6. Kakao und kleine Brüder
David wohnte in einem netten kleinen Reihenhaus in der Siedlung, durch die ich immer zur Schule ging. Er führte mich durch ein Labyrinth von Sackgassen und schmalen Fußwegen, bis wir vor einer Reihe von weißen Häusern standen, die ebenso aneinandergepappt waren wie der aus zwei Riesenkugeln bestehende, unförmige Schneemann, den ein kleiner Junge im Vorgarten baute. Mit bewundernswerter Hingabe war er damit beschäftigt, sein Kunstwerk am Umkippen zu hindern.
»Hi, David!« Der Kleine starrte mich neugierig an.
»Ist Mama drinnen?« David führte mich an der schneeigen Monstrosität vorbei zur Haustür.
»Mama schläft«, verkündete der Junge.
»Dein Bruder?«, fragte ich, während wir uns den Schnee von den Jacken klopften.
»Nein, unser Haustier«, antwortete David. »Ständig muss man mit ihm rausgehen, mit ihm spielen oder ihn füttern.« Aber seine Stimme klang liebevoll, als er hinzufügte: »Lennart. Er ist fünf. Hast du keine Geschwister?«
»Leider nein.« Es war so selbstverständlich für mich, allein mit Paps festzusitzen, dass ich nie darüber nachgedacht hatte, wie es wäre, die Kälte und die Dunkelheit in unserer Wohnung mit ein paar Geschwistern zu teilen.
Nachdem wir unsere Füße aus den schneeverkrusteten Schuhen befreit hatten, huschten wir mit nassen Socken und kalten Zehen in die Küche.
»Du hast mir den besten, exquisitesten Kakao aller Zeiten versprochen«, erinnerte ich ihn. »Wenn deine Mutter schläft, heißt das, du musst passen?«
»Von wegen. Ein paar Kniffe habe ich mir durchaus abgeschaut.« David riss den Kühlschrank auf und sichtete den Inhalt. »Keine Milch da, Shit. Wie wär’s mit O-Saft?«
Ich spähte ihm über die Schulter. »Heißer Saft? Auch nicht schlecht. Hauptsache heiß.«
»Natürlich mit Sahnehäubchen und Zimt.«
Während der Orangensaft zu dampfen begann, klingelte Davids kleiner Bruder Sturm – aus keinem dringenderen Anlass, als dass er reinwollte. Nachdem er mir gnädig erlaubt hatte, ihm beim Ausziehen seines Schneeanzugs zu assistieren, hockte er sich auf einen Stuhl neben der Heizung und hielt seine Füße in die Wärme.
»Sag Bescheid, wenn sie gar sind«, sagte David. »Dann gibt es gegrillten Käse zu unserem Super-Spezial-Kinderpunsch.«
»Zieh lieber die nassen Socken aus«, riet ich Lennart. »Dann sind die Zehen schneller durch.«
Während der Kleine laut überlegte, welche Soße wohl dazu passen würde, tappte eine verschlafen gähnende Frau herein, die zusammenzuckte, als sie mich erblickte.
»Oh, wir haben Besuch.«
»Das ist Luis!«, rief Lennart.
»Guten Tag, Frau Konrad«, sagte ich höflich und streckte ihr die Hand entgegen. Dabei bemerkte ich zweierlei: Die eisblauen Augen hatte David nicht von ihr. Und Lennarts Begeisterung über meinen Besuch konnte sie nicht teilen. »Tut mir leid, wenn wir Sie geweckt haben.«
Frau Konrad musterte mich kurz und wandte sich dann an ihren älteren Sohn. »Kann ich dich kurz sprechen, David? Im Wohnzimmer?«
Ich wollte nicht lauschen, aber sie stritten sich so laut, dass ich gar keine Wahl hatte. Ganz deutlich hörte ich den Namen »Alisa« heraus. Immer wieder »Alisa«.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals, und ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg. Ich war mitgekommen, weil ich mich auf einen gemütlichen Ausklang des Abends gefreut hatte, und ja, ich war auch gespannt darauf gewesen, wie David wohnte. Doch im Mittelpunkt eines Streits zu stehen verdarb nicht nur mir die Stimmung.
