11

Peschkes wohnen im siebten Stock, es dauert, bis man sie auf dem Klingelbrett gefunden hat. Kießling, Wittmann, Zambrano, Raschke, Ünlü, H. Fischbach und R. Fischbach, Wollgast, Peschke. Ich warte einen Moment und überlege mir einen Satz, den ich zur Begrüßung sagen könnte, dann drücke ich die Klingel. Ein Summer entriegelt die Tür. Im Fahrstuhl faltet sich der Eingang auseinander. Durch die schmalen Fenster kann man den Fahrstuhlschacht vorbeifliegen sehen. Im siebten Stock glänzt der Flur korallenrot mit einem hellen Streifen. Wahrscheinlich ist er unterhalb des Streifens abwaschbar. Zwischen Ünlü und Wollgast befindet sich eine Stahlklappe in der Wand, mit Drehrad, wie die Luke eines U-Boots. Ich klingle bei Peschke, einen Augenblick später öffnet Axel die Tür.

»Wieso ist da eine Luke auf dem Flur?«

»Wo?«

»Das mit dem Rad da.«

»Das ist der Müllschlucker.« Axel tritt aus der Wohnung. Er dreht am Rad und öffnet die Klappe. Es stinkt nach Gammel. »Da schmeißen wir den Müll rein.«

»Und wo kommt der raus?«

»Irgendwo unten.«

»Und dann?«

»Dann wird er abgeholt. Schlucki.« Axel schließt die Klappe und führt mich in die Wohnung. Der Wohnungsflur ist ein schmaler Gang, von dem mehrere Türen abgehen. Sie sind bis auf eine verschlossen. »Soll ich dir die Wohnung zeigen?«

»Gerne.«

»Hier ist unser Bad.« Axel zeigt auf eine Tür neben dem Eingang. »Daneben ist das Schlafzimmer, hier die Küche, das ist mein Zimmer, da gehen wir gleich rein, und da vorne ist das Wohnzimmer.«

»Und wo sind deine Eltern?«

»Mein Vater ist unterwegs, und meine Mutter lebt nicht mehr.«

»Oh«, sage ich, und nachdem ich fieberhaft nachgedacht habe: »Das tut mir sehr leid.«

»Deshalb sind wir umgezogen. In der Wohnung davor wollte mein Vater nicht bleiben.« Axel stößt die Tür zum Wohnzimmer auf. »Das Wohnzimmer.« An einer kahlen Wand steht ein verschlissenes Sofa, dem Sofa gegenüber ein leeres Regal. Neben dem Regal liegt ein Stoß Bücher. Mehrere beschriftete Kartons stapeln sich im Raum. »Geschirr«, »Töpfe«, »Akten«, »Wäsche«, »Kleinkram«, »Spielzeug«. Auf einer Kiste steht »Susanne«. Auf dem Sofa liegen einige Kleidungsstücke mitsamt Bügeln, auf der rechten Armlehne steht ein voller Aschenbecher. »Mein Vater ist noch nicht so richtig zum Auspacken gekommen.« Axel schiebt mich auf den Flur zurück. »Willst du das Schlafzimmer auch sehen?« Ich schüttle den Kopf.

Axel öffnet die Tür zu seinem Zimmer, und es ist, als würde man eine andere Welt betreten. Direkt neben der Tür steht ein Bett an der Wand. Es ist sorgfältig gemacht, auf der Tagesdecke liegen zwei Kissen. Unter einem Fenster steht ein Schreibtisch. Stifte, Anspitzer, Radiergummi, alles ordentlich, ein paar Schulbücher, die Buchrücken haarscharf übereinander. Neben dem Schreibtisch lehnt ein Geigenkasten an der Wand, davor steht ein Notenständer. Einen Schrank gibt es nicht, aber unter dem Bett befinden sich zwei große Bettkästen. An der Wand gegenüber ist eine Postkarte mit der Aufnahme einer Urlaubslandschaft an die Tapete gepinnt. »Das ist der Titisee«, sagt Axel. »Im Schwarzwald.«

Er zieht einen der Kästen unter dem Bett hervor. »Also. Ich habe die Bilder nach Körperteilen sortiert.« Auf mehreren Kleiderstapeln liegen die Röntgenbilder von Karl Siebert. Axel verteilt sie auf dem Spannteppich. »Die meisten Bilder sind von seiner Lunge. Sie hat unterschiedlich helle Flecken. Die Bilder sind Negative. Hell ist schlecht. Wahrscheinlich hatte Karl Probleme mit den Lungen. Vielleicht hat er wirklich zu viel geraucht und deshalb aus Versehen die Hütte angezündet. Da können wir aber nicht sicher sein. Dann gibt es zwei Bilder von seinem linken Unterarm. Von oben und von der Seite. Sie zeigen dieselbe Verletzung. Ein glatter Bruch durch die Speiche. Das habe ich nachgeschlagen. Das ist der Knochen, der beim Daumen anfängt. Was mit dem Daumen an der anderen Hand passiert ist, kann man nicht erkennen. Das Bild ist unscharf. Und dann gibt es noch das Bild von seinem Becken. Auf der rechten Seite ist unten etwas ein bisschen verschoben. Ich nehme an, dass er sich da auch was gebrochen hat. Sein Ding sieht aber ganz gesund aus.« Axel kichert leise vor sich hin.

