1. Salzstangen und Klone
Miko steckte sich eine Salzstange ins Ohr.
»Ich glaube immer noch, dass es keine richtigen Menschen sind«, sagte er. »Schau sie dir doch an. Sie sehen alle genau gleich aus. Die beiden Typen da – wie heißen sie noch mal? Der eine ist blond und der andere dunkel, das ist schon der ganze Unterschied.«
»Du bist ein Spinner«, sagte Scarlett liebevoll.
Wir wechselten einen Blick. Würde sie ihn darauf hinweisen, dass ihm eine Salzstange aus dem Kopf ragte, oder sollte ich? Schusselig, wie er war, würde er sie sonst vergessen und damit in die nächste Stunde rennen.
»Nein, im Ernst. Es sind Klone. Oder Außerirdische. Womöglich Roboter? Vielleicht kann man sie irgendwo bestellen.«
»Sie?«, fragte ich. »Du meinst Alisa? Wusste ich doch, dass da jemand schwer verknallt ist.«
»Sie im Plural«, stellte Miko richtig und bemühte sich vergebens, gekränkt zu klingen. »Der ganze Haufen an Alphamenschen. Sportlich, beliebt und auch noch gut in der Schule. Das sollte verboten werden. Wir sind hier die wahren Streber, kapiert? Jeder weiß, dass ich ein Genie bin. Ich bin Okim, der Große.«
»Hey, das ist ein Anagramm! Wusstest du zum Beispiel, dass Brautkleider
ein Anagramm von Edi klaut Erbe
ist? Da staunst du, was? Ich bin der Anagrammator!«, rief Scarlett und schlug sich wie ein Gorilla gegen die Brust, was ihr ein paar irritierte Blicke von ein paar Mädchen einbrachte, die ahnungslos vorbeischlenderten. Scarlett machte sich nichts draus. Worte auseinanderzunehmen und die Buchstaben wieder neu zusammenzusetzen war ihr Hobby. Als absoluter Kunstfreak gehörte es für sie dazu, Sachen aus ihrem gewohnten
Umfeld herauszureißen und zu verfremden. Sogar harmlose Wörter.
»Ja, aber ich lerne«, sagte Miko unbeeindruckt. »Das machen intelligente Leute so, sie übernehmen gute Ideen von anderen Genies.«
»Du bist ein Schatz«, sagte Scarlett und lächelte liebevoll.
Es war immer etwas beängstigend, wenn Scarlett liebevoll lächelte.
Miko hätte das wissen müssen, aber er duckte sich nicht rechtzeitig weg.
»Oimk, Oimk!«, schrie Scarlett und schmetterte ihm ihre große gelbe Tasche, in der sie ihr Häkelzeug mit sich herumschleppte, gegen den Kopf. Die Salzstange erlitt eine geringfügige Erschütterung, blieb aber stecken.
»Wir könnten zusammen auswandern«, schlug Miko vor, nachdem er sich von der Attacke erholt hatte. »Bevor die Außerirdischen den Planeten übernehmen.«
Wie immer saßen wir in der Pause zu dritt draußen, während die verschiedenen Gruppen und Cliquen der Waldseeschule an uns vorbeiflanierten. Manchmal kam ich mir vor wie in einem Aquarium, in dem mehrere Fischschwärme lebten, die lautlos aneinander vorbeischwammen, ohne sich gegenseitig zu beachten. Unser Schwarm war der kleinste, aber, wie ich fand, der allerbeste. Immerhin waren wir keine Klone wie Jakob und David, die genau das waren, was Miko ihnen vorwarf: sportlich, beliebt und – das hatte er vergessen zu erwähnen – gut aussehend. Was ihre angeblich überragenden schulischen Leistungen betraf, war ich mir nicht so sicher. Jakob war bei mir im Englisch-Kurs und quälte sich gerade so durch, mit David hatte ich Bio und er meldete sich nie; unsere Lehrerin hatte ihn deswegen schon öfter vor allen anderen gerügt.
Alisa war in allen Fächern ein Ass, einschließlich Sport und Musik, aber bestimmt hatte sie auch irgendeine Schwäche. Jeder hatte doch irgendeine Schwäche?
Wir drei dagegen waren ... individuell, um es mal so zu sagen. Miko war ein schmächtiger Knirps, der eher aussah wie zwölf, nicht wie siebzehn. Er war kaum einen Meter fünfzig groß, hatte riesige kindliche Augen und war im Sportunterricht schon mehrmals ohnmächtig umgefallen, wenn ihn ein Ball getroffen hatte. Scarlett dagegen wog mindestens das Vierfache von ihm, entgegen ihres wohlklingenden Namens hatte sie nicht rotes, sondern mausbraunes Haar, das sie kinnlang trug und dessen störrische Wirbel dafür sorgten, dass es niemals richtig fiel. Scarlett hatte das lauteste Lachen an unserer Schule, und sie war gut in Selbstverteidigung und Kunst, dafür konnte sie sich einfach keine Vokabeln merken.
