4. Ein kalter Morgen
Am Morgen hatte es aufgehört zu schneien. Die Straßen waren geräumt, doch dafür waren die Schneemassen in großen, gebirgskettenartigen Haufen auf dem Bürgersteig gelandet. Ich hatte nasse Füße, bevor ich das Wäldchen erreicht hatte, dem der dahinterliegende Waldsee seinen Namen verdankte. Unsere Schule hatten sie dann nach dem See benannt. Direkt am Gebäude standen nur noch ein paar einzelne Eichen, die der Säge nicht zum Opfer gefallen waren, doch ansonsten hatten eifrige Beamte weiträumig um das Gymnasium herum alles roden lassen, sodass wir auf Beton, gepflasterten Hof, Parkplatz und noch mehr Beton blickten. Der Wald war auf ein Wäldchen von der Größe eines Fußballfeldes zusammengeschrumpft und wurde sorgsam von allen Schuleinrichtungen getrennt. Trotzdem trafen sich hier die Schüler, die schwänzten oder rauchten, und an den Gerüchten, hier würden sich diverse Dealer mit ihren Kunden treffen, war definitiv etwas dran.
Doch heute stand niemand unter den Bäumen, um verbotenen Geschäften nachzugehen. Aus allen Richtungen strömten die Kids, die jüngeren warfen mit Schneebällen nach einander, die älteren trotteten mit Stöpseln in den Ohren noch völlig im Halbschlaf vor sich hin.
»Das ist er«, rief jemand.
Etwas Kaltes, Nasses traf mich im Nacken.
Ich drehte mich um, doch die Jungs, die hinter mir gingen, kannte ich nicht, die waren mindestens zwei Jahrgänge unter mir.
»Idioten«, murmelte ich und legte einen Zahn zu. Ich hatte keine Lust, halbwüchsigen Kindern als Zielscheibe zu dienen. Noch ein paar Mal traf mich ein Schneeball von hinten, lautes Gejohle erklang. Sobald ich den Schulhof erreicht hatte, fühlte ich mich sicher. Schneebälle zu werfen war auf dem Gelände
verboten, die Aufsicht nahm das sehr genau. Nicht einmal gegen die Mauern durfte man zielen.
Von überallher drangen Gesprächsfetzen an mein Ohr. »Das ist er.«
»Luis!«, schrie jemand, aber als ich mich umdrehte, war niemand zu sehen, den ich kannte.
Offenbar litt ich schon an Verfolgungswahn.
Das ist eins der hervorstechendsten Merkmale unsicherer Leute: Sobald jemand in deiner Nähe kichert, denkst du, alle lachen über dich. Sobald du irgendwo vorbeigehst und die Leute reden und schauen dich kurz an, denkst du, sie reden über dich. Überall glaubst du, deinen Namen zu hören. Und natürlich starren dir alle nach und machen sich über dich lustig, sobald du weitergegangen bist. Auf jemanden wie mich traf das leider sehr häufig zu. Aber eben auch nicht immer. Solange man mir nicht das Gegenteil bewies, hatte ich mich dazu entschieden, zuerst einmal das Beste anzunehmen: dass die Leute über etwas anderes lachten, das nichts mit mir zu tun hatte. Trotzdem musste man besser vorsichtig bleiben. Auf der Hut, falls jemand besonders aggressiv auftrat. Ich war optimistisch, aber nicht naiv.
Und irgendwie hatte ich diesmal kein gutes Gefühl.
Am liebsten wäre ich einfach umgekehrt, aber das kam nicht in Frage. Sowenig wie Verstecken. Ich würde mich nicht einschüchtern lassen. Und deshalb wartete ich wie immer – nur deutlich weniger entspannt als sonst – am Fuß der Treppe auf Scarlett. Beinahe hätte ich sie nicht erkannt, denn sie hatte ihr Gesicht hinter einem selbstgehäkelten Schal mit aufgestickten schwarz-weißen Knubbeln versteckt, den sie nicht einmal abnahm, als sie in die Eingangshalle kam. Außerdem behinderte er wohl ihre Sicht, denn sie marschierte an mir vorbei, ohne mich auch nur anzusehen.
»Scarlett, huhu! Sollen das Pandas sein, da auf deinem Schal?«
Nun blieb sie doch stehen und befreite ihren Mund aus den Schichten flauschiger Wolle. In ihrer dicken Steppjacke sah sie aus wie das Michelin-Männchen. Ihre Wangen waren gerötet vor Anstrengung und Kälte.
»Du kannst mich mal«, fauchte sie mich an.
»Was ist denn los?«, fragte ich schockiert und heftete mich an ihre Fersen. »Hab ich was nicht mitbekommen?«
Eine Gruppe Schüler kam gerade die Treppe hinunter, sah uns und scannte mich von Kopf bis Fuß.
