Axel ist zurück. Meine rechte Seite ist wieder eine Antenne, meine Gedanken werden zu einem Summen unter der Haut. Von den tansanischen Nickelvorkommen, die ich auf der Karte im Norden des Landes eingezeichnet habe, bekomme ich fast nichts mit. Herr Becher spricht von der brutalen Herrschaft der deutschen Kolonialmacht, gegen die sich die Bevölkerung verzweifelt zur Wehr gesetzt habe. Die Aufständischen hätten sich mit Wasser und Mais eingerieben, um unbesiegbar zu sein, doch ihre Niederlage sei trotz ihrer Tapferkeit vernichtend gewesen. »Cornflakes«, sagt Claudia. Keiner weiß, warum.
Axel meldet sich. Er kommt dran und sagt nach einer kurzen Pause: »Sansibar.« Ein paar lachen. Herr Becher bittet um ausführlichere Beiträge, und Axel zählt auf: Sansibar, Archipel im Indischen Ozean, ehemals Sultanat und zentraler Handelsplatz für Sklaven, selbst nie Teil Deutsch-Ostafrikas, auch wenn fälschlicherweise geglaubt würde, es wäre im Zuge des Helgoland-Sansibar-Vertrags im Austausch gegen die Nordseeinsel als Protektorat dem britischen Imperium einverleibt worden, nach Entlassung in die Unabhängigkeit zu einer Provinz der Republik Tansania erklärt. Auf der Hauptinsel würden Gewürznelken angebaut werden, man verwende sie zum Verfeinern von Fleisch- und Fischgerichten, sie seien aber auch eine beliebte Backzutat und wirkten schmerzlindernd. Und der Sänger seiner Lieblingsgruppe Queen sei dort geboren. Alle haben sich umgedreht und starren Axel an. Seine Stimme vibriert in meiner rechten Seite wie die Zukunft. Herr Becher ist sprachlos. Dass er versehentlich die Karte von Südamerika ausrollt und die des östlichen Afrika suchen muss, bevor er sie an die Tafel hängt, merke ich erst, als Claudia in Gelächter ausbricht, das klingt, als würde sie überschwappen. »Fräulein Piel beweist Humor«, sagt Herr Becher, und Claudia kassiert einen Eintrag in seine schwarze Kladde. Die Lücke hat sich geschlossen.
In der Pause gehe ich Axel trotzdem aus dem Weg. Ich weiß, was sonst passieren würde. Meine Stimme würde seltsam klingen, wie die Stimme eines anderen, eines Jüngeren, und mir würden die passenden Worte nicht einfallen. Also würde ich unpassende Worte sagen, dabei stammeln und stammelnd das Gefühl bekommen, dass das Licht, das auf meinen Körper trifft, extrem hell ist und nirgendwo Schatten wirft. Alles wäre sichtbar, und ich würde anfangen zu schwitzen und überzeugt sein, mein Geruch sei Gestank und mein Körper eine eklige Masse. Ich würde mich hassen.
Ein paar von uns stehen vor der Turnhalle und versuchen, eine plattgetretene Milchtüte in einen Mülleimer zu schießen. Axel ist nicht dabei. Andi sagt gerade, dass Scharbeutz zum Beispiel ja auch keine Kolonie sei, sondern BRD pur, aber Rüdiger winkt ab: »Strand ist Strand«, und ob Andi nicht vielleicht mal aufs Klo gehen wolle. Im letzten Jahr waren wir mit der Klasse für eine Woche in Scharbeutz. Ich erinnere mich aber nur noch daran, dass mir die Steilküste ziemlich mickrig vorkam und man im Großen Buch der Naturwunder, das bei Frau Walther im Bücherregal steht, ganz andere Steilküsten zu sehen bekommt. Matthias aus der Parallelklasse, der Dicke mit Diabetes, nimmt Andi in den Schwitzkasten, aus dem bei ihm niemand mehr rauskommt, und Andi sagt, nun müsse er wirklich aufs Klo. Ich stelle mich zu ihnen und sage, dass Freddie Mercury wahrscheinlich schwul sei. Meine Stimme klingt exakt wie meine Stimme. Ich fürchte mich vor dem, was kommt, kann aber nicht mehr aufhören. Meine Schwester behaupte das, und wegen des Schnurrbarts stimme es wahrscheinlich auch, schwule Männer trügen häufig Schnurrbart, um wie richtige Männer auszusehen, und außerdem könne Freddie Mercury extrem hoch singen, was schwule Männer häufig gut könnten, weil sie, so behaupte es meine Schwester, nie richtig erwachsen werden würden, sie sähen zwar wie Männer aus, blieben aber ein Leben lang Jungs und seien schlicht unfähig, zu richtigen Männern zu werden, weshalb sie noch als Rentner Turnschuhe trügen und suspekte Schnurrbärte, hinter denen sie sich versteckten.
