7. Kuss der Kälte
»Küsschen, Küsschen!«
Ein paar Sechstklässler hampelten lautstark herum, als sie mich vor dem schwarzen Brett entdeckten, wo ich meine Freistunden überprüfen wollte. Es war beinahe unerklärlich – ich hatte gar nicht mehr an das Video gedacht, das mich zum Gespött der ganzen Schule gemacht hatte. Warum hatte ich nicht einfach geschwänzt oder krank gespielt, bis sich die Gemüter wieder beruhigten? Weil ich so umnebelt war von dem gestrigen Abend, dass ich die Gefahr einfach verdrängt hatte. Ich freute mich nur auf das Wiedersehen mit David.
Warum kamen ausgerechnet jetzt all die Erinnerungen hoch – an ihn
? An unseren ersten Kuss und das Flüstern in dunklen Nischen, in seinem Zimmer, daran, wie wir uns unter dem Tisch berührt hatten, Knie an Knie, Fuß an Fuß, und wie aufgeregt ich gewesen war, wie schrecklich verliebt.
Konnte ich das mit David haben? Nicht die Heimlichkeit, aber dieses Gefühl, verliebt zu sein, zusammenzugehören. Hatte er den Mut dazu?
Heute kam es mir wie die schlechteste Idee aller Zeiten vor, Hand in Hand mit Alisas Exfreund über den Schulhof zu schlendern. Vielleicht, überlegte ich, während ich die breite Treppe zu meinem Kursraum hochstieg, sollten wir es vorerst nicht an die große Glocke hängen.
Das mit uns.
Ich spürte das idiotische Grinsen, das sich auf meinem Mund breitmachte.
David.
Der unglaubliche Junge mit den unglaublichen Augen hatte mich ein zweites Mal geküsst. Wie unglaublich war das denn!
Nicht einmal Scarletts mürrische Miene konnte mir heute etwas anhaben, obwohl sie mich geflissentlich ignorierte.
»Und, Luis, hast du gestern wieder ein nettes Filmchen gedreht?«, fragte Gustav zwei Reihen hinter mir, doch das brachte Scarlett dazu, aufzuspringen und quer durch den Raum zu brüllen: »Und du hältst die Klappe, du Loser!«, was ihr einen strengen Verweis von Frau Knöpfler eintrug, die gerade mit dem Unterricht beginnen wollte.
David war nicht da. Ebenso wenig in Erdkunde, ein Fach, das wir eigentlich zusammen hatten. Also war er schlauer als ich und war den Anfeindungen und Spötteleien geschickt ausgewichen. Aber warum hatte er dann »bis morgen« gesagt? Wollte er sich am Nachmittag wieder mit mir treffen? Ich hatte nicht einmal seine Handynummer. Und meine hatte ich ihm auch nicht gegeben.
Auch in der großen Pause – kein David.
»Hey! Hey, warte, Luis!«
Nach dem Englischkurs wollte ich so schnell wie möglich verschwinden, bevor ich mir wieder die ganzen hämischen Bemerkungen anhören musste, doch ich war nicht schnell genug.
Nicole eilte hinter mir her. Ausgerechnet. Davids und Alisas beste Freundin.
»Was?«, fuhr ich sie an.
»Weißt du, wo David ist?«
»Woher soll ich das wissen?«, fauchte ich.
Nicole bemühte sich nicht einmal, ein zerknirschtes Gesicht aufzusetzen. Sie zuckte mit den Achseln und ließ mich stehen.
»Nein, ich weiß nicht, wo David ist!«, rief ich ihr nach.
Während die Angst in mir aufstieg. Eine Angst, die ich abwehrte, so gut ich konnte.
Hatte wieder jemand gewettet? War auch der gestrige Abend, die Einladung, der Kuss nichts als eine Lüge gewesen? Konnte irgendjemand dermaßen gut schauspielern?
Natürlich. Das konnten viele, Jungs wie Mädchen, jemandem etwas vorspielen und ihn oder sie dann abservieren.
Aber David war echt. Die Gefühle, die ich in seinen Augen gelesen hatte, nein, die waren nicht gespielt gewesen.
Vielleicht hatte Nicole mich ja auch nur angesprochen, weil sie tatsächlich wissen wollte, wo David war. Doch wie kam sie darauf, dass ich es wusste? Hatte David ihr etwa erzählt, was gestern Abend passiert war?
In einem Auf und Ab von Zweifeln und Gewissheit, mal in mich hineinlächelnd und mal vor Entsetzen gelähmt, überlebte ich diesen Schultag. Dass hier und dort ein paar Schüler tuschelten und lachten, störte mich kaum noch. Ich musste wissen, ob es echt war, ob ich mir nicht alles nur eingebildet hatte. Ich musste mich unbedingt mit David treffen.
Als ich am frühen Nachmittag die Sporthalle verließ, platzte ich mitten in einen heftigen Streit zwischen Alisa und Jakob.
»Ich weiß es nicht!«, schrie sie ihn an. »Lass mich in Ruhe!« Ihre Wangen waren gerötet, das sonst so glatte, seidige Haar hing ihr strähnig ins Gesicht. »Kümmere dich um deinen eigenen Kram! David ist ...«
Sie erblickte mich und verstummte.