»Klar ist er das«, sagte einer von ihnen, ein Typ, mit dem ich Französisch hatte.
»Oh, Luis, Luis, Lu!«, flötete sein Freund.
»Verpisst euch!«, schrie Scarlett, packte mich am Arm und zog mich weiter.
»Was war das denn?«, fragte ich.
»Ich bin deine beste Freundin. Warum erfahre ich es als Letzte?«
Sie war so wütend, dass ich mich an einem anderen Tag wirklich erschreckt hätte, doch heute war ich zu verwirrt, um adäquat zu reagieren. »Was ist hier eigentlich los?«
»Warum bist du nicht ans Handy gegangen? Ich hab tausend Mal versucht, dich zu erreichen! Sprichst du nicht mehr mit mir? Gehörst du jetzt zu denen?«
»Äh, was?«
Scarlett stöhnte genervt auf. »Bist du so schwer von Begriff, oder tust du nur so? Der Kuss. Verdammt, was sollte dieser Kuss?«
Mir fiel die Kinnlade herunter.
Niemand wird davon erfahren, hatte David gesagt. Nur er und ich und Jakob.
»Er hat es rumerzählt?« Das ergab doch keinen Sinn. Warum sollte David das tun? Er war mit Alisa zusammen. Und er war noch lange nicht bereit, sich zu outen, jedenfalls sollte mich das wundern. Hatten sie das etwa gemeinsam ausgeheckt?
»Schatz, alle haben euer Filmchen gesehen. Fünf Minuten! Mein Gott, wie kann man sich fünf Minuten lang abknutschen? Es ist nicht zum Aushalten. Ich hab mir geschworen, dass ich kein Wort mehr mit dir rede, und hier stehe ich und komm zu spät zum Unterricht, und daran bist nur du schuld!«
Wie betäubt starrte ich sie an.
»Ich muss los«, sagte Scarlett. »Wir reden nachher. Und wehe, du hast keine gute Erklärung für das Ganze!«
Mir war die Lust auf Schule vergangen. David hatte mich eiskalt reingelegt. Mir erzählt, wie attraktiv er mich fand, dass er mich ausgewählt hatte. Er hatte mich glauben machen, dass unser Kuss ihm etwas bedeutet hatte.
Was für ein Arsch!
Vor Wut und Enttäuschung hätte ich am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht, doch ich zwang mich dazu, weiterzugehen. Zaghaft klopfte ich an die Tür des Kursraumes. Der Unterricht hatte natürlich schon angefangen, sodass alle Augen auf mich gerichtet waren, als ich zu meinem Platz ging.
Eisige Stille empfing mich. Herr Lohmann vermerkte mein verspätetes Erscheinen in seinem Buch und malte ein Diagramm an die Tafel.
Zum Glück war David nicht in diesem Kurs.
Dass Alisa in der Reihe vor mir saß, merkte ich erst, als sie sich zu mir umdrehte und mir einen Blick zuwarf, der sie zumindest von dem Verdacht befreite, dass sie diesen miesen Streich mitgeplant hatte.
»Was bildest du dir eigentlich ein?«, zischte sie. Wenn Blicke töten könnten, wäre ich an Ort und Stelle zu Asche zerfallen.
Auch ihre beste Freundin, Platinblondinchen Nicole, drehte sich zu mir um. »Lass die Finger von David!«
Ich schlug mein Buch auf und vertiefte mich darin.
Nichts sagen, nichts hören, nichts fühlen.
Wenn mir das nur gelungen wäre.
In der Pause rempelte mich jemand so heftig an, dass ich zu Boden stürzte.
»Was machst du denn, Luis?« Wie ein helfender Engel tauchte Scarlett über mir auf und half mir hoch. »Willst du dich jetzt dauernd zum Gespött der Schule machen?«
»Ich bemühe mich«, gab ich zurück. »Endlich habe ich mein verborgenes Talent herausgefunden.«
Scarlett schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Bis sie etwas in meinem Gesicht entdeckte, das ihr wenigstens etwas Mitleid entlockte. »Hey, Luislu, nicht weinen!«
Hinter mir hörte ich Kichern und Fußgetrappel, natürlich von Kussgeräuschen untermalt.
»Oh, das war gut«, säuselte einer der Kurzen. »Weiter so, immer weiter so.« Lachend zog die Gruppe weiter, und diesmal gab es keine Zweifel, über wen sie sich so amüsierten.
»Solche Neuigkeiten sind wie ein Virus«, sagte Scarlett. »Sie verbreiten sich in Windeseile, bis alle angesteckt sind, dann kommen Fieber und Schnupfen, und nach einer Woche ist alles vorbei.«
Ich hatte David den ganzen Tag noch nicht gesehen. Vielleicht hatte er gestern Abend zu lange gefeiert. Oder so laut gelacht, dass er heute heiser war. Er und Jakob und alle ihre Freunde.
