5. Winterlicht und Sommersprossen
Auf dem Bildschirm war der Text zu sehen, an dem Paps gerade schrieb, aber so leicht ließ ich mich nicht täuschen. Ich glaubte einfach nicht, dass er überhaupt jemals arbeitete.
»Ich will noch mal raus an den See.«
»Aber nicht Schlittschuhlaufen, hoffe ich.«
»Nein, keine Sorge, ich geh nur am Ufer spazieren. Ich nehme die Kamera mit.« Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Vielleicht machst du uns heute Abend was zu essen?«
»Oh, klar«, sagte er. »Ich schreibe nur gerade noch den Bericht hier zu Ende.«
»Ich hab das Licht in meinem Zimmer angemacht, die Finken haben Freiflug. Mach bitte die Tür nicht auf.«
»Keine Sorge.«
Es war schwer, sich keine Sorgen zu machen, was Paps anging.
Wenigstens war kein neuer Schnee gefallen. Glitzernde Sandkörnchen knirschten unter meinen Stiefeln, als ich mir einen Weg durch die schmutzigen Schneeberge auf dem Gehsteig bahnte.
Sobald ich das Wäldchen erreicht hatte, kam ich besser voran. Hier war gar nicht erst geräumt worden, doch die zahlreichen Schüler hatten den Schnee festgetrampelt. Statt nach rechts zur Schule abzubiegen, wählte ich an der Waldwegkreuzung den Pfad nach links, zum See. So groß der Waldsee auch war, es gab nur eine Stelle, die David meinen konnte. Am flachen Südufer traf sich nachmittags die halbe Schule, im Sommer zum Baden, im Winter zum Schlittschuhlaufen; auch bei den Kindern und Jugendlichen, die weiter weg wohnten, war der See sehr beliebt. Es gab nicht viele Orte, die eine dermaßen große Anziehungskraft hatten. So oft uns Lehrer und Eltern auch warnten, es half nichts. Angeblich war der See besonders tief und an einigen Stellen herrschte eine tückische Strömung. Tatsächlich war vor zwei Jahren einmal ein Junge ertrunken. Die anderen machten sich nicht viel daraus. Genauso wenig schreckte uns die Warnung vor zu dünnem Eis ab. Der See lag wunderschön da, von Bäumen umgeben, und er fror immer schnell zu.
Auch heute waren bereits die ersten Schlittschuhläufer unterwegs. Dünne messerscharfe Spuren zogen sich durch die Schneeschicht, die die Eisfläche wie ein weißes Tuch bedeckte.
Bis 18 Uhr hatte ich noch gut anderthalb Stunden, Zeit genug, um mir zu überlegen, ob ich dann noch hier sein sollte.
Vorsichtig setzte ich den Fuß auf den aufgewühlten Schnee, unter dem das Eis schimmerte, und horchte. Es knackte nicht. Ich stampfte fest auf – nichts. Das Eis schien wirklich zu tragen. Mutiger machte ich ein paar Schritte vorwärts und zückte die Kamera.
Ich liebte diese Zeit kurz vor der Dämmerung. Der Tag war schon vorbei, das Licht fahl und beinahe grau. Hinter den Wolken halb verborgen schien die kalte Wintersonne. Heute sahen die Wolken nicht wie ein dicker Flokatiteppich aus, sondern ähnelten mehr zerrissenen Wattebäuschen. Ich konnte mitverfolgen, wie sich die Sonne ins Rötliche verfärbte und hinter den schneeverkrusteten Bäumen unterging. Das kleine Hotel auf der anderen Seite des Sees, das Alisas Eltern gehörte, wirkte von hier wie ein verwunschenes Hexenhaus. Die Kinder, deren dunkle Umrisse über das Eis glitten, kamen mir vor wie zweidimensionale Scherenschnitte. Ein Mann stand reglos am Südufer, vielleicht ein Vater, der auf sein Kind aufpasste.
Ich schoss eine Reihe von Fotos, bis es so dunkel wurde, dass auch der Blitz nicht mehr half. Die Schlittschuhläufer kehrten ans Ufer zurück. Ich folgte ihnen. Auch wenn ich das Eis für sicher hielt, wollte ich nicht den Fehler machen, ganz allein auf dem See zu bleiben.
Lachend zogen die Kinder ab. Gleich hinter ihnen betrat ich festen Boden. Mein Atem dampfte in der frostigen Luft, ich spürte meine kalten Füße und sehnte mich nach Hause, nach einem heißen Kakao mit Sahne und Zimt.
»Luis?«
Der einsame Mann stand immer noch da. Jetzt erst erkannte ich David. Er trug eine dunkle Lederjacke, um den Hals hatte er einen Schal mit bunten Streifen geschlungen. Von der Kälte war seine Nase gerötet, die Strickmütze gab ihm ein lässiges Aussehen, nicht mehr so perfekt und unerreichbar. Sogar seine blauen Augen wirkten im Dämmerlicht dunkler als sonst.