»Wie bitte?«, sagt Rüdiger, und Guido fragt, wer Freddie Mercury ist.
»Der Sänger von Axels Lieblingsband«, sage ich.
»Von Queen«, sagt Rüdiger.
Guido legt sich die Milchtüte auf die Schuhspitze.
»Ohne Hand«, sagt Matthias. »Sonst zählt es nicht.«
»Die sind aber doch gut«, sagt Guido.
»Na klar sind die gut«, sagt Rüdiger, und mir fällt auf, dass Andi nun doch nicht aufs Klo muss. »Du bist wirklich seltsam, Julle.« Rüdiger schüttelt den Kopf, dann klingelt es.
Nach der Schule hat mein Rad einen Platten. Ausgerechnet hinten. Im Reifenprofil kann ich nichts finden. Keinen Nagel, keine Glasscherbe, keinen spitzen Stein. Auf der anderen Seite des Fahrradständers steigt Andi auf sein Rad. »Wieso hilfst du mir eigentlich nicht, wenn die anderen zu mir bescheuert sind?« Der Wimpel an seinem Gepäckträger ist ausgefranst. Von der HSV-Raute ist nur noch die Hälfte übrig. Die Fäden zucken im Wind, als Andi davonfährt. Vielleicht habe ich wegen ihm einen Platten.
Ich schiebe schon eine Weile, als Axel mich einholt. Er beschleunigt, dann bremst er, eiert ein bisschen und steigt ab. »Was ist los?«
»Ich habe einen Platten.«
»Echt?«
»Hinten.«
»Hinten ist schlecht.«
»Ich weiß.«
Eine Zeit lang sagen wir nichts. Wir betrachten das Hinterrad meines Fahrrads, als sei da mit Blicken was zu machen.
»Vielleicht ist auch nur die Luft raus.«
»Man muss das Rad trotzdem abmachen.«
»Man kann es auch einfach aufpumpen und warten.«
»Ich habe aber keine Luftpumpe.«
»Ich auch nicht«, sagt Axel.
Wir schweigen, während wir unsere Räder schieben, Axel rechts von mir, so dass meine rechte Seite sich aufheizt und mein restlicher Körper taub wird, und starren auf den Weg, auf Risse im Asphalt, auf das Moos zwischen den Bordsteinen, auf einen verdreckten Gully, schließlich auf eine Wiese. Ein Rasensprenger kämmt die Luft. Ich wage nicht, aufzusehen und etwas zu sagen, denn meine Stimme klingt, wie ich sie mir in der Pause vorgestellt habe, wie die Stimme eines Jüngeren, dem die passenden Worte fehlen. Axel schlägt vor, einen Kompressor zu benutzen, das Ding an der Tankstelle, mit dem man Autoreifen aufpumpt.
»Ist das nicht verboten?«, frage ich.
»Doch«, sagt Axel.
Immerhin weiß ich, wo die nächste Tankstelle ist.
