In dieser Bibliographie raisonnée wird bewusst darauf verzichtet, den Leser auf das offene Meer der unübersehbaren Ciceroliteratur und damit in die Ratlosigkeit zu führen. Zu den Tausenden älterer Titel kommen, wie eine Stichprobe in der Fachbibliographie L’Année Philologique ergeben hat, jedes Jahr ca. 150 bis 200 neue hinzu. Den Überblick zu behalten dürfte auch Spezialisten schwerfallen. So sollen denn hier nur Hinweise zu den Hauptquellen und zu ausgewählter Literatur in der Absicht gegeben werden, den Stand und die zentralen Probleme der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Ciceros Leben und Werk jenseits der kleinteiligen Spezialforschung zu Detailfragen zu umreißen.
Ausgaben der Briefe, Reden und Werke Ciceros in der Originalsprache finden sich in den Ausgaben der Oxford Classical Texts, der Bibliotheca Teubneriana, der Collection Budé (mit französischer Übersetzung) sowie der Loeb Classical Library (mit englischer Übersetzung). Mit deutscher Übersetzung sind die Briefe, die rhetorischen und die philosophischen Schriften fast vollständig in der Sammlung Tusculum erschienen (Einzelnachweise im Literaturverzeichnis der Cicerobiographie von M. Fuhrmann, s.u.). Das Werk über den Redner, De oratore, liegt in einer zweisprachigen Ausgabe von H. Merklin in der Sammlung reclam aus dem Jahr 1978 vor, eine deutsche Übersetzung mit kommentierenden Anmerkungen von Th. Nüßlein ist soeben (2008) im Band IV ausgewählter Werke Ciceros im Patmos Verlag, auch in einer Lizenzausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft, erschienen. Das fragmentarisch erhaltene Werk über die Gesetze, De legibus, ist von K. Ziegler in den Heidelberger Texten 1950 (19793) ediert worden. Eine Übersetzung von K. Büchner erschien 1969 in der Reihe Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft. Der Dialog über Weissagungen, De divinatione, der nicht in die Ciceroausgaben der Reihe Tusculum aufgenommen wurde, ist im dritten Band der von L. Huchthausen herausgegebenen Auswahlausgabe, Cicero. Werke in drei Bänden, Berlin–Weimar 1989, mit übersetzt. Die erhaltenen Reden Ciceros hat M. Fuhrmann mit Einführungen und kommentierenden Anmerkungen in sieben Bänden für die Bibliothek der Alten Welt übersetzt (19852). Eine Sonderausgabe ist 2000 im Patmos Verlag erschienen. Über die verlorenen und unpublizierten Reden orientiert J. W. Crawford, M. Tullius Cicero. The Lost and Unpublished Orations, Hypomnemata 80 (1984). Von dem aus neronischer Zeit stammenden Sachkommentar des Asconius Pedianus zu Ciceros Reden ist ein Teil erhalten. Er ist jüngst mit einem Kommentar neu herausgegeben worden von R. G. Lewis, Asconius. Commentaries on Speeches by Cicero (2006). Der einzigartige Schatz der erhaltenen Briefe Ciceros ist in vier antiken Sammlungen aufbewahrt: An Atticus, An den Bruder Quintus und An Marcus Brutus sowie An Freunde und Bekannte (Ad familiares). Sie alle sind sprachlich und sachlich in besonderer Weise erläuterungsbedürftig. Die beste Übertragung ins Deutsche stammt von Martin Christoph Wieland mit noch immer lesenswerten Einleitungen und kommentierenden Anmerkungen in sieben teilweise postum edierten Bänden: 1808–1821). Eine Neuauflage erschien 1912/13 im Georg Müller Verlag. Wieland hat die Briefe aller vier Sammlungen in der chronologischen Reihenfolge angeordnet, in der sie geschrieben wurden. Dieses Ordnungsprinzip ist auch dem großen historischen Kommentar von R. Y. Tyrrell und L. C. Purser zugrundegelegt: The Correspondence of M. Tullius Cicero (6 Bände 1904–19332–3). Die letzte große kommentierte Ausgabe der vier Briefsammlungen in zehn Bänden wird D. R. Shackleton Bailey verdankt: Cicero’s Letters to Atticus (mit englischer Übersetzung 1965–1970), Epistulae ad Familiares (1977) und Epistulae ad Quintum fratrem et M. Brutum (1980). Die Briefe der einzelnen Sammlungen sind in chronologischer Reihenfolge abgedruckt. Den zweisprachigen Ausgaben von H. Kasten, die in der Reihe Tusculum erschienen sind, ist weder die überlieferte Anordnung der Briefe noch durchgängig die chronologische Reihenfolge zugrunde gelegt. Für die Briefe an den Bruder Quintus verweise ich auch auf die zweisprachige Ausgabe von U. Blank-Sangmeister in der Sammlung reclam.