»Ich habe dich nicht so früh erwartet«, sagte ich. »Hast du mich beobachtet? Warum hast du nicht gerufen?«
»Du warst so versunken. Und ich hab den Blitz gesehen. Sind gute Fotos dabei?« Er hatte schon die Hand nach der Kamera ausgestreckt, aber ich ließ sie ohne Kommentar in meine Jackentasche gleiten.
»Wo sind die anderen?«, fragte ich.
»Welche anderen?«
»Deine Freunde. Jakob oder wer auch immer im Gebüsch sitzt, um uns zu filmen.«
»Genau darüber wollte ich mit dir reden. Ich wusste es nicht, Luis. Das war nicht geplant. Jakob hat Stein und Bein geschworen, dass er nichts damit zu tun hat, und sonst wusste doch keiner, was ich vorhatte. Da hat sich jemand versteckt und uns einfach aufgenommen.«
»Und das soll ich dir glauben?«
»Ich hoffe.«
Ich versuchte, mich an die Einzelheiten des gestrigen Tages zu erinnern. Die Mädchentoilette. Das Geräusch, das ich gehört und ausgeblendet hatte. Wenn nun einfach jemand in einer der Kabinen gewesen war und uns über die Trennwand hinweg gefilmt hatte? Jemand, den wir gar nicht näher kannten? Konnte das wirklich nur ein dummer Zufall gewesen sein?
»Du hast also nicht mit Jakob abgesprochen, dass du mich in dieses Klo lockst?«
»Es war dein Vorschlag, dort reinzugehen.«
»Und deiner, dass wir irgendwo anders hingehen.«
Die Sonne versank endgültig hinter den Bäumen. Ein rötlicher Schein überglänzte den See und verblasste wieder. Ich konnte Davids Gesicht nicht mehr richtig erkennen, aber ich kannte ihn sowieso zu wenig, um sagen zu können, ob er log. Im Grunde kannte ich ihn überhaupt nicht.
»Warum ist es dir überhaupt wichtig, ob ich dir glaube?«
»Mir ist kalt. Lass uns ein Stück gehen.«
Schweigend gingen wir nebeneinander her. Ich dachte schon, er hätte meine Frage vergessen, als er leise sagte: »Vielleicht, weil ich dich gerne noch mal küssen würde.«
Vor Überraschung blieb ich stehen. »Ach nein!«
»Warum nicht?«, fragte er.
Hörte ich da ein Beben aus seiner Stimme heraus, oder bildete ich mir das nur ein? War er, der tolle David, tatsächlich unsicher?
Nein, da musste ich mich getäuscht haben.
»Was soll denn das? Erst stellst du mich vor der ganzen Schule bloß, und dann soll alles einfach so vergessen sein?«
»Ich weiß, es ist meine Schuld«, sagte er. »Ich war nicht vorsichtig genug. Aber hier sind wir allein.«
Ich war so wütend, dass ich mit den Zähnen knirschte. Er log doch. Was wollte er – noch so ein Filmchen? Noch mehr Tratsch und Gelächter?
»Du hast gut reden«, rief ich. »Die Schule war heute die Hölle. Sogar meine Freunde sind sauer auf mich, während das für dich alles bloß ein Spaß war.«
»Du kennst mich überhaupt nicht«, sagte David. »Du weißt gar nichts über mich. Es war kein Spaß. Es ist schwierig für mich, mich zu ... outen.«
»Du bist schwul? Oder bi?« Der Gedanke war immer noch ungewohnt.
»Das finde ich gerade heraus«, sagte David. »Und mit Alisa habe ich übrigens Schluss gemacht. Sie war so wütend gestern Abend, nachdem sie das Video gesehen hat, aber ich habe ihr erklärt, dass ich nichts bereue. Es ist vorbei.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und entschied mich für ein plattes »Oh, das tut mir leid.«
»Das muss es nicht. Unsere Beziehung war sowieso ... nicht die beste.«
»Wirklich? Ich dachte, ihr wärt das perfekte Paar. Sie hat sich sogar einen Mantel gekauft, der zu deinen Augen passt.«
»Erinnere mich bloß nicht daran«, stöhnte er. »Das hat mir echt den Rest gegeben.«
Die Bitterkeit in seiner Stimme erschreckte mich. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass er so fühlte. Jetzt hatte ich schon etwas weniger Gewissensbisse, wenn ich an Alisa dachte.
Ich wagte einen vorsichtigen Blick zu ihm hin, doch die Dunkelheit umhüllte ihn wie ein Umhang. Allein seine Stimme ließ es tief in mir kribbeln. Dafür hätte Miko mich mit Gummibärchen abgeworfen. Das hier war einer der Schulhof-Klone. Austauschbar und langweilig, weil ach so perfekt.
Aber aus der Nähe war nichts von dieser Perfektion sichtbar. David klang unsicher. Nachdenklich.
