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Am Sonntag bleiben meine Eltern im Bett. Ihr Flüsterlachen schwebt wie Watte durch den Flur.

Ich mache mir einen Kakao. Das Pulver löst sich in der kalten Milch nicht auf, für warme Milch wäre aber meine Mutter zuständig. Meine Schwester filtert sich einen Kaffee. Seit sie mit Benjamin von Mackensen zusammen ist, trinkt sie morgens Kaffee. Sie raucht auch heimlich und hat im Keller eine Flasche Asti Spumante versteckt. Benjamin geht aufs Pablo Neruda. Ich frage mich, wieso ausgerechnet er und nicht zum Beispiel Felix ihr fester Freund ist. Felix geht in ihre Klasse, ist ihr bester nicht fester Freund und außerdem der netteste, den sie jemals haben wird. Er spielt Klarinette, obwohl er nicht müsste. Er wäre auch als Geiger gut. Wenn meine Schwester mit Benjamin vorm Sofa sitzt, liegen ihre Beine parallel nebeneinander auf dem Teppich. Mit ihm sitzt meine Schwester nie auf dem Sofa, nur davor. Sie kratzt sich dann am Knöchel und sagt Worte wie »immanent« oder »relevant« oder dass sich »Emanzipation« vom lateinischen Wort für »Hand« herleite, was nicht nur bedeute, sich aus dem Griff des Patriarchats zu lösen, sondern selbst zuzugreifen. Ich verziehe mich mit dem Kakao in mein Zimmer und setze mich an meinen Schreibtisch.

Ich hasse es, wenn meine Eltern sich streiten. Es ist wie am Ende eines Diaabends, wenn im Projektor die Dias durch sind. Beim letzten Wechsel kommt Licht, obwohl man ein Foto erwartet hat. Eines, auf dem die Straße die gleiche Farbe wie der Himmel hat und mein Vater zum Beispiel meine Mutter den Wagen fahren lässt. Beim Plätzetausch begegnen sie sich auf halber Strecke und geben sich einen Kuss – in Wirklichkeit ist mein Vater zwar grundsätzlich für Frauen am Steuer, aber nicht bei meiner Mutter. Man sitzt auf dem Sofa oder davor, es gibt Chips und Erdnussflips, man sieht sich die Dias an, lacht, rätselt, erinnert sich und wird plötzlich von diesem leeren Licht geblendet. Man schließt die Augen und hofft, dass jemand aufsteht, den Projektor ausschaltet, die Leinwand einrollt, die leeren Schälchen für die Chips und Flips ineinanderstellt und »Schluss jetzt« sagt und vielleicht noch, dass irgendjemand den Aschenbecher ausleeren müsse, und zwar draußen in den Müll.

Ein Kakaoklumpen hat sich am Tassengrund abgesetzt. Ich puste, er platzt. Im Inneren ist das Pulver noch trocken. Es staubt aufs Porzellan. Ich verrühre es mit einem Rest Milch, dann drehe ich die Tasse um und lasse den Kakao auf eine Seite in meinem Reli-Heft tropfen. Der Fleck, der auf dem Papier entsteht, hat Ähnlichkeit mit Australien. Ein strahlenförmiger Kranz kleiner Inseln umgibt den Kontinent. Ich würde gerne auswandern. Ich würde mir ein Haus bauen und einen Beruf suchen, bei dem man nicht viel rechnen muss, U-Boot-Führer zum Beispiel, wenn man das Rechnen die unteren Dienstränge machen lässt. Ich bin mir nur nicht sicher, ob Axel mitkommen würde. Seit gestern Abend habe ich nicht mehr an ihn gedacht – und habe es trotzdem die ganze Zeit. Ich kann es nicht genau erklären. Es hat etwas mit meinem Körper zu tun, der Art, wie ich mich bewege. Wie meine Füße den Boden berühren, wie meine Arme an meinem Rumpf hängen, wie mein Hals meinen Kopf trägt. Meine Schwester hat gesagt, ich soll nicht so arrogant sein. Ich glaube aber, sie meint etwas anderes. Aus der Küche dringt jetzt Lärm. Es riecht nach gebratenem Speck.

»Guten Morgen, mein Schöner«, sagt meine Mutter, als ich runterkomme, und mein Vater: »Na, Dicker?« Es freut mich, wenn meine Mutter mich schön findet, obwohl sie meine Brustwarzen kennt. Dick bin ich auf keinen Fall.

»Es gibt Frühstück.«

»Mit gebratenem Speck«, ergänzt mein Vater.

Sie haben Rührei gemacht, verschiedene Sorten Aufschnitt und Käse auf einem Teller angerichtet, dazu gibt es Obstsalat, wahlweise mit Joghurt oder Quark, Marmelade in kleinen Schälchen, das Knäckebrot ist bereits ausgepackt und die Grapefruit nicht längs geschnitten, sondern quer in zwei Hälften. Sie haben einen Holzlöffel ins Honigglas gesteckt. Sie wollen sich entschuldigen.

»Sag deiner Schwester Bescheid«, sagt meine Mutter.

