle der Magistrate und Promagistrate durchaus im klaren. Deren Amtsmissbrauch war ja eine ständige Quelle von Korruption und Prozesskriegen, die dem Ansehen der regierenden Klasse und ihrer Geschlossenheit schweren Schaden zufügten. Zur Bekämpfung dieses Missstandes ordnet das von Cicero entworfene Grundgesetz an, dass die Magistrate (und Promagistrate) nach Ablauf ihrer Amtszeit vor den Zensoren Rechenschaft abzulegen haben. Dementsprechend soll die Zensur nicht nur wie bisher alle vier Jahre in Erscheinung treten, sondern sich ständig der Aufgabe der Rechenschaftsabnahme, der Sittenaufsicht und der Gesetzeskontrolle widmen. Die größten Angriffsflächen bot indessen die Stellung des Volkstribunats, das die Handhabe zu einer popularen Nebenregierung mit Hilfe der Volksversammlung gegen die Senatsmehrheit bot. Das Volkstribunat war daher in optimatischer Sicht der Motor der Entzweiung innerhalb der regierenden Klasse und zwischen Senat und Volk. Deshalb hatte Sulla dem Volkstribunat das souveräne Recht, Volksbeschlüsse der Plebejerversammlung zu erwirken, die den Gesamtstaat banden, entzogen und tribunizische Gesetzesanträge von der Zustimmung des Senats abhängig gemacht. Darüber hinaus hatte er den Volkstribunen die weitere Ämterlaufbahn verschlossen. Damit beabsichtigte er, dem Amt politisch ehrgeizige und talentierte Bewerber zu entziehen. Die Bestimmungen zur Entmachtung des Volkstribunats waren der Kern seiner Reformgesetze zur Stärkung der Senatsherrschaft gewesen. Dagegen wurde von popularer Seite Sturm gelaufen, und in seinem ersten Konsulat (70 v. Chr.) stellte Pompeius in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung und nicht zuletzt im wohlverstandenen Eigeninteresse die alten Rechte des Volkstribunats wieder her. Die Folgen für die Senatsherrschaft waren verheerend. Ohne die wiederhergestellten Rechte der Volkstribunen wären weder die Sonderkommandos eines Pompeius, eines Caesar und eines Crassus zustande gekommen noch die tribunizische Nebenregierung der 50er Jahre möglich geworden. Andererseits konnte dem Volkstribunat als Garanten der Bürgerfreiheit und des Schutzes vor magistratischen Willkürakten auch die Funktion zugeschrieben werden, das Volk in das aristokratische Regierungssystem zu integrieren. Nirgends wird diese gegensätzliche Einschätzung der Rolle des Volkstribunats so spannend inszeniert wie in De legibus. Beide Sichtweisen werden im dritten Buch zur Diskussion gestellt, und diese Diskussion endet in offener Meinungsverschiedenheit. Die von Quintus Cicero vorgetragenen Argumente für die Unvereinbarkeit von Volkstribunat und Senatsherrschaft enden mit einem klaren Votum für Sulla und gegen Pompeius: „Deshalb pflichte ich wenigstens in diesem Punkt Sulla mit Nachdruck bei, der durch sein Gesetz den Volkstribunen die Macht, Unrecht zu tun, genommen, die Macht, [Bürgern] Hilfe zu leisten, gelassen hat, und unseren Pompeius streiche ich in allen anderen Dingen immer mit dem glänzendsten und höchsten Lob heraus, ich schweige (jedoch) im Hinblick auf die tribunizische Gewalt. Denn ich will nicht tadeln, und loben kann ich nicht.“75
Marcus Cicero hebt bei aller Anerkennung der Gefährdung der Senatsherrschaft durch das Volkstribunat dessen integrative Funktion hervor und fordert, nachdem er Pompeius mit dem Argument verteidigt hat, dass das Amt eben wegen dieser Funktion nicht gegen die öffentliche Meinung dem Volk vorenthalten werden konnte und es klug war, seine Wiederherstellung nicht der popularen Seite zu überlassen, seine Mitunterredner zur Zustimmung auf, doch die wird ihm verweigert.76 Hier lag also, wie unmissverständlich klar gemacht wird, ein offenes Problem der überkommenen Verfassung. Es war nicht das einzige. Das andere betraf die schriftliche Stimmabgabe bei Abstimmungen in der Volksversammlung. Sie hob die Kontrolle des Abstimmenden durch die politische Klasse auf und war deswegen schon bei ihrer Einführung im letzten Drittel des zweiten Jahrhunderts umstritten gewesen. Andererseits konnte sie, einmal eingeführt, nach verbreiteter Meinung dem Volk so wenig verweigert werden wie die traditionellen Rechte der Volkstribunen. Der Ausweg aus dem Dilemma, den Cicero vorschlug, war die Aufhebung der geheimen bei Beibehaltung der schriftlichen Abstimmung: Die schriftliche Stimmabgabe solle offen erfolgen, so dass den Optimaten die Kontrollmöglichkeit erhalten bleibe, ohne dass die dem Volk gemachten Zugeständnisse rückgängig gemacht würden.77 Doch diese, wie man sagen darf, Scheinlösung zwischen Volksrechten und Senatsherrschaft ist unter den Dialogpersonen strittig. Der Bruder und der Freund sind für den alten Abstimmungsmodus per Handzeichen, Cicero vertritt den Kompromiss unter dem Gesichtspunkt der notwendigen Integration des Volkes in das aristokratische Regierungssystem. Eine Einigung kommt hier so wenig zustande wie im Fall des Volkstribunats.