»Alisa wollte einfach nur einen Freund haben, der zu ihrer Clique passt. Und ich habe mitgemacht, also geht das auch auf mich. Ich bin viel zu lange der Frage ausgewichen, wer ich eigentlich bin.« Mit gesenktem Kopf stapfte er neben mir her. »Lass uns nicht mehr von ihr sprechen. Das Kapitel ist abgeschlossen, endlich.« Er klang beinahe wieder heiter. »Und, was machst du so?«
»Wie, was mache ich?«
»Wenn du nicht gerade Sonnenuntergänge über zugefrorenen Teichen mit einer uralten Kamera fotografierst. Hast du Hobbys?«
»He, so alt ist sie gar nicht!«
Er grinste. »Was machst du sonst?«
»Oh«, sagte ich. »Wird das ein Kennenlerngespräch?«
»Was dagegen?«
»Du hast mich zu einem Kennenlerngespräch herbestellt – im Winter, bei Eis und Schnee? Was glaubst du, wer du bist? Meine Füße sind Eisklumpen. Meine Nase muss amputiert werden!«
»Wie schade«, meinte er. »Dabei ist es eine so nette Nase.«
»Mit Wintersprossen.«
»Womit?«
»Du weißt schon, die kleinen Punkte, die man im Sommer Sommersprossen nennt. Du hast nach meinen Hobbys gefragt, das ist eins davon. Ich sammle Sprossen. Sommer- und Wintersprossen, Sojabohnensprossen, Weizensprossen, ach ja, und Leitersprossen natürlich auch.«
»Klingt alles sehr gesund.« David hielt mich am Ärmel fest und zupfte eine meiner schwarzen Locken unter meiner Mütze hervor. »Ich gratuliere dir zu diesem interessanten Hobby. Was dir noch fehlt, wären Weihnachtssprossen.« Ehe ich mich’s versah, hatte er mich auf die Nasenspitze geküsst. »Ich weiß was gegen deine Eisklumpenfüße. Hast du Lust, dich bei uns kurz aufzuwärmen?«
Ich dachte an meinen Vater, der vor dem leuchtenden Bildschirm saß, während das Zimmer um ihn herum dunkelgrau wurde. An unsere kalte Küche, an den Kakao, den ich mir selbst kochen musste und der doch nur meinen Magen, aber nicht mein Herz wärmen würde. Wenn ich nicht zurückkam, würde Paps die ganze Nacht im kalten Schlafzimmer sitzen.
»Hm, ich weiß nicht. Bis ich bei euch angekommen bin, falle ich vor Kälte tot um. Das ist so wie bei einer Nordpolexpedition. Es sind nur noch ein paar tausend Kilometer, aber irgendwann merkst du, dass du keine Füße mehr hast und auf den Kniegelenken läufst.«
»Üähh. Du hast ja eine Fantasie.«
»Hab ich geerbt. Mein Vater ist Journalist.«
»Ach, und dazu braucht man Fantasie? Ich dachte, da zählen Fakten.«
»Ohne Fantasie sind Fakten gar nichts. Du musst daraus eine Geschichte knüpfen. Kein Mensch liest gerne Fakten. Da könnte man sich ja gleich Statistiken und Tabellen reinziehen.«
David rieb sich die Oberarme. »Was ist nun, kommst du mit?«
»Tut mir leid. Ich brauche meinen Kakao.«
»Oh, das kann ich auch bieten. Soviel ich weiß, ist meine Mutter zu Hause. Was die dir für einen Kakao macht, da staunst du. Mit Kokosmilch und Sirup und was weiß ich. Sie könnte in einem Vier-Sterne-Restaurant kochen, wenn sie wollte. Das darfst du dir nicht entgehen lassen.«
»Deine Mutter ist Köchin?« Ich konnte meine Überraschung nicht verbergen.
»Ja, wieso?«
»Aber ich dachte ...« Ja, was hatte ich eigentlich gedacht? Dass er ein reiches Söhnchen war? »Du heißt doch Konrad mit Nachnamen, also habe ich angenommen, dass du zum Autohaus Konrad an der Markstraße gehörst.«
»Oh, die mit den Luxusautos? Schön wär’s, dann würde ich mir einen Porsche zum Geburtstag wünschen! Nein, das sind nur entfernte Verwandte, mit denen haben wir kaum was zu tun. Wir wohnen gleich da drüben, hinter dem Wäldchen.«
Dabei war ich mir so sicher gewesen. Allein schon wegen der Markenklamotten, die er trug, oder wegen seines teuren Alu-Fahrrads, das er immer mit mindestens drei Schlössern sicherte. David sah einfach nicht aus wie jemand, der in der kleinen Siedlung wohnte und dessen Mutter Köchin war. Ganz automatisch hatte ich immer die Verbindung zum Autohändler Konrad gezogen.
»Ja, wenn das so ist, dann liegt das ja sowieso auf dem Weg.« Ich schämte mich ein bisschen, dass ich ihn so völlig falsch eingeschätzt hatte. Und eine Pause zum Aufwärmen konnte ich tatsächlich gut gebrauchen.