»Au weia«, flüsterte Lennart und blinzelte mir verschwörerisch zu. »Jetzt gibt es Zoff. Und der Kinderpunsch ist längst fertig. Das hast du gar nicht gemerkt. Du kannst wohl überhaupt nicht kochen, Luis.«
Ich zog den Topf mit dem blubbernden Saft vom Herd und goss Lennart eine Tasse ein. Obendrauf kam eine riesige Wolke Sprühsahne. Noch ein bisschen Zimtzucker – fertig!
Ich ermahnte ihn zu warten, bis der Punsch abgekühlt war, und streichelte ihm zum Abschied über die Haare. Ich war schon dabei, den zweiten Stiefel anzuziehen – der Reißverschluss war derart schneeverkrustet, dass er sich kaum bewegen ließ –, als David in den Flur kam.
»Du willst schon gehen?«
»Ich hatte den Eindruck, deiner Mutter wäre es lieber so«, meinte ich. »Außerdem wird es langsam spät.«
»Na schön, wenn du meinst.« Er hielt mir meine Jacke ausgebreitet hin, damit ich in die Ärmel hineinschlüpfen konnte, und griff dann nach seiner Lederjacke.
»Ach, du musst auch weg?«
»Ich komme mit.«
»Hey, das ist nicht nötig. Ich finde den Weg.«
Wortlos zog David sich trotzdem an und wickelte den gestreiften Schal um seinen Hals. Schweigend gingen wir nebeneinander her. Es fing wieder an zu schneien, und unter den Laternen wirbelten die feinen Flocken wild umher.
»Tut mir leid«, sagte er schließlich. »Meine Mutter ist nicht immer so unhöflich. Es war bloß ... Sie hatte eine lange Schicht und muss heute Abend für eine Feier kochen und ist dementsprechend müde.«
»Du musst sie nicht verteidigen«, sagte ich. »Ist schon okay.«
»Sonst ist sie immer supernett zu Gästen. Für Alisa denkt sie sich ständig neue Kreationen aus.«
Das war das Stichwort. Ich hatte nur darauf gewartet. »Deine Mutter wusste es nicht, oder? Dass ihr euch getrennt habt.«
David blieb unter einer Laterne stehen. Wenn ich nach oben ins Licht schaute, schien der ganze Sternenhimmel auf mich zuzustürzen. Millionen Sterne, die sich im Fallen in Schneeflocken verwandelten und mir wie winzige Nadeln in die Haut stachen. Davids Gesicht wirkte fremd und weiß.
»Wieso hast du es ihr nicht gesagt?« Warum war ich überhaupt hier? Warum waren wir spazieren gegangen, warum hatte ich mich bloß überreden lassen, mit ihm nach Hause zu gehen? Seine Trennung war noch keine vierundzwanzig Stunden alt.
»Nun ja, mit Alisa ist das so eine Sache. Meine Mutter hängt ziemlich an ihr. Es hat mit ... mit ihrer Krankheit zu tun. Alisa will nicht, dass man darüber spricht, aber ...«
»Ich weiß Bescheid«, sagte ich.
»Oh«, meinte er überrascht. »Sie will doch auf keinen Fall, dass sich das herumspricht. Wer hat es dir gesagt?«
»Ich habe ihr damals Nachhilfe gegeben, als sie aus dem Krankenhaus nach Hause kam. Sie sollte sich noch schonen, aber sie hat gebüffelt wie eine Verrückte, um den Stoff aufzuholen.«
»Das hat sie mir nie erzählt.«
Er klang beinahe verletzt, und das traf mich mehr, als ich erwartet hatte. »Du hoffst, dass ihr wieder zusammenkommt, oder?«
Auch sein Lächeln war fremd. Keine Ahnung, warum ich ausgerechnet jetzt wieder an den Kuss denken musste. Daran, wie richtig es sich angefühlt hatte, wie vertraut er mir gewesen war in diesen Minuten.
