22

»Der und seine komischen Wolken. Was ist dem sein Problem?« Aus irgendeinem Grund finden die meisten Rüdiger heute bescheuert. Ich benutze meine Augen wie Fenster und beobachte ihn durch sie, als würde ich in meinem eigenen Kopf stehen. Er zeichnet gerade ein Treppenwesen entlang der Karos in sein Ringbuch. Es ist nackt. Das Ding des Wesens wächst über die gesamte Seite. Die Eier sind gezackt.

»Wer ist das?«, frage ich.

»Das sieht man doch«, sagt Rüdiger. »Herr Stahnke. Den Überbiss habe ich aber verhunzt.«

Ich vergleiche das Bild mit dem echten Herrn Stahnke, der uns gerade darüber aufklärt, dass wir Menschen Diplonten seien, deren Chromatiden sich chiasmatisch miteinander verbinden würden. Bei ihm würde das Ding über die gesamte Klasse ragen.

Solange ich Rüdiger ansehe, wird er mich nicht ansehen. Ich weiß nicht, wie ich dieses Dilemma lösen soll. Aber ich weiß, dass ich ihn nicht bescheuert finde. Ganz im Gegenteil. Aus irgendeinem Grund hat er den Zeigefinger seiner linken Hand im unteren Ring seines Ringbuchs eingeklemmt.

»Ich habe ihn neulich mit meiner Mutter im Supermarkt getroffen. Er hat ihr erzählt, dass sein Hund gestorben ist und er ihn ausstopfen lassen will.«

Herr Stahnke schlägt aufs Pult. »Rüdiger.« Dann spricht er bedeutungsvoll vom Daseinskampfe. Ich kann Leuten einfach nicht zuhören, die an normale Wörter ein E dranhängen.

»Er hat vier Packungen Tiefkühlspinat gekauft«, flüstert Rüdiger.

»Und was noch?«, flüstere ich.

»Speisestärke«, flüstert Rüdiger und radiert dem Treppenwesen die Vorhaut weg. Ich greife hinüber und befreie Rüdigers Zeigefinger aus dem Ring.

»Rüdiger!«, brüllt Herr Stahnke.

»Was für ein bescheuerter Name«, flüstert Rüdiger.

In der Pause sehe ich Axel mit Dr. Lachmann diskutieren. Er scheint ihm seine Geige geben zu wollen, doch Dr. Lachmann lehnt ab und versucht offenbar, ihm etwas zu erklären. Axel schüttelt den Kopf. Schließlich stellt er das Instrument an die Wand und geht. Ich will ihm nach und fragen, warum er seine Geige loswerden will, doch in diesem Moment blinkt Nataljas Zahnspange vor meinem Gesicht. Ich könne mich auf was gefasst machen, Jörg wolle mich hinter der Aula treffen, und zwar umgehend. Sie sagt das letzte Wort, als wären es drei, und ich habe Zeit, über Alternativen nachzudenken. Ich könnte Jörg verpetzen, mir Prügelhilfe von Guido, Rüdiger und Matthias holen oder Bettina bitten, Jörg mit ihrem Knoten zu verwirren. Oder ich bitte Natalja, dasselbe mit ihrer Zahnspange zu tun. Wenn sie ihren Mund zulässt, sieht sie eigentlich ganz hübsch aus. Ich könnte auch einfach abhauen. Doch ich habe mir vorgenommen, keine Angst mehr zu haben. Natalja scheint mich zu bedauern. Während ich die schmale Treppe am Seiteneingang der Aula zum abgelegensten Teil der Schule hinuntersteige, denke ich, du Zwerg, du Gnom, du Wicht. Es regnet in Strömen.

Jörg wartet an einem Baum, breitbeinig und durchnässt. Ich habe zwar keine Angst mehr, aber ich bin immer noch ein Klappergestell, eine Puppe aus zusammengehakten Stäben.

»Soll ich dir mal zeigen, wie man sich wehrt?«

»Warum das denn?«, frage ich.

»Weil es nützlich ist.«

»Jetzt? Es regnet. Wir werden total nass.«

»Das Wetter kann man sich ja nun nicht aussuchen.« Jörg tritt einige Schritte vor, nimmt eine geduckte Boxerstellung ein, fixiert mich blinzelnd und sagt, man müsse immer auf die Nase zielen. Die Größe des Gegners sei völlig egal. Ab einer bestimmten Größe könne man sich den Feind ohnehin nicht mehr vorstellen. Und damit sich das alles nicht zu lasch anfühle, müsse man sich im Stillen ätzende Schimpfwörter vorsagen und dann los. »Los!«, schreit Jörg.

