3. Paps und Pfannkuchen
»Hallo? Bist du da? Paps?«
Die Stille in unserer Wohnung war dumpf, beinahe greifbar, die Luft abgestanden und schal. Paps hatte wieder vergessen zu lüften, obwohl wir erst gestern noch darüber gesprochen hatten.
Keine Antwort. Das Wohnzimmer war verlassen, in der Küche standen noch die Überreste meines Frühstücks, sonst hatte sich nichts verändert. Am Schreibtisch in der Arbeitsecke im Schlafzimmer fand ich ihn dann endlich. Es war dunkel im Raum, nur das helle Viereck des Computerbildschirms leuchtete. Paps hatte das Kinn in die rechte Hand gestützt, während er mit der Linken auf der Tastatur herumtrommelte.
»Luis? Du bist ja schon da.«
Draußen war es längst dunkel; eigentlich hätte er sich Sorgen um mich machen können. Doch das würde natürlich nicht passieren. Meine Mutter war diejenige gewesen, die sich Sorgen um mich gemacht hatte, bis sie plötzlich, von einem Tag auf den anderen, damit aufgehört hatte und gegangen war.
»Was schreibst du?« Ich stellte mich hinter ihn, obwohl ich wusste, dass er es nicht leiden konnte, wenn ich ihm über die Schulter blickte.
»Den Artikel über die Aufführung des Laienspieltheaters.«
Daran hatte er schon gestern stundenlang gesessen. Ich bezweifelte, dass er ihn fertig bekommen würde. Seit Wochen tat er nur noch so, als würde er arbeiten. Dabei hatte er sich wirklich zusammengerissen, als Mama ihn verlassen hatte. Er hatte mir tausend Mal versichert, wir würden es auch alleine hinbekommen, ich sollte keine Angst haben. Wir wären ein tolles Team.
Und so war es auch gewesen, am Anfang. Wir hatten getan, als wenn nichts geschehen wäre, wir hatten gegessen, wann uns danach zumute war, waren zusammen ins Kino gegangen und hatten beim Fernsehen Popcorn auf dem Sofa gefuttert, was meine Mutter wegen der Krümel sonst immer streng verboten hatte. Wir weinten nicht, keiner von uns. Doch es war, als wären wir mit Anlauf und all unserer Energie eine Rampe hochgelaufen, die irgendwo weit vor uns in die Zukunft führte, und irgendwann hatte uns die Kraft verlassen. Seitdem rutschten wir langsam wieder hinunter.
Unaufhaltsam.
»Oh, gut«, sagte ich. »Darf ich es lesen, wenn es fertig ist?«
Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen.
»Hast du was gegessen?«, fragte ich. »Ich hoffe, du hast wenigstens die Vögel gefüttert.«
Da keine Antwort kam, ging ich zuerst in mein Zimmer. Sobald ich das Licht eingeschaltet hatte, hüpften die beiden Zebrafinken in ihrem Käfig aufgeregt hin und her und begannen zu zwitschern. Ich füllte das Körnerfutter nach, wechselte das Wasser und sah Hugo und Berta eine Weile zu. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass diese kleinen Wesen das einzige Lebendige in unserer Wohnung waren.
»Alles klar?«, fragte ich sie, während sie wild mit den Schnäbeln im Napf pickten. Dass sie mir nicht antworten konnten, spielte keine Rolle. Als Zuhörer waren sie unschlagbar.
Am liebsten hätte ich mich aufs Bett gelegt und sie beobachtet – »Finken-TV« nannte ich das –, aber ich hatte noch zu tun. Also ab in die Küche. Ich räumte alle Frühstücksreste weg und setzte einen Topf mit Milch auf, um heißen Kakao zu kochen. Im Tiefkühlfach fand ich eine Peperoni-Pizza, aber ich konnte mir nicht vorstellen, auch nur einen Bissen davon herunterzubekommen. Also rührte ich Eierteig an mit Zucker und Grieß und briet den Fladen goldgelb in der Pfanne, bevor ich ihn mit dem Pfannenwender zerpflückte. Gerade noch konnte ich verhindern, dass die Milch sich komplett selbständig machte. Der erste überschäumende Schwall ergoss sich bereits auf die Herdplatte.
Ich füllte zwei Teller mit dem Grießschmarrn, streute dick Zimtzucker darüber und rührte das Kakaopulver in die Milch.
Paps dazu zu bewegen, in die Küche zu kommen, war normalerweise das Schwerste von allem, aber heute überraschte er mich damit, dass er sofort aufstand, als ich ihn rief.
»So spät ist es schon«, sagte er. »Es riecht gut.«
»Die Milch ist angebrannt.«
»Das macht doch nichts.«
Ich öffnete das Fenster und ließ die kalte Winterluft herein. Eine dicke Schneeschicht lag auf der Fensterbank, und von draußen hörte ich das Knirschen von Reifen. Die Autofahrer kämpften sich durch den Schnee. Alle fuhren heute Abend langsam, da der Räumwagen noch nicht überall vorbeigekommen war.