Cicero sind im Altertum zwei Biographien gewidmet worden, die verlorene seines Privatsekretärs Tiro und die erhaltene des Plutarch von Chaironeia. Ihr ist eine zweisprachige (griechisch-italienische) Ausgabe mit materialreichem Kommentar gewidmet worden: Plutarco. Vite parallele: Demostene. Cicerone (Biblioteca Universale Rizzoli 1995, 291–611). Aufgenommen wurde der Faden biographischer Darstellung erst wieder in der Renaissance, und zwar von dem Humanisten und Stadtschreiber von Padua Sicco Polentone in den sieben Cicero gewidmeten Büchern 10–16 seiner Scriptorum illustrium linguae Latinae libri XVIII von 1437. Über den schottischen Humanisten des frühen 17. Jahrhunderts William Bellenden, De tribus luminibus Romanorum (1633), läuft der Strom des bereits von Polentone vorbildlich erschlossenen Materials zu Ciceros Leben und Werk bis zu der letzten umfangreichen Cicerobiographie aus humanistischem Geist: Conveyers Middleton, The History of the Life of M. T. Cicero (1741). Dies war das Referenzwerk, auf das sich Voltaire und die aufgeklärten Verehrer Ciceros im 18. Jahrhundert vielfach bezogen haben. Dann kam im 19. Jahrhundert der große Bruch mit der humanistischen Tradition Alteuropas, die Entstehung der modernen Geschichtswissenschaft und die Historisierung aller Geisteswissenschaften, von der nicht zuletzt auch die Klassische Philologie betroffen war. Dieser Entwicklung fielen die Verehrung und Wertschätzung Ciceros, von Ausnahmen abgesehen, zum Opfer. In dem Riesenwerk von Wilhelm Drumann, Geschichte Roms in seinem Übergange von der republikanischen zur monarchischen Verfassung oder Pompeius, Caesar, Cicero und ihre Zeitgenossen. Nach Geschlechtern und mit genealogischen Tabellen, Königsberg 1834–1844 wurde dieser Bruch radikal vollzogen, und Theodor Mommsen, hat die Verurteilung im dritten Band seiner Römischen Geschichte noch weiter zugespitzt. Was die klassischen Philologen anbelangt, führten die Einschätzung der lateinischen Literatur als einer von der griechischen abgeleiteten im Allgemeinen und die auf Ciceros Œeuvre bezügliche Quellenforschung im Besonderen zu einer weitverbreiteten Abwertung des Schriftstellers und Philosophen. So heißt es beispielsweise in der dritten Auflage der Geschichte der römischen Literatur von W. S. Teuffel von 1875: „Er gibt darin [in seinen philosophischen Schriften] seine griechischen Quellen in freier, unmethodischer Weise wieder, aber unter zahlreichen Missverständnissen … Seine Quellenstudien erstrecken sich vorzugsweise auf neuere Philosophen; von Platon aber und vollends von Aristoteles hat er nur ungenügende Kenntnis. Die schwierigen Probleme ließ er bei Seite … Die Form seiner philosophischen Schriften war meist die dialogische, aber etwas eintönig und ohne rechten Ernst durchgeführt: es sind Exzerpte, denen die Gestalt von Dialogen gegeben ist.“ – Es bedurfte der geduldigen Arbeit mehrerer Generationen von Philologen, bis dieses negative Urteil, das sich in der Sache mit der Einschätzung Mommsens trifft, revidiert war und eine gerechtere Würdigung der Leistung des Theoretikers und Schriftstellers sich durchgesetzt hatte. Im Zuge dieser Revision des Cicerobildes konnte es nicht ausbleiben, dass in Reaktion auf die ältere Abwertung übersteigerte ‚Ehrenrettungen‘ entstanden sind, die einer humanistischen Heiligsprechung (dies eine Formulierung von Uwe Walter) gleichkommen, so in dem Buch von K. Büchner, Cicero. Bestand und Wandel seiner geistigen Welt (1964). Spuren forcierter Begeisterung begegnen auch noch in dem jüngsten, im übrigen instruktiven Cicerobüchlein des Latinisten Wilfried Stroh, Cicero, Redner, Staatsmann, Philosoph (erschienen in der Reihe C.H.Beck Wissen 2008).