»Was?«

»Los!«

»Jetzt?«

»Schlag zu!«

»Wirklich?«

»Los!«

Ich starre auf Jörgs Nasenspitze, denke, du Hilfspolizistenschleim, du Schwulenfeind, du Minderheit, und schlage tatsächlich zu. Ich treffe Jörgs Nase, nicht frontal, aber doch so ziemlich. Sie fängt sofort an zu bluten.

»Oh, oh, oh«, sage ich. »Das wollte ich nicht.«

»Kein Problem«, näselt Jörg und versucht, das Blut mit der Zunge aufzufangen. »Das war, also, eigentlich, ja. Das war schon ziemlich gut.«

»Du musst dich hinsetzen und den Kopf hochtun«, sage ich.

»Und du musst«, sagt Jörg und rutscht am Baumstamm in den Matsch, »du musst den Gegner, wenn du ihn am Boden hast, festnageln. Als würdest du ihn kreuzigen. Du musst dir vorstellen, dass die Welt vollkommen leer ist, und du bist der einzige Überlebende.«

»Extrem«, sage ich.

»Ja«, sagt Jörg. »Aber so läuft das.«

Am liebsten würde er mir noch mehr beibringen. Zum Glück hat er nach der Schule Hockeytraining und möchte da nicht so rumbluten.

»Du spielst Hockey?«

»Das will mein Vater so.«

Wir schwänzen die letzten beiden Stunden, wir sind eindeutig zu nass und zu verdreckt. An der Tankstelle treffen wir Sven. Er zittert.

»Was ist los?«, fragt Jörg.

»Nichts ist los«, sagt Sven.

»Warum zitterst du dann?«, frage ich.

»Lass mich in Ruhe«, sagt Sven.

»Du bist ein solcher Krustenkopf«, sagen Jörg und ich gleichzeitig.

»Lasst mich endlich in Ruhe«, sagt Sven. Er zittert und beißt sich auf die Zähne.

Bei Hillers sehen wir uns im Fenster die Fotoalben an. Das selbstklebende Modell, das ich für Dorothea besorgt habe, ist ausverkauft. Kein Wunder. Jörg würde ein schwarzes Album kaufen und Fotos von Totenköpfen reinkleben. Anschließend müssen wir in unterschiedliche Richtungen. Als ich mich noch einmal umdrehe, dreht sich Jörg auch noch einmal um. Der Regen hat die Welt lackiert.

Mein Vater hält Bodendecker für eine bescheuerte Idee. Er hat auf dem Plan, den meine Mutter gezeichnet hat, ein paar der Kringel, die den Garten seiner Ansicht nach unnötig zuwuchern, ausradiert, um freie Zufahrt zum Komposthaufen zu haben. Meine Mutter hockt im Beet und setzt seinen Plan um. Es nieselt auf ihr Kopftuch, sie bekommt nicht mit, dass ich zu früh nach Hause komme. Ich gehe rückwärts über die Terrasse, um sie im Blick zu behalten, und laufe direkt in meine Schwester und Benjamin von Mackensen.

»Wie siehst du denn aus?«, fragt meine Schwester.

»Lass deinen Bruder doch mal in Ruhe«, sagt Benjamin.

Meine Mutter winkt aus dem Beet. Nachdem meine Behauptung, das halbe Lehrerkollegium habe Sommergrippe, weshalb sich die tägliche Stundenzahl drastisch reduziert habe, ihr nur ein müdes Lächeln entlockt, setzen wir uns unter die Markise, essen das Weihnachtsgebäck, das sie vor kurzem gebacken hat, und schwänzen den Tag, wie sie es nennt. Meine Schwester gibt zu, dass sie jetzt eigentlich Deutsch hätte, und Benjamin gibt zu, dass er jetzt eigentlich in der Kanzlei seines Vaters aushelfen müsste. »Akten«, sagt er. Meine Schwester lobt, wie mutig sich Benni gegen seine Familie stellt, eine Familie mit dunkler Vergangenheit, eine Familie vom Hang. Dann redet sie von einem Gedicht, das sie in Deutsch analysieren müssen, vierzehn Zeilen, in denen in der ersten Strophe Schwäne ihre Köpfe in einen See tunken, worauf es in der zweiten Strophe Winter wird und irgendwas klirrt. Meine Mutter verteilt die letzten Vanillekipferln und gibt mir ein Kipferl extra.

»Dein Vater meint es nicht so. Fast nichts von dem, was dein Vater sagt, meint er wirklich so.«

»Gut zu wissen«, sagt meine Schwester.

»Das gilt nicht für gestohlenen Asti Spumante. Im Übrigen rede ich mit deinem Bruder.« Meine Mutter streicht mir über den Kopf. »Mach dir keine Sorgen, mein Schöner. Das ist nicht nötig. So was ist bei deinem Vater nicht nötig.«

Ich würde am liebsten ein bisschen heulen. Stattdessen esse ich das Vanillekipferl besonders langsam. Benjamin sagt, meine Schwester habe den Sekt für ihn geklaut, seine Eltern erlaubten keinen Alkohol, sie seien Freimaurer und in Fragen des Exzesses rigoros. Ich frage, warum manche Senfhersteller ihren Senf in Gläser abfüllen, die wie Trinkgläser aussehen und aus denen dann alte Schwule Schnaps trinken würden.

