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Mein Vater ist im Hockeyclub, meine Mutter in der Stadt und meine Schwester mit ihrem Asti Spumante bei Benjamin von Mackensen. Ich habe Hausarrest. Vor die Tür darf ich nur, um den Müll rauszubringen oder die Zeitung rein, sonst soll ich im Zimmer bleiben und nachdenken und das dann aufschreiben. Als ich gestern Abend nach Hause gekommen bin, war es exakt 23:18 Uhr. Ob ich denn bescheuert sei, ich sei ein Kind, kein verpickelter Jugendlicher, und warum sie eigentlich nicht die Nummer von der Mutter von diesem Mädchen hätten. »Hast du das etwa geplant?« Eigentlich nicht, habe ich gesagt, das sei zufällig passiert und deshalb ja wohl auch nicht so schlimm, worauf mein Vater »Hausarrest mit offenem Ende« gebrüllt und mich ins Bett geschickt hat. Viel ist beim Nachdenken heute noch nicht rausgekommen. Bisher habe ich nur ein paar halbe Apfelsinen gemalt und Australien einen zweiten Rand.

Ich gehe runter und schalte den Fernseher an. Im Dritten läuft eine Sendung über Bäume im Schwarzwald. In der Küche klaue ich mir ein Glas Himbeermarmelade und gehe wieder hoch. Die Betten im Schlafzimmer meiner Eltern sind noch nicht gemacht. Auf dem Nachttisch meines Vaters liegt ein Bildband über Segelboote, auf dem meiner Mutter ein Paar Ohrringe und ein Taschentuch mit dem Abdruck ihres Lippenstifts. Die zimmerbreite Spiegelschrankwand steht offen. Die Seidenblusen meiner Mutter hängen an Bügeln auf der linken Seite. Daneben quetschen sich ein paar erdbraune Damenhosen an die Stange. In der Mitte hängen die Röcke meiner Mutter, mini, midi, maxi. In einem Fach rechts davon liegen übereinandergestapelt die Unterhosen meines Vaters. Weiß und gebügelt. Nur am Bündchen sind drei farbige Fäden eingewebt. Zwischen den Beinlöchern sind die Unterhosen ausgebeult. Ich ziehe mich blitzschnell aus und eine der Unterhosen meines Vaters an. Mein Ding passt dreimal in seine Beule. Ich schiebe die Tür der Schrankwand zu und betrachte mich im Spiegel. Die Unterhose ist ziemlich elastisch, aber bis zu meinen Brustwarzen bekomme ich sie nicht hochgezogen.

Plötzlich steht mein Vater schwankend in der Tür. »Sag mal, spinnst du? Was machst du hier? Was soll das? Ist das etwa meine Unterhose? Wo ist deine Mutter?«

»In der Stadt«, sage ich.

»Das ist mir scheißegal. Was machst du hier?«

»Ich wollte nur.«

»Was?«

»Nur mal kurz.«

»Was wolltest du kurz?«

»Gucken.« Um irgendwas zu tun, zeige ich auf mein Spiegelbild.

»Was soll der Scheiß?«

»Es ist nur«, stammle ich. »Ich wollte. Tut mir leid. Ich wollte nur gucken. Nur kurz. Weil ich schwul bin. Tut mir leid.«

»Das ist kein Grund, in meiner Unterwäsche rumzuwühlen«, schreit mein Vater. »Verschwinde. Du ziehst die aus und tust die unten in die Waschmaschine.« Ich will die Unterhose ausziehen, doch er schreit: »Nicht hier. Unten.« Er riecht extrem nach Hockeyclub. Plötzlich bekommt er einen Lachanfall und muss sich am Türrahmen festhalten. »Du bist so eine Pfandflasche. Hau ab. Ich will meine Ruhe. Und Glückwunsch zur Erkenntnis.« Ich bin schon fast an der Treppe, da brüllt er noch: »Du machst den Rasenmäher sauber. Tippitoppi. Und fettest die Messer ein. Wenn der hinterher nicht wie neu aussieht, kannst du – was macht die Marmelade hier auf meinem Nachttisch?« Und damit knallt die Tür zu.

Ich ziehe die Unterhose noch auf der Treppe aus. Ich laufe in den Keller, lege sie sorgfältig gefaltet auf die Waschmaschine und beschwere sie mit der Kaffeetasse, mit der meine Mutter das Waschpulver aus der Packung schöpft. Dann renne ich hoch in mein Zimmer und ziehe besonders lumpige Sachen an. Im Dritten läuft jetzt ein Quiz. Ich rolle den Rasenmäher aus der Garage in den toten Winkel neben der Regentonne, kippe ihn und hocke mich vor die Messerwalze. Während ich die Grashalme einzeln von den Klingen zupfe, zähle ich sie, dann lege ich sie nebeneinander auf den Beton. Ich schaffe etwa zwanzig Halme in der Minute.