Was die Historiker anbelangt, so bleibt bei aller Abwendung von den harschen Verdikten Drumanns und Mommsens kritische Distanz zu dem Politiker Cicero vorherrschend oder, anders gewendet: Das Urteil bleibt abhängig von der Einschätzung der Rolle Caesars. In dem 1969 erschienenen Standardwerk von Matthias Gelzer, Cicero – ein biographischer Versuch, einem Muster sorgfältiger Quellenerschließung, steht Cicero ganz im Schatten Caesars und erscheint als ein antiquierter, letztlich unpolitischer Politiker. Christian Meier hat diesem Bild in einem großangelegten Essay noch schärfere Konturen verliehen: Cicero. Das erfolgreiche Scheitern des Neulings in der alten Republik, in: ders., Die Ohnmacht des allmächtigen Diktators Caesar. Drei biographische Skizzen (1980), 101–222. Historiker pflegen sich auf Ciceros Rolle in der Politik seiner Zeit zu beschränken. Dies tat Christian Habicht in seinem instruktiven Buch: Cicero der Politiker (1991). Habicht widerspricht der Einschätzung, dass Cicero im Grunde kein Politiker war, und, ohne sein Scheitern zu bestreiten, sieht er in ihm einen Politiker, der seine Sternstunden hatte. Habicht betont gegenüber dem skeptischen Urteil von Alfred Heuß in der Propyläen Weltgeschichte, dass Cicero eben doch am Ende die Idee der Republik verkörperte. Diese Verkörperung war er am ehesten als politischer Theoretiker und in der geistigen Auseinandersetzung mit dem Phänomen Caesar, und um davon eine angemessene Vorstellung zu gewinnen, muss man sich davor hüten, den Begriff des Politikers zu eng zu fassen. Dem zuletzt genannten Aspekt hat Hermann Strasburger sein Augenmerk in einer unvollendeten Studie zugewandt: Ciceros philosophisches Spätwerk als Aufruf gegen die Herrschaft Caesars, Spudasmata 45 (1990). Aber wie immer man zu Strasburgers Thesen im einzelnen stehen mag, so sicher ist doch auch, dass hier ein Aspekt verabsolutiert und die anderen Zielsetzungen, die Cicero mit seinen philosophischen Schriften verfolgte, ausgeblendet werden. Auf dem Feld der Philosophie fühlen sich Historiker meist unzuständig. Als Gelzer seinen monumentalen Artikel Cicero als Politiker in der Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft von 1939 in die Cicerobiographie des Jahres 1969 verwandelte, berücksichtigte er Ciceros Philosophica nur nebenbei und in der Weise, dass er dem Leitfaden eines zuständigen Fachmannes folgte: W. Süss, Cicero. Eine Einführung in seine philosophischen Schriften, Abh. d. Akad. d. Wiss. Mainz 1965, Heft 5. Umgekehrt leiden zusammenfassende Darstellungen von klassischen Philologen oftmals an mangelnder Vertrautheit mit dem historischen Umfeld, in dem Cicero sich bewegte, und selbst im engeren Zuständigkeitsbereich der Philologie herrscht die Zersplitterung der Einzelforschung. Wie schwierig es ist, die Teilbereiche von Leben und Werk Ciceros in einer großen Synthese zu vereinen, zeigt beispielhaft der RE-Artikel von 1939 (VII A 1, 827–1274). Dort stehen neben Cicero dem Politiker (Gelzer) der Verfasser rhetorischer (Kroll) und philosophischer (Philippson) Schriften sowie der Briefschreiber und der Dichter (Büchner). Hinzu