»Warum denn nicht?«, fragt meine Mutter. »Das ist doch nett.«

Zu Hause bei Axel geht es heute nicht, deshalb verabreden wir uns für den Abend an der Kabeltrommel.

»Welche Kabeltrommel?«, flüstert Axel ins Telefon.

»Die auf der Baustelle vor eurem Haus«, flüstere ich zurück.

Axel bringt einen Regenschirm mit, das Wetter ist wieder schlechter geworden. Er spannt ihn auf, es pladdert auf den Bezug. Ich fange sofort an zu reden und kann nicht mehr aufhören. Ich erzähle von Rüdiger, Natalja und ihrem Mund, von Jörg, Sven, Benjamin und meiner Mutter. Ich erwähne sogar meine Schwester. Ich rede von vier Packungen Tiefkühlspinat und Frontalschlägen auf die Nase, ich überlege laut, mit was für Akten sich Benni wohl herumschlagen muss, und sage, dass Axel froh sein könne, dass er den Rasen zwischen den Hochhäusern nicht mähen müsse. Ich kneife mir in die Schenkel, um nicht versehentlich zu erzählen, dass mein Vater mich in einer seiner Unterhosen erwischt hat und was dann noch passiert ist. Ich zähle alle Sorten Weihnachtsgebäck auf, die wir am Nachmittag unter der Markise gegessen haben.

»Ich finde, dass Rüdiger gut aussieht«, sagt Axel. »Wenn er schwul ist, ist das doch gut für ihn.«

Ich komme aus dem Takt. Stumm sehe ich zum Hochhausgebirge hinüber. Blumenkästen, Lampions, Wäsche. Balkone, die aussehen, als wären sie aus billigem Wellblech. In einem Vogelkäfig, vielleicht dem, der geputzt wurde, als ich das erste Mal hier gesessen habe, krallt sich ein Wellensittich an die Stange und kaut an den Gitterstäben. Das Parkhaus ist noch immer so schön wie ein Schwimmbad. Irgendwo schimpft jemand. Irgendwo lacht jemand. Irgendwo schrammt ein Auto über den Asphalt und lässt die Zündung knallen. »Ich finde auch, dass Rüdiger gut aussieht.«

Axel hat eine Tüte mit Schaummäusen mitgebracht. Sie sind hart, schmecken aber noch.

»Findest du Radieschen wirklich lecker?«

»Nein. Die sind mir zu scharf.«

»Und warum wolltest du Dr. Lachmann deine Geige geben?«

»Das ist nur eine Leihgeige. Ich spiele ja noch nicht so lange.«

»Willst du denn aufhören?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht.«

»Und was willst du stattdessen nehmen?«

»Keine Ahnung.«

»Irgendein Instrument musst du aber spielen.«

»Wieso?«

»Weil wir ein musisches Gymnasium sind.«

Axel schweigt. Nach einer Weile streckt er seine Hand unter dem Regenschirm hervor und macht sie flach. Eine Zeit lang lässt er den Regen auf seinen Handrücken fallen. Dann spannt er die Finger an, bis sie anfangen zu zittern. Seine Hand ist nun ein Schwammtier. Es kann sich das Riff aussuchen, das es besiedeln will. »Ich muss kein Instrument spielen.«

Wir atmen Schaummäuse aus und sehen ins Grau. Ich fische das Hotel Fidelio aus meiner Hosentasche und stecke es Axel heimlich in den Anorak. Plötzlich beginnt seine Nase zu bluten.

»Oh, oh, oh«, sage ich.

»Schon wieder?«, fragt Axel. Er legt seinen Kopf in den Nacken und atmet flach. Ich rolle die Tüte für die Schaummäuse ein und lege sie ihm unter die Nase. Dann übernehme ich den Regenschirm. Axel holt tief Luft, lässt den Kopf nach vorn sinken und presst seine Nasenflügel zusammen. Nach einer Weile kommt die Blutung zum Stillstand.

»Ich habe den halben Nachmittag Primzahlen gezählt«, sagt er, und es klingt, als seien die Worte zu groß für seinen Mund. »Er hat ein Haargummi von ihr im Badezimmer gefunden, obwohl sie nie bei uns in der Wohnung gewohnt hat. Keine Ahnung, wie es da hingekommen ist. Er findet, dass unser Umzug umsonst gewesen ist.«

Die Balkone des Hochhausgebirges starren mich an. Eckige Augen wie Klüfte in einer Felswand. Blicke aus Stein. »Und wollt ihr jetzt noch mal umziehen?«