Aber offenbar war Alisa nicht eingeladen gewesen, denn sie schlich über den Flur, gestützt von ihren Freundinnen, und sah dabei aus wie ein Gespenst, bleich und mit dunklen Ringen unter den Augen. Die Mädchen warfen uns giftige Blicke zu, schließlich löste sich die schöne Nicole aus der Gruppe und kam auf uns zu.
Ich wappnete mich gegen einen tätlichen Angriff. Gestern noch hatten sie mich gnädig ignoriert, heute war ich Todfeind Nummer eins. Eine Karriere, auf die ich liebend gern verzichtet hätte.
Nicole baute sich vor mir auf und musterte mich hochmütig wie ein kleines Insekt, das sie gleich zertreten würde.
»Du kannst ruhig sprechen, bevor die Untertitel eingeblendet werden«, sagte Scarlett.
»Ich weiß nicht, was du dir einbildest.« Nicole beachtete meine Freundin gar nicht, sie hatte nur mich im Visier. »Wie man so herzlos sein kann, ist mir echt ein Rätsel. Wenn du schon einem anderen Mädchen den Freund ausspannst, warum dann ausgerechnet Alisa? Als hätte sie nicht schon genug durchgemacht. Ich sag dir eins, du kleine Zecke, sie hatte wieder einen Anfall, und das geht auf deine Kappe! Es wird von Mal zu Mal schlimmer, und wenn sie beim nächsten Mal ins Krankenhaus muss oder sogar stirbt, bist du schuld. Gewöhn dich ruhig an den Gedanken!«
Auf dem Absatz machte sie kehrt und marschierte zurück.
»Was meint sie denn damit?«, fragte Scarlett völlig verblüfft. »Was für einen Anfall?«
»Keine Ahnung«, sagte ich langsam. Mir schwante Übles. Nicht jeder hatte die Geschichte mitbekommen. Dass Alisa in der siebten Klasse ein paar Monate gefehlt hatte, war kein Geheimnis gewesen, aber über ihre Krankheit hatten sich immer alle bedeckt gehalten. Nachdem sie aus der Klinik entlassen worden war, hatte ich ihr eine Weile bei den Hausaufgaben geholfen; die einzige Zeit, in der meine Noten besser waren als ihre. Ich hatte natürlich gemerkt, dass Alisa die Haare ausgefallen waren und sie eine Perücke trug. Da hatte sie mir ihren kahlen Schädel gezeigt, auf dem die neuen Haarspitzen sprossen. »Dein Mitleid kannst du dir sonst wo hinstecken. Ich
hatte einen Gehirntumor«, schnauzte sie mich an. »Und nun ist er raus und ich habe ein Loch im Kopf.«
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich. »Aber ich bin nicht hier, um dich zu bemitleiden. Ich bin hier, damit du nicht sitzenbleibst.«
Und damit war das Thema zwischen uns erledigt gewesen. Nein, Alisa wollte kein Mitleid. Sie bestand darauf, ganz normal behandelt zu werden.
Sie hatte den Stoff schnell aufgeholt, und nach ein paar Wochen war ich überflüssig geworden. Ihre Mutter drückte mir den Rest des Geldes in die Hand und sagte mir, ich müsste nicht mehr wiederkommen. Sie tat, als hätte es nichts mit dem Drama am Fenster zu tun; es war beinahe, als hätte ich das alles nur geträumt. Aber was hätte ich machen sollen? Ich war gegangen, und danach hatte ich das alte Hotel am See nicht mehr aufgesucht. Mir war das ganz recht gewesen, obwohl Alisa und ich uns gut verstanden hatten und ich die Nachmittage in ihrem Zimmer oder in der gemütlichen Gartenlaube durchaus genossen hatte. Ihrem Bruder Sebastian ging ich allerdings heute noch aus dem Weg ... Tja, wenn Sebastian nicht gewesen wäre, hätten Alisa und ich vielleicht sogar Freunde bleiben können.
»Was ist denn los mit ihr?«, fragte Scarlett.
»Sie hatte Krebs. Aber ich dachte, dass sie wieder vollständig gesund ist. Sie ist ja auch nie früher nach Hause gegangen oder hat länger mal gefehlt.«
»Das wusste ich gar nicht. Ich dachte, sie hätte sich damals was gebrochen oder so.« Dann nahm sie mich ins Visier. »Das ist echt übel. Du nimmst einer Krebskranken ihren Freund weg?«
»Sie hat keinen Krebs mehr, klar? Das ist lange her. Es geht ihr gut!«
»Sie sah eben nicht so aus, als würde es ihr besonders gut gehen.«
Ich stöhnte auf. Das konnte doch alles nicht wahr sein! »Auf wessen Seite stehst du eigentlich? Du solltest zu mir halten!«
Scarlett musterte mich kritisch. »Für den Luis, den ich kenne, würde ich alles tun. Aber dieser Luis, der den festen Freund von jemand anderes abküsst, den kenne ich nicht.« Damit drehte sie sich um und stolzierte davon.