Und ich, der Dritte im Bunde? Meine schulischen Leistungen waren nicht überragend, aber ich war auch kein hoffnungsloser Fall. Meine Sommersprossen waren nicht so auffällig, dass man mich deswegen gemobbt hätte. Eigentlich nur ein paar dunklere Punkte auf der Nase, die einen Akzent auf meine helle Haut setzten. Meine lockigen schwarzen Haare trug ich zurzeit recht kurz, was dazu führte, dass sie sich noch stärker kringelten als sonst. Mein Markenzeichen waren bunt gemusterte Hemden oder T-Shirts und ebenso bunte Hosen, wobei die Farben sich gerne beißen durften. Ich sammelte alles, was mit dem Mond zu tun hatte, und ich hatte ein Faible für Mangas. Bücher fing ich immer von hinten an, überzeugte mich davon, dass das Ende gut war, und widmete mich dann erst dem Anfang. Aber diese Dinge wussten die meisten nicht, weil sie sich gar nicht erst die Mühe machten, mehr über mich herauszufinden. Sie sahen nur einen Jungen, der sich anders kleidete als die anderen und sich anders benahm und irgendwie komisch war. Ach ja, und schwul war er auch noch.
Bitte schön, wenn ihr damit ein Problem habt, ist das euer Problem. Nicht meins.
Mein Problem, wenn man es denn so nennen wollte, war: Ich begriff nicht, warum es für die meisten Leute so schlimm war, wenn jemand aus der Reihe tanzte. Wieso war man nur dann beliebt und gehörte dazu, wenn man genauso war wie alle anderen? Wie ... langweilig. Wieso war man »drin«, wenn man Markenklamotten trug, eine Einheitsfrisur auf dem Kopf hatte und die »richtigen« Schuhe? Es ergab für mich überhaupt keinen Sinn. Als ich Alisa vor ein paar Jahren Nachhilfe gegeben hatte, dachte ich zum Beispiel, dass wir uns angefreundet hätten. Wir hatten so einiges zusammen durchgemacht, und das dramatische Ende dieser Nachhilfestunden würde bestimmt keiner von uns je vergessen. Sobald sie mich jedoch nicht mehr brauchte, ließ sie mich einfach links liegen.
Ich hatte nie herausgefunden, woran es lag – ob an meinem Lidschatten, meinem Musikgeschmack, ihrem bescheuerten Bruder oder meinem Wohnviertel. Vielleicht sonderten alle Menschen chemische Duftstoffe aus, die manchmal einfach nicht kompatibel waren. Wir drei, Scarlett, Miko und ich, waren jedenfalls auf einer Wellenlänge.
»Träumst du schon wieder, Luis?«, Scarlett stieß mich an. »Denk nicht so viel, sag mir, was du siehst.«
»Ähm, dich?«
»Du sollst Miko analysieren, Schatz. Du musst mir recht geben, dass er die Augen nicht von ihr lassen kann.«
Miko versuchte gerade vergeblich, um Alisa herumzuschauen. »Seid ihr blind? Ich betrachte keine einzelne Person. Es gibt in diesem Haufen keine Individuen. Sie sind alle gleich!«
»Nur Alisa ist gleicher«, lästerte meine Freundin.
Entnervt hob Miko die Hände. »Ihr seid nicht zu retten. Könnt ihr denn nicht sehen, was ich sehe? Alle sind gleich.
Die gleichen Klamotten. Die gleichen Frisuren. Wie in einem Gruselfilm. Sie haben sogar die gleichen Gesichtsausdrücke!«
»Vornehme Verachtung?«, schlug ich vor.
Alisa warf gerade ihr langes dunkelbraunes Haar zurück und lachte. Berenice und Nicole, die beiden anderen Mädchen in ihrer Clique, waren blond, doch ich vermutete, dass Alisa nie auch nur in Erwägung zog, sich die Haare zu färben. Mit dem himmelblauen Mantel, den sie heute trug, sah sie aus wie ein Schneewittchen, das sich im Farbtopf vertan hatte, und das mit voller Absicht. Miko hatte Unrecht. Alisa war alles andere als ein Klon. Sie war diejenige, die auffiel, immer und überall.
»Starr nicht so zu denen rüber.« Scarlett boxte mich in die Seite.
»Mach ich doch gar nicht.« Ich hatte Alisa mit meinem Blick höchstens gestreift. Und dafür ein bisschen zu lange ihren Freund angestarrt. Ups.
»Doch, tust du«, fiel Miko mir in den Rücken. »Du Silu, du.«
»Silu?«
»Ein Anagramm von Luis«, stöhnte Scarlett. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du damit aufhören sollst, du Komi? Das ist meine Baustelle. Luis
heißt Lusi
in meiner Sprache und sonst nichts.«
Miko ließ sich nicht beirren. »Wen hast du dir angesehen? Wetten, es ist Jacke? Ihr zwei seid so durchschaubar.«
»Jakob«, murmelte Scarlett versonnen.
