10

Nach der Schule holen wir uns am Kiosk Rolos, Salinos, Nappos, Bonitos oder Schaummäuse. Guido kauft sich ein trockenes Brötchen. Er findet, er hat davon mehr als von den ganzen Süßigkeiten. Matthias aus der Parallelklasse kauft sich nichts. Matthias aus der Parallelklasse hat Diabetes.

Wir reden über Mädchen, konkret über Bettina. In Reli hat Frau Rieder von ihr verlangt, den Knoten in ihrer Bluse zu lösen und die Bluse in ihren Jeansrock zu stecken. Um nackte Haut zu zeigen, sei der Religionsunterricht denkbar ungeeignet. Bettina hat ihr Reli-Buch aufgeklappt, auf ein Bild von Jesus am Kreuz gezeigt und Frau Rieder gefragt, was denn dann bitte das sei. Das sei der leidende Jesus, hat Frau Rieder gesagt und dass sie Bettina enttäuschen müsse, ihre Unverschämtheit verfehle angesichts der erschütternden Passion Christi ihre Wirkung, für Blödeleien sei der Heiland nicht zu haben. Aus irgendeinem Grund hat sie dabei in ihre Handtasche geblickt. Dann ist sie aufgestanden und hat den Grundriss des Tempels von Jerusalem an die Tafel gezeichnet. Währenddessen haben sich viele von uns den Jesus im Reli-Buch angesehen. Er ist dürr, aber nicht so dürr wie der Bademeister von neulich, und hat schöne Füße. Von den Händen erkennt man nicht viel, sie sind von Nägeln durchbohrt. Die Wunde, die ihm der römische Soldat zugefügt hat, klafft auseinander, seine Augen sind geschlossen, wahrscheinlich, damit ihm kein Blut von der Dornenkrone hineinläuft. Die Brustwarzen sind für einen Heiland extrem klein.

Rüdiger, der seit ein paar Tagen neben mir sitzt, weil Andi mit ihm den Platz in der ersten Reihe getauscht hat, hat den Finger auf Jesus’ Lendenschurz gelegt und geflüstert: »Ein Windstoß, und man kann von dem sein Ding sehen.«

»Meinst du, er hatte eins?«

»Na klar«, hat Rüdiger gesagt. »Er ist doch für uns Mensch geworden.«

»Und wie sah es aus?«, habe ich gefragt. Ich muss aufpassen, ich werde unvorsichtig.

Doch Rüdiger hat sich nichts anmerken lassen. »Normal, nehme ich an. Aber beschnitten. Jesus war Jude.«

Bevor ich fragen konnte, was das bedeutet, hat Frau Rieder Rüdiger aufgefordert, seine Aufmerksamkeit freundlicherweise dem Allerheiligsten des Salomonischen Tempels zuzuwenden, und wenn Frau Rieder höflich wird, sollte man aufpassen.

Andis Zähne sind bonitobraun. Er findet, dass Bettina eindeutig eine Göttin ist. Rüdiger sagt, dass Andi den Mund halten solle, und bohrt seinen Ellenbogen in seine Schulter. Andi quiekt, dass sein Onkel so was aber über jede gutaussehende Frau sagen würde.

»Heißt der vielleicht auch Rogalski?«, fragt Rüdiger.

»Natürlich«, sagt Andi. »Er ist ja der Bruder von meinem Vater.«

Sven schält die Schokolade von seinem Rolo und untersucht das Karamell, das zäh über seine Finger fließt. »Sie ist eben schon ziemlich weit.«

»Wer?«, fragt Guido.

»Bettina. In ihrer Entwicklung. Wahrscheinlich hat sie schon Schamhaar.« Sven möchte wie sein Vater Frauenarzt werden.

»Du etwa nicht?«, fragt Guido. Sven wird rot und schmiert sich versehentlich etwas Karamell in die Haare. Rüdiger fragt Axel, ob er Bettina auch für eine Göttin halte.

»Ich glaube nicht an Gott«, sagt Axel. Und weil alle ihn ehrfurchtsvoll ansehen, fügt er hinzu, dass ihm Bettina zwar gefalle, er aber auch Dorothea gut finde. Ich beiße einer Schaummaus den Kopf ab.

Plötzlich kommt Bettina und fragt, worüber wir uns unterhalten.

»Über Religion«, sagt Axel. Ich glaube, er ist der Einzige, der nicht rot wird.

»Und warum?«, fragt Bettina.

»Wegen der Sache mit dem Reli-Buch«, sagt Axel, »vorhin bei Frau Rieder.« Und dass Bettina recht gehabt habe, auf den meisten Darstellungen sei der gekreuzigte Jesus fast nackt, und in der Kirche hänge er einem sogar direkt vor der Nase, da könne Frau Rieder sagen, was sie wolle, viel mehr nackte Haut gehe nicht, und auf den Bildern, die Jesus als Baby zeigten, wäre häufig sogar sein Penis abgebildet, und die Jungfrau Maria würde ihm die Brust geben, nur damit wir die auch mal zu sehen bekämen.