»Es gibt Frühstück«, rufe ich in den Flur. »Mit gebratenem Speck.«

Meine Mutter tut so, als sei sie zum Frühstück bei anderen Leuten zu Gast. »Dürfte ich mich freundlicherweise hierhin setzen?«, fragt sie, bevor sie auf ihrem Stuhl Platz nimmt, dem letzten, der noch frei ist. Wir spielen mit. »Bitte.« – »Gerne.« – »Warum nicht?« Mein Vater lädt sich den gebratenen Speck auf den Teller. Meine Mutter begutachtet das Geschirr. Sie hebt ihre Tasse an und entziffert die Aufschrift auf der Unterseite. »Wunderschön. Wo die das nur herhaben?« Dabei war sie es, die im letzten Dänemarkurlaub darauf bestanden hat, ins Möbelhaus nach Kopenhagen zu fahren, weil es das Geschirr nur dort gab.

Ich esse extra langsam, weil ich fest damit rechne, nach dem Frühstück beim Autowaschen helfen zu müssen. Ich bin der Einzige in der Familie, der das Chrom beim Polieren streifenfrei hinbekommt. Doch als wir fertig sind und die Papierservietten zerknüllen, wir haben Papierservietten benutzt, schlägt meine Mutter vor, ein Gesellschaftsspiel zu spielen. Wir einigen uns auf Monopoly. Mau-Mau findet mein Vater zu kindisch, Mensch ärgere Dich nicht zu langweilig und bei Malefiz die Regeln zu blöd.

Es läuft gut. Ich habe als Erster eine Farbe zusammen. Ich bebaue die Münchner, Wiener und Berliner Straße mit Häusern und werde durch Mieten reich. Meine Mutter landet zweimal im Gefängnis und fragt sich, ob es in ihrer Zelle wohl eine Heizsonne gibt. In der nächsten Runde gewinnt sie den zweiten Preis bei einem Schönheitswettbewerb und ärgert sich über die Kleckersumme, die sie bekommt. Meine Schwester schimpft auf den Kapitalismus, haut ein paar große Scheine aufs Spielbrett und reißt sich die Schlossallee unter den Nagel. Mein Vater soll für Krankenhaus und Versicherung ein Vermögen hinlegen, die Turmstraße bringt ihm auch nichts ein, weil meine Mutter die Badstraße hält und sich sowieso keiner dorthin würfelt, schließlich muss er ins Gefängnis. »Lass dir meine Zelle geben«, sagt meine Mutter, »die ist schön warm.« Kurz bevor ich meine Häuser am Opernplatz in ein Hotel umwandeln darf, das ich »Hotel Fidelio« nennen würde, muss mein Vater, gerade aus dem Gefängnis entlassen, zum zweiten Mal Einkommenssteuer ans Finanzamt überweisen. »Scheißsteuer«, brüllt er, schleudert seine Spielfigur aufs Brett und geht türknallend aus dem Zimmer. Gleich wird er den Wagen auf die Einfahrt fahren und die Chromteile mit Politur verschmieren.

Eine Zeit lang liest sich meine Mutter durch die Ereigniskarten, das Gesicht hart wie eine geschlossene Muschel. Dann steht sie ebenfalls auf, geht in den Garten und hockt sich mit Grubber und Schere in ein Beet. Die Pflanzen, an denen sie herumzupft, haben keine Namen. Sie heißen ohne Unterschied Bodendecker.

»Du kannst einpacken«, sagt meine Schwester und verschwindet. Kurze Zeit später dröhnen ihre Supertramp-Bässe durch die Decke. Ich sortiere die Geldscheine nach ihrem Wert, lege Karten, Spielfiguren, Häuser und Hotels in die vorgesehenen Fächer, klappe das Spielbrett ein und verschließe den Karton. Bevor ich ihn in die Schublade zwischen die anderen Spiele schiebe, öffne ich ihn noch einmal, nehme ein Hotel heraus und stecke es ein. Hotel Fidelio. Fünf Sterne. Frühstück vom Feinsten.

Den Rest des Tages gehen wir uns aus dem Weg. Als ich ein paar Stunden später wieder Hunger bekomme, horche ich auf Pausen zwischen den Geräuschen im Haus, dann husche ich in die Küche und esse bei geöffneter Kühlschranktür von den Resten des Frühstücks. Meine Schwester kommt rein, um ein paar Chicorée-Blätter abzunagen. Sie legt mir eine zusätzliche Scheibe Salami aufs Brot und beschmiert sie mit Senf, weil Salami mit Senf nach Brathähnchen im Römertopf mein zweites Leibgericht ist.

»Was hast du gemacht?«

»Nichts. Australien einen Rand gemalt.«

Wir gehen ins Wohnzimmer, setzen uns vors Sofa, schalten den Fernseher aber erst ein, als meine Schwester sicher ist, dass kein Kinderprogramm läuft, Rappelkiste oder Das feuerrote Spielmobil, das bei uns leider schwarz-weiß ist. Und ich soll arrogant sein? Mein Vater öffnet die Tür. Er zögert, als er uns sieht. Dann tritt er an den Tisch und wirft meiner Schwester wie zur Versöhnung die Eve von meiner Mutter vor die parallel liegenden Beine. Meine Schwester sieht ihn an. »Hab dich nicht so. Ich weiß sowieso Bescheid.«