Kurze Zeit später stehen wir auf der Einfahrt. Axel gibt mir ein Zeichen, wir bücken uns und rennen zu den Zapfsäulen. Mein plattes Hinterrad springt übers Pflaster. Beim Diesel hängt an einem Pfeiler der Kompressor. Wir hocken uns neben einen schmalen Werkzeugschrank. Axel durchsucht seine Hosentaschen und zieht eine Mark raus. »Du holst uns was und lenkst den Tankwart ab. Ich mache das inzwischen mit der Luft. Ich weiß, wie das geht.«
»Und was willst du haben?«, frage ich.
»Egal«, sagt Axel. »Es geht nur ums Zeitgewinnen.«
Ich laufe gebückt zum Tankstellenhäuschen. Eine Glocke schrillt, als ich die Tür öffne. Der Tankwart reagiert nicht, er liest Zeitung. Ich stelle mich an den Tresen und lege das Markstück aufs Holz. »Haben Sie auch Motoröl?«
»Das ist eine Tankstelle«, sagt der Tankwart.
»Und ist es gut?« Der Tankwart schweigt. Vielleicht war Motoröl keine so gute Idee. Ich frage, was ein Bounty kostet. Ich hasse Bounty. Ich mag Kokos nur in Form ganzer Kokosnüsse.
»Sechzig«, sagt der Tankwart.
»Und ein Nuts?«
»Sechzig.«
»Und ein Mars?«
»Steht dran.«
»Und ein Milky Way?«
»Dreißig.« Die Stimme des Tankwarts klingt plötzlich tiefer.
»Dann kosten zwei Milky Way –«
»Sag mal, willst du mich –« Der Tankwart sieht auf und mir zum ersten Mal in die Augen. »Gehst du überhaupt zur Schule?«
»Ja, klar.«
»Und in was für eine?«
»Ins Wenckebach.«
»Und da haben sie kein Rechnen?«
»Doch.«
»Also? Was kosten zwei Milky Way?«
»Ach so«, sage ich.
»Und?«
»Sechzig natürlich.« Ich lasse meine Antwort wie eine Frage klingen, um noch etwas mehr Zeit zu gewinnen. Für einen kurzen Moment überlege ich sogar, dem Tankwart zu sagen, dass ich schwul bin. »Dann hätte ich gerne ein Nuts, bitte.«
Ich zähle das Rückgeld, indem ich die Groschen in eine Reihe schiebe und dabei meinen Mund bewege, als würde ich sie leise abzählen. Dann frage ich, wie teuer das teuerste Motoröl ist, doch der Tankwart ist der Meinung, dass ich gehen sollte. »Bei uns im Gymnasium heißt Rechnen übrigens Mathematik«, sage ich und renne, ohne mich zu bücken, zu den Zapfsäulen zurück.
»Das hat aber gedauert«, sagt Axel.
»Ja«, sage ich. Meine Stimme klingt endlich normal.
Es hat funktioniert, mein Reifen ist wieder prall. Wir steigen auf die Räder, rasen an den Zapfsäulen vorbei und bücken uns unter dem Fenster des Tankstellenhäuschens extra tief. An der nächsten Kreuzung halten wir, schnappen gleichzeitig nach Luft und essen jeder ein halbes Nuts.
»Ich habe alle Preise nachgefragt. Motoröl wollte er mir aber nicht verkaufen. Der war so dumm.«
»Wie dumm?«
»Wie ein Möbel so dumm.«
»Was für ein Möbel?«
»Eine Schrankwand.«
»Oder wie ein Teppich.«
»Wie ein Sofa.«
»Wie ein Sofa auf einem Teppich vor einer Schrankwand.«
»Wie zwei Sofas auf drei Teppichen vor tausend Schrankwänden.«
»Wie ein Fisch.«
»Wie seine Zeitung.«
»Wie ein Piepshamster.«
»Wie ein bescheuertes Kaninchen.«
»Wie die ganze bescheuerte Tankstelle.«
»Wie – wie eine Pfandflasche.«
»Ich habe auch ein Kaninchen«, sagt Axel.
»Ist es dumm?« Vom Lachen fliegt mir etwas Rotze aus der Nase.