Ich starre Axel an, und er wird unscharf. Dann die anderen. Dann sogar der Kiosk. Ich habe noch nie, wirklich noch nie ein Kind, nicht mal ein älteres, das Wort »Penis« sagen hören. Natürlich hat es meine Mutter schon ein paarmal gesagt, aber da ging es immer ums Waschen.

Bettina lächelt. Sie kauft sich ein trockenes Brötchen, höhlt es aus, steckt das Duplo, das sie sich ebenfalls gekauft hat, ins Loch, quetscht das Brötchen, beißt hinein und geht wieder. Wir starren ihr nach. Ein Duplo hat von uns niemand gekauft.

Am Wehr lehnt ein Mann am Geländer und glotzt aufs trübe Wasser. Neben ihm liegt ein Hund mit einem kegelförmigen Kragen um den Hals. Ich steige vom Rad. Als das Tier mich bemerkt, springt es auf und zerrt knurrend an der Leine. Mein Geruch gefällt den meisten Hunden nicht.

»Ravioli! Platz!« Der Mann tritt nach dem Hund, und der Hund legt sich winselnd zu seinen Füßen. »Glaub mal nicht, dass der nichts tut. Das stimmt nämlich nicht. Wenn du dich mit dem anlegst, wirst du das schon sehen.«

»Was denn zum Beispiel?«, frage ich.

»Dass der dich beißt zum Beispiel«, sagt der Mann. »Was hast du denn gedacht?«

»Ich dachte, das geht nicht, wegen der Tüte da.«

»Die ist nur, damit er sich nicht leckt. Gegen Beißen hilft die nichts. Wenn du den wütend machst, hält den auch die Halskrause nicht auf.«

»Hab ich auch gar nicht vor«, sage ich.

»Na, dann ist ja gut«, sagt der Mann. »Der würde nicht viel von dir übriglassen und dir zum Abschied noch in die Latschen kacken.«

»Lieber nicht«, sage ich, und obwohl ich den Mann für ebenso gefährlich halte wie seinen Hund, frage ich: »Heißt er wirklich Ravioli?«

»Ist ein italienischer Hund«, sagt der Mann, lehnt sich über das Geländer und glotzt wieder auf den Kanal. Ich haue ab. Hunde können fast alles riechen. Ob man Angst hat oder keine oder Krebs oder ob man gerade auf dem Klo war. Vielleicht kann so ein Hund auch riechen, ob man schwul ist. Und vielleicht würde ihm das nicht gefallen.

Zu Hause übe ich vor der zimmerbreiten Spiegelschrankwand im Schlafzimmer meiner Eltern normales Gehen auf kurzer Strecke. Es ist zwecklos. Meine Beine stelzen über den Teppich, als wären sie in meinem Becken nur eingehakt. Meine Kniegelenke sind steif. Sobald ich es mit beweglicheren Knien versuche, gehe ich so breitbeinig, dass es aussieht, als hätte ich mir in die Hose gemacht. Was das Gehen anbelangt, bin ich ein Witz. Unter den Gedanken über Jesus in der Wüste habe ich in meinem Reli-Heft aufgelistet, was mit meinem Körper geschieht, wenn ich nicht ausreichend aufpasse. Dort steht: »Bloß nicht machen: 1. Auf einem Bein stehen, das andere angewinkelt, wodurch der Arsch einknickt. 2. Beim Gehen mit dem Arsch wackeln. 3. Im Sitzen die Beine übereinanderschlagen und die Hände über Kreuz auf die Knie legen. 4. Gesten machen, die Schnörkel in die Luft zeichnen. 5. Aus Bosheit schrill lachen. 6. Durch die Nase reden. 7. Die Augen aufreißen. 8. Die Augen verdrehen. 9. Besonders aufpassen: Niemanden zu lange ansehen, schon gar nicht Jungs und auf keinen Fall denen auf die Hose.« Immerhin steht mein kleiner Finger nicht ab, auch wenn er zu schwach zum Geigespielen ist, und Schlagbälle werfe ich weiter als ein Achtel Fußballfeld, und zwar ohne Spaß, mit Spaß würde ich wahrscheinlich ein Viertel schaffen. Matthias schafft dieselbe Strecke mit Medizinbällen. Er hebt auch die Papierkörbe im Schulgarten hoch, wenn sie bis oben hin voll sind, und einmal hat er ein Fahrrad aufs Vordach der Aula geworfen. Mein Körper fühlt sich an, als würden sich in seinem Inneren keine Knochen befinden. Kein Gerüst, nichts, das ihn aufrichten könnte. Ich fixiere eine der oberen Kanten der Türen in der zimmerbreiten Spiegelschrankwand und strecke mich in ihre Richtung. Jetzt stehe ich gerade. Meine Gelenke knicken wahrscheinlich nur ein, weil ich sonst nicht merken würde, dass ich welche habe. Unter die Liste im Reli-Heft habe ich ein Gedicht über meinen Körper geschrieben. Es fängt mit dem Wort »Watte« an. Mehr habe ich noch nicht.