kommt ein weiterer Teil in RE Suppl. XIII (1973), 1237–1347 über Sprache und Stil (v. Albrecht). Damit nicht genug: Zu Recht bemängelt W. Stroh in seinem Cicerobüchlein das Fehlen einer zusammenfassenden Würdigung des Redners Cicero und führt in seinem Literaturverzeichnis eine Reihe von Arbeiten an, die Vorarbeiten zu der ausstehenden Gesamtwürdigung darstellen. Alles in allem sind wir noch weit von der Erfüllung der Forderung entfernt, die mein Lehrer Carl Becker vor mehr als 50 Jahren aufgestellt hat: „Ein Buch über C[icero], das die verschiedenen Seiten seines Lebens und seiner Werke in ihrer Bezogenheit u[nd] ihre Verbindung mit der geschichtlichen Situation herausarbeitet u[nd] zugleich C[icero]s literarische Leistung, vom einzelnen sprachlichen Ausdruck bis zu der Gestaltung im Großen, würdigt, ist vielleicht die größte Aufgabe, die der lat[einischen] Philologie heute gestellt ist“ (RAC III, 89). Im Rahmen der Latinistik wird sich, so, wie die Dinge stehen, diese gigantische Aufgabe schwerlich lösen lassen, und es ist zu befürchten, dass ein solches Werk, wie es Carl Becker vorschwebte, im Niemandsland einer allumfassenden Zuständigkeit nie realisiert werden wird. Meine Habilitationsschrift, die die Anregung meines Lehrers aufgriff, war ein erster, unzureichender Versuch, für ein Teilgebiet einen Baustein für das größere Ganze zu liefern: Untersuchungen zum späten Cicero, Hypomnemata 29 (1971). Auf einem begrenzten Grundriss besitzen wir jetzt in dem Buch von M. Fuhrmann, Cicero und die römische Republik (1991; 19974; als Paperback 20073) eine Darstellung für ein allgemeines Publikum, die beiden Seiten Ciceros, dem Politiker und dem Schriftsteller, sowie den Zeitverhältnissen gerecht wird. Ihm fühlt sich der Verfasser dieser Cicerobiographie besonders verpflichtet. Zur näheren Charakterisierung der beiden Bücher von Fuhrmann und Habicht verweise ich auf W. Riess, Die Cicero-Bilder Manfred Fuhrmanns und Christian Habichts vor dem Hintergrund der deutschen Ciceroforschung, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 51 (1999), 301–321. Weitere Literatur nennen die gut ausgewählten Verzeichnisse in den Büchern von Habicht, Fuhrmann und Stroh.
Es gibt mehrere englische Cicerobiographien aus neuerer Zeit. Dort war man offenbar frei von der zeitweise im deutschen Sprachraum grassierenden Furcht vor der Biographie als einem vom Theoriedefizit gezeichneten illegitimen Kind der Geschichtswissenschaft. Ich nenne in der Reihenfolge ihrer Publikation folgende Werke: R. E. Smith, Cicero the Statesman (1966); D. Stockton, Cicero. A Political Biography (1971); D. R. Shackleton Bailey, Cicero (1971); E. Rawson, Cicero. A Portrait (1975) und das ausführliche, zweibändige Werk von Th. N. Mitchell: Cicero. The Ascending Years (1979) und: Cicero. The Senior Statesman (1991).
Ciceros Nachleben verdiente ein eigenes neues Buch. Das oben in dem Einführungskapitel genannte Werk von Thaddäus Zielinski ist als ganzes noch immer unersetzt. Über Ciceros Nachwirkung in Kaiserzeit und Spätantike orientiert der Artikel meines Lehrers Carl Becker, Cicero, in: RAC III (1957), 86–127.