»Vielleicht schneit die Schule ein«, sagte ich. »Das wäre doch mal was.«
»Hm.«
»Darüber könnte man bestimmt einen prima Artikel schreiben. Wo musst du morgen hin?«
»Ins Gemeindehaus. Eine Seniorenadventsfeier mit ein paar Jubilaren, die Geschenke und Urkunden bekommen.«
»Wie nett. Bis dahin hast du bestimmt den Artikel über die Aufführung fertig. Vielleicht lässt du mich doch mal drüberschauen.«
Ich hatte die journalistischen Gene von meinen beiden Eltern geerbt. Den Ehrgeiz, einen guten Text abzuliefern, ganz gleich, wie wenig aufregend man das Ereignis auch fand. Darum ging es gar nicht. Nur darum, einen guten, unterhaltsamen Artikel zu schreiben.
Es wäre nicht das erste Mal, dass ich ein paar Sätze ergänzte, damit Paps endlich weiterkam.
Dick streute ich mir eine weitere Lage Zucker über den Schmarrn. Ich dachte an den Kuss, während die Süße in meinem Mund schmolz.
David.
Morgen würde er mich nicht mehr ansehen. Er würde so tun, als wäre er absolut hetero. Das war absehbar, schließlich gehörte er zu Alisa und ihrer Clique. Auch gut. Es war mir egal. Es musste mir egal sein. Es war nur ein Kuss gewesen, wir waren ja nicht zusammen oder so. Und es war nicht wie damals. Mit ihm . Damals war ich am Boden zerstört gewesen, jetzt war ich bloß ein kleines bisschen traurig. Küsse hatten nichts zu bedeuten, das wusste ich seit jener Geschichte. Küsse und Blicke und Flüstern und Händchenhalten. Nichts davon zählte. Ein paar Monate hatte ich gebraucht, um die Enttäuschung zu verdauen. In der Hinsicht war ich nach meinem Vater geraten; auch er nahm immer alles so schwer. Solange wie möglich tat er, als sei alles in Ordnung, bis dann plötzlich irgendwann überhaupt nichts mehr ging.
»Erinnerst du dich noch an Marokko?«, fragte ich. Die Reise hatte mir geholfen, Abstand zu gewinnen. Zu vergessen.
Vergessen? Haha, selten so gelacht.
Der Blick meines Vaters ging irgendwie durch mich hindurch. Obwohl seine Augen so hellbraun waren wie sahniger Kakao, obwohl sie viel fester wirkten als Davids unwirkliche Gletscheraugen.
»Das war unser letzter gemeinsamer Urlaub«, sagte Paps leise. »Für Marina war es die Hölle. Ferien zu machen, statt loszuziehen und über das Land zu berichten? Sie hat es immer gehasst, für eine kleine Lokalzeitung zu arbeiten, aber in jenem Jahr hat sie es zum ersten Mal ausgesprochen. Wie unerträglich es war. Dass sie erstickte. Dass sie frei sein wollte, um mit einer Kamera und einem Aufnahmegerät loszuziehen, an die Brennpunkte, dorthin, wo es gefährlich ist, ohne dass ich sie festhalte.«
Es war Wochen her, dass er so viele Sätze aneinandergereiht hatte. Dass wir ein richtiges Gespräch führten, und dazu noch über meine Mutter. Vielleicht war er allmählich über den Berg.
»Komisch, jetzt daran zu denken«, sagte ich. »An die Hitze, die trockene Luft. An die Palmen und die kaputte Klimaanlage in meinem Zimmer.«
»Das Meer«, flüsterte er und rührte versonnen in seinem Kakao.
Mein Handy gab einen Piepton von sich, aber ich ignorierte es. Wer immer mir gerade eine Nachricht geschickt hatte, konnte warten.
»Blau. So blau.«
Wir saßen in der Küche, während die Schneeflocken draußen an der einsamen Laterne vorbeifielen. Irgendwann wurde es so kalt, dass ich aufstand, um das Fenster zu schließen. Ich ließ Wasser in den Milchtopf und die Pfanne laufen, räumte das Geschirr in die Spülmaschine und stellte sie an.
Mein Handy meldete sich wieder. Es klang dringend, aber das bildete ich mir wohl bloß ein.
»Wir könnten uns zusammen einen Film anschauen«, schlug ich vor. »Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht. Wie wäre es mit Titanic?«
»Bist du sicher? Hast du den nicht schon hundertmal gesehen?«
Für dieses kleine, vage Lächeln hätte ich ihn umarmen mögen. »Ja, ich bin mir sicher. Abmarsch ins Wohnzimmer.«
Natürlich würde keiner von uns weinen. Wir würden bloß heimlich seufzen.