Ich tue so, als würde ich mitspielen. »Ja. Ganz gesund. Vielleicht etwas hell.«

»Wahrscheinlich der Anfang von dieser Penis-Krankheit.«

»Ja, genau«, sage ich. »Schlimm.« Axel hat zum zweiten Mal »Penis« gesagt.

»Die ist in Sansibar ja sehr verbreitet, weil es da so heiß ist und die da meistens nackt rumlaufen und sich aus purer Langeweile vorne ins Loch Nelken reinstecken, und manchmal verschwinden die, als würden sie eingesaugt werden, und dann muss man die per Röntgenbild suchen, weil, da könnte ja sonst was passieren.«

Ich halte die Beckenaufnahme gegen das Licht. »Ich kann aber keine Nelken erkennen.«

»Wenn man zu lange wartet, können die sich da drin auflösen. Dann kann man sie nur noch riechen.«

»Meinst du, Freddie Mercury hat auch diese Krankheit?«

»Fast alle Männer aus Sansibar haben diese Krankheit.«

»Die Armen. Sie haben Nelkenpenis. Aus ihrem Loch riecht es nach Weihnachten.« Wir lachen, bis der Witz verbraucht ist. Die Stille, die folgt, ist wie ein schwarzer Dunst.

»Hast du Hunger?«, fragt Axel.

»Ja«, sage ich. Wir räumen Karl Sieberts Röntgenbilder, nach Körperteilen sortiert, zurück in den Bettkasten. Beim Rausgehen zeige ich auf die Postkarte an der Wand und frage Axel, ob er dort schon einmal gewesen ist.

»Ja. In Himmelreich. So heißt der Ort. Man muss durchs Höllental, um dahin zu kommen.«

Axel holt Teller aus dem Wohnzimmer und schmiert uns an einem schmalen Küchentisch Brote mit jeweils zwei Scheiben Zervelatwurst. Bevor er mir meinen Teller rüberschiebt, schneidet er die Kruste von den Scheiben, so wie es Frau Walther tun würde.

Auch in der Küche lastet eine Stille aus schwarzem Dunst. Ich brauche etwas, bis ich mich traue, Axel zu fragen, woran seine Mutter gestorben ist. Ich denke dabei an meine Mutter, die Kringel als Zeichen für Bodendecker in einen Plan unseres Gartens malt.

»Manchmal sage ich einfach, dass sie weggegangen ist. Dass sie einen anderen Mann kennengelernt hat, einen, der Geld hat. Dass der sie angesprochen hat, irgendwo in der Stadt, und dass sie in ein teures Restaurant gegangen sind. Sie ist dann bei ihm eingezogen. Natürlich hat sie geweint, weil sie mich nicht mitnehmen konnte, aber Kinder sind in der Villa des neuen Mannes nicht erlaubt. Das liegt an der Mutter von dem Mann. Die wohnt in einem Seitenflügel und glaubt, dass Jesus Kinder nicht leiden kann.«

»Warum nicht?«

»Sie stören ihn. Sie reden ihm zu viel dazwischen.«

»Das glaube ich auch von Jesus.«

»Auf jeden Fall ist der Mann Chef von einer Nickelmine in Tansania.«

Wir lachen, dann frage ich, was Axels Vater von Beruf ist.

»Er verkauft Rechenmaschinen. Aber im Moment nicht.«

»Und was macht er im Moment?«

»Keine Ahnung«, sagt Axel. »Er geht rum.«

Ohne ihn zu kennen, stelle ich mir Axels Vater vor, der in der Stadt rumgeht auf der Suche nach seiner Frau. Er wird immer dünner, weil er sich noch nicht mal ein billiges Restaurant leisten kann. Irgendwann erreicht er eine Unterführung unter einer Bahntrasse. Er entschließt sich, weiterzugehen, weiter und immer weiter. Allmählich verschwindet die Landschaft. Was übrigbleibt, ist die glühend heiße Wüste. Dort trifft er auf den fastenden Jesus, und sie widerstehen gemeinsam dem Teufel.

»Seitdem meine Mutter tot ist, darf ich eigentlich alles. Zum Beispiel fernsehen, wann ich will. Hast du Lust?« Ohne meine Antwort abzuwarten, steht Axel vom Tisch auf und verschwindet im Wohnzimmer. Ich fasse in den schwarzen Dunst, doch er lässt sich nicht fortschieben. Kurz darauf schleppt Axel ein kleines Fernsehgerät in die Küche. Er steckt den Stecker ein, schaltet das Gerät an und richtet die Antenne aus. Nach einer Weile schneit sich ein Bild zurecht. Man erkennt, wie sich das kleine D der drehscheibe vom zweiten Programm dreht. Hell, dunkel, hell, dunkel, schlecht, nicht schlecht, schlecht, nicht schlecht, schlecht.