Jakob, den Miko gerne gehässig »Jacke« nannte, war die blonde Ausgabe des großen, sportlichen, erfolgreichen Schülers. Außerdem war er der Sohn von Dr. Perlander, dem besten Zahnarzt unserer Stadt, zu dem angeblich sogar Prominente von weit her angereist kamen und ihn anflehten, sie zu behandeln.
Jakob sah ... ganz nett aus. Ja. Eine Freude für die Augen.
»Mich wundert, dass du dir überhaupt seinen Namen gemerkt hast«, sagte ich zu Miko. »Nummerierst du sie nicht sonst durch?«
Miko boxte mich in die Seite, und die Salzstange fiel ihm aus dem Ohr.
Scarlett war immer noch in die Betrachtung des großen, blonden, attraktiven Kerls versunken, als dieser den Arm um seine derzeitige Blondine Berenice legte.
»Ich kann deine Gedanken lesen, Scarly«, sagte ich. »Du träumst gerade davon, dass er sie im Ausguss runterspült und stattdessen dich zur Weihnachtsparty einlädt.«
»Garantiert passt sie durch die kleinen Löcher«, meinte Miko. »Und beim Duschen muss sie eine Sicherungsleine tragen.«
Scarlett seufzte schwer. »Ich gegen die da?«
Jakobs Freundin Berenice, Nummer fünf in Alisas Clique, war wie ein weibliches Spiegelbild seiner selbst – groß, blond, attraktiv, mit langen, schlanken Beinen. Scarlett war immerhin realistisch. Wie ich glaubte sie kaum, dass ein guter Charakter und die Fähigkeit, interessante Fotocollagen für die Schaukästen unserer Schulflure zu erstellen oder unsagbar hässliche Mützen zu häkeln, den schönen Jakob dazu bewegt hätten, auf seine Schaufensterpuppe zu verzichten.
»Wetten, die wird eine bildschöne skrupellose Ärztin, die mit der Pharmalobby paktiert und Experimente an Menschen durchführt?«
Alisas helles Lachen schallte über den Hof zu uns herüber. Sie lehnte sich an ihren Freund. Obwohl Jakob unzweifelhaft das Alpha-Männchen in der Gruppe war, war sie nicht mit ihm zusammen, sondern mit seinem besten Freund David. David war mit den auffälligsten Augen gesegnet, die ich je irgendwo gesehen hatte – eisblau wie ein Gletscher unter einem Winterhimmel. Alisas Mantel passte genau dazu. David war
ebenfalls erfreulich anzuschauen. Äußerst erfreulich, wenn ich ehrlich war.
»Ich kann tanzen«, behauptete Miko. »Wenn sie mit mir auf die Weihnachtsparty gehen würde, könnte sie was erleben. Ich bin richtig gut.«
Ich bezweifelte, dass er in irgendeiner Sportart gut war, nickte jedoch. »Na klar, lad sie ein.«
Weihnachtsparty mit einem von denen? Meine Träume waren ganz andere. Dass meine Mutter sich meldete und dass mein Vater wieder lachte.
Scarlett seufzte. »Kommt. Es hat schon längst geklingelt.«
Miko sammelte bereits seine Habseligkeiten ein, die er immer um sich herum verteilte, sobald er auch nur eine Minute stillstand – jede Menge Knabberzeug, diverse Bücher, Handys, Kabel, Ohrstöpsel und Halspastillen.
»Warte, ich helfe dir.«
Es musste ja nicht sein, dass er wieder zu spät kam. Miko kam immer zu spät. Vor allem, wenn er bloß dastand und die Augen aufriss.
»Was ist denn? Landet da gerade ein Raumschiff?«
Ich drehte mich um, um zu sehen, was er anstarrte. Es war jedoch nur Alisas Clique, die an uns vorbeimarschierte.
»Hast du das gesehen?«, flüsterte er. »Sie hat mich angeschaut. Sie hat mich bemerkt!«
»Miko, sie ist bereits vergeben.«
»Ja, aber ... David ist ja kein echter Mensch. Er ist bloß ein Android. Sobald sie das merkt, ist sie frei für mich.«
»Ja«, sagte ich. »Bestimmt dauert es nicht mehr lange. Sie ist ja nicht blöd.«
Weil er sich gar nicht mehr rührte, sammelte ich sein Zeug ein und stopfte es ihm in die Jackentaschen.
»Und jetzt los, beeil dich!«
Ich sagte ihm nicht, dass er recht hatte. Ja, Alisa hatte zu uns herübergesehen. Aber mir war es so vorgekommen, als hätte sie mich angeschaut und nicht ihn.