Für ihn war es nur ein Kuss gewesen, eine Wette. Während ich mich heute schon beinahe als seinen festen Freund gesehen hatte, der bei ihm zu Hause in der Küche herumwerkelte und seinen kleinen Bruder mit Punsch verwöhnte.
»Im Gegenteil.« In seinen blauen Augen war ein fremdartiges Funkeln, so wild und intensiv, dass ich unwillkürlich einen Schritt zurück machen wollte. Und gleich darauf feststellte, dass ich stattdessen auf ihn zugegangen war. »Schau«, sagte er und zeigte auf unsere Abdrücke im Schnee. »Hier sind wir gegangen. Wir beide.«
Die Schneeflocken deckten unsere Spuren bereits zu, verwischten die scharfen Kanten der Schuhsohlen, doch man konnte noch genau erkennen, welche Spuren von meinen schmal geschnittenen Stiefeln herrührten und welche von seinen gigantischen gefütterten Chucks.
»Das gefällt mir«, flüsterte er. »Das sieht aus, als wäre ein Paar hier entlanggegangen. Nie wieder Alisa. Ich bin frei.« Dann legte er mir die Hände auf die Schultern und zog mich näher an sich heran.
Diesmal war es anders als bei unserem ersten Kuss im Mädchenklo. Nicht stürmisch oder gierig, sondern langsam und zärtlich. Vorsichtig kosteten wir voneinander, behutsam, tastend, während der Schnee um uns tanzte.
Gestern waren wir übereinander hergefallen, zwei Fremde, überrascht vom Augenblick. Heute wussten wir, was dieser Kuss bedeutete.
Dass er etwas bedeutete.
Was unbedeutende Küsse anging, hatte ich Erfahrung. Damals hatte ich auch gedacht, mein ganzes Leben würde sich ändern, und dann war alles mit einem gigantischen Knall explodiert.
Das hier war keine gute Idee, das wusste ich. David musste erst einmal herausfinden, wer er war und was er wollte. Ich sollte nicht zu viel erwarten.
Ich erwartete nicht zu viel, oder?
Als wir weitergingen, hatte sich unser Schweigen verändert. Es war nicht länger angespannt; die Fronten waren geklärt. David nahm meine Hand. Groß und warm lagen seine Finger über meinen.
Auf dem Bürgersteig vor unserem Haus blieb ich stehen. »Hier wohne ich. Da, wo das Licht brennt, ist mein Zimmer. Im zweiten Stock.«
»Du lässt es brennen, wenn du weg bist?«
»Meine Finken fliegen noch. Sobald es dunkel ist, schlafen sie ein.«
David hielt meine Hand immer noch fest und schwang sie hin und her. Er schien Schwierigkeiten damit zu haben, mich loszulassen.
Niemand war in der Nähe, der uns beobachten konnte. Es war leicht, Händchen zu halten, wenn niemand es mitbekam.
So wie damals, dachte ich. Alles war im Geheimen passiert. Wir hatten uns niemals erwischen lassen, bis auf das eine Mal.
»Ich muss gehen«, sagte ich. Auch wenn ich Stunden damit hätte zubringen können, einfach herumzustehen und Davids Hand zu halten. Dass ich dabei an einen anderen dachte, war nicht fair. Ich musste damit aufhören.
Ich würde damit aufhören. Endlich hatte ich das Heilmittel für die unerwünschten Erinnerungen gefunden: David Konrad.
»Bis morgen«, sagte er und küsste mich zum Abschied nochmal auf die Nase.
»Bis morgen.«
Ich sah ihm nach, wie er zwischen den Schneebergen hindurchging, plötzlich mit ausgestreckter Hand in die Luft sprang und einen wilden Schrei ausstieß, der mir ein Grinsen ins Gesicht zauberte. Ich hielt mein Lächeln fest, als ich mit klammen Händen die Eingangstür aufschloss und hinauf in unsere kalte, düstere Wohnung stieg. Aus meinem Zimmer ertönte das laute Gezwitscher der Vögel. Ein winziger Strahl goldenen Lichts fiel durch das Schlüsselloch in den dunklen Flur.