Meine Mutter sitzt am Küchentisch und zeichnet Kringel in eine Skizze, die wie ein Plan unseres Gartens aussieht.

»Was machst du?«

»Ich möchte die Bodendecker umsetzen und überlege mir, wie es schön aussehen könnte.«

Ich setze mich zu ihr. »Du müsstest sie in ihren Farben anmalen, damit du es dir besser vorstellen kannst.«

»Ihre Farben habe ich im Kopf. Ich kann sie mir auch so ganz gut vorstellen.«

»Dieser zum Beispiel? Welche Farbe hat der?«

»Der ist weiß. Mit einem leichten Blauschimmer.«

»Und der?«

»Der ist gelb.«

»Und der?«

»Der blüht nicht. Der ist immergrün.«

»Und der?« Ich zeige auf einen einsamen Kringel.

»Jetzt überleg doch mal. Das ist unser Apfelbaum!«

»Aber der Kringel sieht genauso aus wie die für die Bodendecker.«

»Die Kringel sind doch nur Zeichen, keine naturgetreuen Abbilder.«

Vielleicht ist mein Körper ja auch nur ein Zeichen. Ich würde meine Mutter gerne fragen, was sie sich vorstellt, wenn sie ihn sieht, aber ich lasse es, sie würde es wahrscheinlich nicht verstehen. Stattdessen frage ich nur, ob ich schon einmal geröntgt worden bin.

»Ja, als du das Loch im Kopf hattest.«

»Ach so«, sage ich. Ich denke nicht gerne daran. Ich war noch klein und habe geglaubt, dass ich irgendwann fliegen könnte und es nur eine Frage der Übung wäre. Ich habe stundenlang geübt. Ich habe im Flur Anlauf genommen, bin in mein Zimmer gerannt, bin auf Höhe des Schreibtischs abgesprungen und auf idealer Flugbahn aufs Bett geflogen – und eben einmal weniger ideal gegen die Kommode. Das Loch wurde mit vier Stichen genäht. »Gibt es das Bild noch?«, frage ich.

»Nein«, sagt meine Mutter. »Das haben sie im Krankenhaus behalten.«

Ich wundere mich, dass sie nicht nachfragt, warum ich mich für mein Röntgenbild interessiere. Sie ist aber auch sehr mit dem Garten beschäftigt. Sie radiert Kringel aus, um an ihrer Stelle Kringel zu zeichnen, die den ausradierten bis aufs Haar gleichen. Mir ist es egal. Ich finde Bodendecker einfach nur langweilig.

Oben lasse ich mich aufs Bett fallen. Etwas Fischertechnik, mit der ich mir ein Periskop bauen möchte, gräbt sich in mein linkes Schulterblatt. Ich mache mich schwer und stelle mir vor, wie die Technik in meinen Körper eindringt und sich Nut für Nut, Zapfen für Zapfen zu einem Skelett zusammensetzt. Ein graues Gerippe mit roten Gelenken, das von einem Elektromotor angetrieben wird. Mein Kopf ist ein Hohlraum aus Fischertechnik. Er denkt absolut nichts. Nicht einmal an Axel. Allerdings bereue ich, dass ich ihm die Röntgenbilder überlassen habe. Ich hätte mir gerne einmal in Ruhe den Schatten auf Karl Sieberts Beckenaufnahme angesehen. Ich füge meiner Liste im Reli-Heft einen weiteren Punkt hinzu: »10. Nicht so oft an die von den anderen denken, auch wenn sie nur Schatten sind.«

Den Rest des Tages sehe ich fern, esse was, sehe fern, esse noch was und sehe wieder fern, bis mein Vater bemerkt, dass ich noch immer fernsehe und mich ins Bett schickt. »Das ist Telly Savalas. Das ist nichts für Kinder.« Auf der Treppe stelle ich mir vor, dass mich die Fischertechnik hochträgt. Und plötzlich geht es. Endlich tut mein Körper das, was er soll. Zuverlässig wie eine Maschine bringt er mich die Stufen hinauf und über den Flur in mein Zimmer. Er macht keine überflüssige Bewegung. Ich kontrolliere ihn. Er gehorcht. Ich bin ein Zeichen, das sich niemandem verrät.

Mein Gedicht ist fertig geworden. Es lautet: »Watte. Zuckerwatte. Watte am Stiel.«