Unstrittig ist hingegen im zweiten Buch die Bedeutung der Religion für den römischen Staat. Das von Cicero skizzierte Religionsgesetz beruht auf dem Glauben, dass die Existenz und das Gedeihen des römischen Staates auf der Erhaltung des Götterfriedens, der pax deorum, beruhten und dieser von der Einhaltung uralter Rituale und der Beachtung der Vorzeichen, mit denen die Götter Warnungen signalisierten, abhängig sei. Hier lag der Anknüpfungspunkt der Instrumentalisierung der religion civile durch die regierende Klasse. Die Deutungshoheit über die Vorzeichen lag in der Hand von priesterlichen Sachverständigenkollegien, insbesondere dem der Auguren, und diese waren fest in der Hand der Aristokratie. Die Auguraldisziplin war somit ein optimatisches Bollwerk gegen populare Herausforderungen: Akte der Magistrate, Wahlen und Abstimmungen der Volksversammlungen konnten unter Berufung auf Vorzeichen verhindert oder aufgehoben werden. Die römische Religion war somit eminent politisch, und gerade deshalb war sie im Kampf der Parteien umstritten. Caesar hatte in seinem Konsulatsjahr die religiöse Obstruktion gegen sein Gesetzgebungsprogramm souverän missachtet und mit Gewalt durchgesetzt, was zu beschließen gegen den von seinen Gegnern gedeuteten Götterwillen verstieß, und Clodius hatte als Volkstribun ein Jahr später die Vorzeicheninterpretation als politisches Kampfmittel der Optimaten gesetzlich einzuschränken versucht. Umso entschlossener verteidigte Cicero in seinem Religionsgesetz die traditionelle Rolle des Augurenkollegiums, dem er seit dem Jahre 53 selbst angehörte: Die Deutungshoheit über die Vorzeichen war die ultima ratio der Senatsherrschaft. In diesem Sinne heißt es im Kommentar zum Religionsgesetz: „Was nämlich gibt es Größeres, wenn wir nach ihrer [der Auguren] Rechtsstellung fragen, als die Möglichkeit zu haben, die Komitien und Versammlungen, die von den höchsten Amtsträgern mit und ohne Exekutivgewalt einberufen sind, zu entlassen, oder wenn sie schon abgehalten sind, für ungültig zu erklären? Was gibt es Bedeutenderes als die Unterbrechung eines bereits begonnenen Prozesses, wenn ein einziger Augur sagt: ‚An einem anderen Tag‘? Was gibt es Großartigeres, als die Entscheidungsmöglichkeit über den Rücktritt der Konsuln zu haben? Was Ehrfurcht Gebietenderes, als das Recht zur Verhandlung mit dem Volk und der Plebs zu gewähren oder zu verweigern? Oder als ein Gesetz, falls es nicht rechtmäßig beantragt wurde, aufzuheben …?“78
So sehr also Ciceros Gesetzentwurf von der Absicht bestimmt ist, die Senatsherrschaft unter einigen Zugeständnissen an das Volk zu stärken, so wenig schenkte er einem Phänomen Beachtung, das damals ihre größte Gefährdung darstellte. Die mehrjährigen Kommandos in den großen Militärprovinzen des Reiches schränkten nicht nur das Verfügungsrecht des Senats über die Provinzvergabe ein, sie waren auch die Quelle einer Machtkonzentration in der Hand Einzelner, gegen die der Wille der Senatsmehrheit nicht mehr ankam.79 Im Jahre 55 waren Gallien, Spanien und Syrien durch Volksbeschlüsse für mehrere Jahre an das Machtkartell Caesar, Pompeius und Crassus vergeben worden. Dies waren genau die Militärprovinzen, auf die ein Menschenalter später Augustus, der Erbe Caesars, seine Alleinherrschaft gründen sollte. Cicero wusste sehr wohl, dass das Machtkartell der Triumvirn stärker war als der Senat, und doch ignorierte er in seinem Gesetzentwurf zur Stärkung der Senatsherrschaft dieses fundamentale Problem. Kam darin eine Rücksichtnahme auf das auch nach dem Tod des Crassus im Jahre 53 noch immer bestehende Machtkartell, also auf Pompeius und Caesar, zum Ausdruck? Wir wissen es nicht.