Ich hatte gar keine Gelegenheit gehabt, mich zu verteidigen und ihr zu erklären, wie es zu diesem Kuss gekommen war. Dass Miko gerade den Flur entlangkam und sich Scarlett anschloss, ohne mir auch nur zuzuwinken, gab mir den Rest.
Warum bekam ich eigentlich den ganzen Ärger ab? Wo war David, um sich seinen Teil an Spott und Häme abzuholen? Ich hatte ihn den ganzen Vormittag über noch kein einziges Mal gesehen.
Die Lehrer schienen von der ganzen Aufregung nichts mitzubekommen. Jeder war heute ganz besonders entschlossen, uns mit Gelehrsamkeit vollzustopfen, und meine innere Abwesenheit fiel mehrmals auf, während ich zu anderen Zeiten manchmal einige Stunden hintereinander träumte, ohne dass sich jemand beschwerte.
»Noch ist nicht Weihnachten«, redete Frau Biener-Weidmüller mir ins Gewissen. »Ihre Pläne, was Sie mit den Feiertagen anfangen, verschieben Sie bitte auf heute Nachmittag. Und übrigens«, sie wandte sich an den gesamten Kurs, »wir wurden angehalten, euch vor dem See zu warnen. Es friert erst seit einigen Tagen und das Eis ist noch lange nicht dick genug.«
Allgemeines Aufstöhnen.
»Das sagen Sie uns jedes Jahr«, kam eine Stimme von einer der hinteren Bänke, wo Jakob saß. »Wir sind durchaus lernfähig.«
»Wirklich?« Frau Biener-Weidmüller zog die Augenbrauen hoch. »Das ist schön zu hören. Dann können Sie gleich hier an die Tafel kommen und noch mal erklären, wie Partizipkonstruktionen aussehen sollten. Für diejenigen von Ihnen, die nicht ganz so lernfähig sind.«
Ich war froh, dass das Gewitter vorübergezogen war. Und dass der Blitz Jakob getroffen hatte, schien mir ausgleichende Gerechtigkeit. Schon beinahe wieder gut gelaunt packte ich nach der Stunde meine Sachen zusammen und beeilte mich, als einer der Ersten aus dem Raum zu kommen, um dem Getuschel zu entfliehen.
Da ich eine Freistunde hatte, beschloss ich, sie in der Bibliothek zu verbringen.
Offenbar war ich nicht der Einzige, der auf der Flucht war. David saß an einem der Fenstertische und war vermutlich mit seinem Referat beschäftigt. Zum Glück schien er mich nicht zu bemerken. Am liebsten hätte ich auf dem Absatz kehrtgemacht, doch auf dem Flur näherte sich eine Gruppe Achtklässler; die ersten homophoben Sprüche reichten mir, mehr wollte ich mir nicht anhören. Daher blieb mir nichts anderes übrig, als meinen Plan weiterzuverfolgen. Ich suchte mir einen Tisch, möglichst weit entfernt von David, und breitete eine Anzahl von Heften vor mir aus, damit ich eine Stunde lang draufstarren konnte, ohne dass jemanden auffiel, dass ich nicht lernte.
Nach einer Weile griff ich denn doch zum Stift, denn eine ganze Flutwelle kreativer Ideen schwappte über mich: ein paar Dutzend Methoden, jemanden bis an sein Lebensende lächerlich zu machen. Zu peinlich sollten sie allerdings auch nicht sein, denn immerhin hatte ich diesen Deppen geküsst.
Doch wie sollte ich ihn dazu bringen, nackt über den Schulflur zu rennen? An den Feinheiten musste ich wirklich noch tüfteln. Die Schulklingel riss mich aus meinen Gedanken. Plötzlich landete ein Zettel auf meinem Tisch, genau auf meiner Mind Map. Erschrocken blickte ich hoch und sah David davongehen, ohne sich nach mir umzudrehen.
Mit zitternden Fingern faltete ich den Zettel auseinander.
Treffen um 18 Uhr am See.
Wir müssen reden.
D.
Na wunderbar. Er wollte also reden? Vielleicht hätte er gestern mehr reden und weniger küssen sollen. Ich würde nicht hingehen. Ganz bestimmt nicht. Den Gefallen würde ich ihm garantiert nicht tun.