»Ja«, sagt Axel. »Extrem dumm. Möbeldumm.«
Wir holen gleichzeitig Luft. Wir lachen gleichzeitig. Wir schlagen uns gleichzeitig an die Stirn. Wir brechen gleichzeitig über unseren Sätteln zusammen und lassen gleichzeitig unsere Arme hängen. Und dann ist es vorbei.
»Was hast du eigentlich gehabt?«, frage ich.
»Nicht so schlimm«, sagt Axel.
Als ich merke, dass das keine Antwort auf meine Frage ist, ist es schon zu spät. Wir haben den Kanal erreicht, schieben die Räder über den schmalen Weg, und Axel schlägt vor, das Rückgeld vom Nuts zu teilen. Ich bedanke mich, wieder mit viel zu junger Stimme. Am Wehr müsste Axel eigentlich abbiegen, doch er begleitet mich, als sei die Straße Richtung Hang sein normaler Heimweg. Vielleicht will er nicht, dass ich weiß, dass er an einer Straße wohnt, die auf »Ring« endet, in einem Hochhaus mit Balkonen aus Wellblech. Die Sonne spiegelt sich im Wasser des Kanals. Gleißende Flecke, die sich auf der Oberfläche winden wie geschmolzenes Licht. Nachdem ich ziemlich lange nachgedacht habe, frage ich Axel, ob Queen wirklich seine Lieblingsgruppe ist.
»Ja«, sagt er.
»Und welches Stück?«
»Somebody To Love.« Das Lied sei eigentlich ein Gebet. Freddie Mercury bitte Gott darin, jemanden für ihn zu finden, den er lieben könne, weil er jeden Abend zu Hause weine und viel Wasser im Gehirn habe. »Wahrscheinlich glaubt Freddie Mercury, dass Tränen aus Gehirnwasser bestehen. Und deine? Was ist deine Lieblingsgruppe?«
Weil ich keine habe und nicht Schubert oder Brahms sagen möchte, nehme ich die von meiner Schwester. »Supertramp.«
»Die sind auch gut.«
»Ja«, sage ich und füge nach einer Weile hinzu, dass die alle ziemlich hoch singen würden. Ich frage Axel, ob er wegen Freddie Mercury so viel über Sansibar wisse. Nein, sagt er, das sei Zufall. Er habe das im Lexikon nur wegen des Nickels in Tansania nachgeschlagen. Solche Sachen könne er sich leicht merken und würde sie dann nicht mehr vergessen. Dadurch, dass er sie wisse, komme er besser klar.
»Weißt du auch, was ein Spekulum ist?«
»Ein Keks?«
»Nein«, sage ich. »Ein Gerät, mit dem Frauenärzte, also, bei Frauen, wenn die was haben. Wenn sie. Es ist zum Reingucken.«
»Ach so«, sagt Axel.
»Ja«, sage ich. »Für unten.«
Obwohl wir langsam gehen und ich zusätzlich am Bremshebel ziehe, sind wir bei mir angekommen.
»Sven hat mir schon zweimal erzählt, dass sein Vater Frauenarzt ist.«
»Sven ist ja auch ein ziemlicher Krustenkopf.« Ich zeige auf unser Gartentor, sage, dass ich hier wohnen würde, öffne das Tor und schiebe mein Rad in den Vorgarten. Der Reifen ist noch immer prall.
Axel betrachtet das Haus. Er scheint Maß zu nehmen. Er blinzelt ins Licht und fragt, was mein Vater beruflich macht.
»Irgendwas mit Listen und Verkauf. Wir haben aber zum Beispiel überhaupt kein Haustier. Nicht mal einen Hamster. Und deiner?«
Axel zögert einen Augenblick. »Das erzähle ich dir dann.« Er schließt vorsichtig unser Gartentor, dann steigt er aufs Rad und winkt mir zu. Es sieht ziemlich lässig aus. Er bückt sich extra tief und fährt in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Kurze Zeit später öffnet meine Mutter die Haustür. »Na? Wie war’s?«
»Geht so«, sage ich und denke: Nickel. Nelken. Nuts. Axel ist nur noch ein Fleck, der am Kanal entlangrast. Und am Wehr abbiegt.