Das Ganze war ein Versehen. Ich habe nicht vorgehabt, es zu erzählen. Nicht heute, nicht morgen, nicht übermorgen. Ab jetzt bin ich nur noch der Schwule. Ich kann die Brustwarzen meines Vaters nicht mehr ansehen, ohne dass es etwas bedeutet. Ich kann nicht mehr über seine Witze lachen, kann ihn nicht ohne weiteres dafür bewundern, dass er aufs Dach steigt und die Fernsehantenne ausrichtet, dass er beim Autofahren das Lenkrad nur mit dem Daumen bedient und manchmal auch nur mit dem Schenkel und dass er beim Hockey wahrscheinlich einen Haufen Tore schießt, von denen er zu Hause nie etwas erzählt. Ich kann auch nicht stolz darauf sein, dass er einmal in der Schule auf den Tisch gehauen und erklärt hat, eine Sportnote sollte berücksichtigen, was die Kinder gut können, und sein Sohn sei nun einmal ein hervorragender Seilkletterer und der Lehrplan ihm herzlich egal. Ich kann nicht mal, wenn er meine Mutter hochhebt und aufs Sofa wirft und sich neben sie und sie küsst, hinterherspringen und mich zwischen sie drängeln. Es könnte ja bedeuten, dass ich in ihn verliebt bin.

Die Grashalme sind ab, die Klingen eingefettet, ich habe sogar den Auffangkorb geputzt. Als ich ins Haus komme, steht mein Vater am Küchentisch und berichtet meiner Mutter, dass man sich im Hockeyclub erzählt, Dr. Schlierhammer würde sich von seiner Frau scheiden lassen. »Die ist wahrscheinlich schon wieder in ihrem Bora-Bora. Jetzt hat er vor, die von davor zu reaktivieren.«

»Thailand«, sagt meine Mutter.

»Was ist mit Thailand?«, fragt mein Vater.

»Die Gattin von Dr. Schlierhammer kommt aus Thailand.«

»Hübsch ist die aber.« Mein Vater klaut sich eine Gurkenscheibe aus der Salatschüssel.

»Willst du vielleicht mal den Tisch decken?«, fragt meine Mutter.

»Die andere hat ein Muttermal am Hals, auf das man andauernd sehen muss. Darunter leidet der Rest.«

»Was würdest du eigentlich davon halten, wenn ich dir erzählen würde, wo Dr. Schlierhammer überall Muttermale hat, die den Blick auf seine Vorzüge verstellen?«

»Wo denn?«, fragt mein Vater.

»Wir brauchen Schälchen für den Salat«, sagt meine Mutter.

»Der einzige Vorzug, den Dr. Schlierhammer hat, ist sein Kontostand.«

Meine Mutter sieht mich im Flur stehen. »Na, mein Schöner?«

Mein Vater geht zum Schrank, holt vier Schälchen heraus und drückt sie mir in die Hand. »Hilf mal aufdecken. Und dann sag deiner Schwester Bescheid.«

»Die ist bei Benjamin«, murmle ich, ohne aufzusehen.

»Benjamin. Benjamin.« Mein Vater schüttelt den Kopf.

»Wenn du irgendwann eine Freundin hast, versauern wir hier komplett«, sagt meine Mutter.

»Irgendwann. Irgendwann.«

Meine Mutter verbrennt sich am Nudelauflauf. Mein Vater knallt ein Brettchen auf den Tisch. Ich weiß nicht, was er mit »irgendwann« meint. Vielleicht nichts. Vielleicht hat er alles vergessen. Er war betrunken. Vielleicht ist er eingeschlafen und hat von einem Mädchen geträumt, das aus der Spiegelschrankwand getreten ist und ihm ein Glas Himbeermarmelade geschenkt hat. Jenes Glas, das jetzt neben der Spüle steht. Meine Mutter schiebt den Nudelauflauf aufs Brettchen und pustet auf ihre Fingerspitzen.

»Die war ständig aufgemotzt. Bevor die den Geschirrspüler eingeräumt hat, hat die sich erst mal geschminkt.«

»Welche jetzt?«

»Die aus Bora-Bora«, sagt mein Vater und fügt kauend hinzu, die andere besitze ein Lockengerät und rieche deshalb immer etwas angebrannt.

»Hast du an ihr geschnuppert?«, fragt meine Mutter.

Meine Eltern hauen rein, ich nage am Salat. Irgendwann erwähnt meine Mutter, dass mein Vater seine verdreckten Unterhosen gerne auch direkt in die Maschine werfen dürfe. Ich habe das Gefühl, dass mein Vater sich zwingt, nicht zu lachen. Mit harten Lippen fragt er, ob es noch Kuchen gebe. »Der Junge ist noch lange nicht satt.«