Jakob drehte sich zu mir um. »Er geht nicht ans Telefon«, sagte er nach kurzem Zögern.
»Dann geht er eben nicht ran, Herrgottnochmal!«, sagte Alisa. »Bist du seine Mutter?«
»Da stimmt was nicht.«
»Frag doch ihn!« Alisa zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf mich. »Wo ist David? Na, Luis, sag’s uns, wo hast du ihn versteckt?«
Ich schob mich an ihr vorbei, zog die Schultern hoch und eilte davon.
Er rief nicht an. Den ganzen Nachmittag über starrte ich auf mein Handy. Es hätte ja sein können, dass David von irgendjemandem meine Nummer hatte, wenn schon nicht von mir. Würde Scarlett sie ihm geben? Oder Miko? Nein, das war unwahrscheinlich. Ich suchte sogar seine Festnetznummer im Telefonbuch heraus, aber bei ihm zu Hause anzurufen, das traute ich mich denn doch nicht. Wieder drohten mich die Zweifel zu überwältigen. Was, wenn er nur darauf wartete? Und mich dann auslachte, weil ich alles falsch verstanden hatte?
Endlich klingelte das Telefon. Unser Haustelefon. Hatte David etwa dieselbe Idee gehabt wie ich? Zwei Doofe, ein Gedanke.
»Gehst du?«, fragte Paps aus dem Schlafzimmer.
»Ja, klar.« Mit plötzlich feuchten Fingern nahm ich ab. »Hallo, hier Luis Wagner.«
»Ähm ... hier ist Jakob.«
»Oh, Jakob. Du.« Klang ich so enttäuscht, wie ich mich fühlte?
»Hat David sich bei dir gemeldet?«
»Was geht dich das an, wenn ich fragen darf?«
»Weil er nicht zu Hause ist! Ich bin extra bei ihm vorbeigefahren. Seine Mutter dachte, er hätte länger Schule. Sie kennt seinen Stundenplan nicht und hat sich noch gar keine Sorgen gemacht.«
»Hat er keine anderen Kumpels, bei denen er sein könnte?«
»Ich hab alle vom Sport angerufen.«
»Hör mal, Jakob.« Dieser Typ machte mich fertig. »Ich weiß nicht, wo David ist, klar? Wenn er seine Ruhe haben will, ist das seine Sache.«
»Ich dachte nur ...«
Ich legte auf. »Dieser Idiot!« Und auf einmal stand ich fertig angezogen im Treppenhaus und stellte fest, dass ich auf dem Weg zum See war, in der vagen Hoffnung, David dort zu treffen.
Gleicher Ort, gleiche Uhrzeit.
Vielleicht hatte er dieselbe Idee. Vielleicht hatte er einfach den Leuten aus dem Weg gehen wollen, die sich über uns lustig machten. Vor allem Jakob. Der nicht einmal auf den Gedanken kam, dass sein bester Freund ihn links liegen lassen könnte. Um Luft zu holen. Um das alles zu verarbeiten.
Wie gut ich David verstehen konnte.
Er würde da sein. Während die Sonne unterging, während rotes Licht über den Himmel wanderte und den Schnee blutrot färbte.
Mein Herz brannte. Ich ging, lief ein paar Schritte schneller, ging, rannte wieder. Vielleicht wartete er schon. Vielleicht hatte er den ganzen Tag dort auf mich gewartet.
Im Wäldchen hätten mir die letzten Eisläufer und Spaziergänger gemütlich entgegenkommen sollen, doch stattdessen sah ich Menschen zum See rennen, und die Lichter, die über den Schnee zuckten, waren blau.
Am Ufer war jede Menge los. Die Feuerwehr. Ein Krankenwagen. Sogar die Polizei war da.
»Was ist passiert?«, fragte jemand neben mir ein paar Schaulustige, die offenbar schon länger das Spektakel beobachteten. »Ist jemand eingebrochen?«
»Ja, scheint so, aber sie suchen noch.«
»Wie, sie suchen noch?«
»Da ist nur ein Loch. Aber es ist wohl was Schlimmes passiert.«
Ich schob mich durch die Menge. Am zertrampelten Ufer standen ein Mann und eine Frau in Uniform sowie ein paar Feuerwehrleute und unterhielten sich. Scheinwerfer beleuchteten das Eis.
Die Polizistin hatte einen langen Schal in der Hand, dessen Enden im Schnee schleiften. Selbst in dem zuckenden Licht erkannte ich die Streifen.
Man weiß vorher nie, wie man reagieren wird. Ich brach nicht zusammen, ich fiel nicht in Ohnmacht, mir wurde auch nicht übel. Stattdessen hörte ich einfach auf, irgendetwas zu fühlen. Aus meiner ängstlichen Besorgnis wurde ... nichts.
Wie aus weiter Ferne beobachtete ich mich selbst, während ich vortrat.
»Der Schal«, hörte ich mich sagen.
Sofort hatte ich die Aufmerksamkeit der Uniformierten. »Weißt du, wem der gehört?«
»David«, sagte ich. »David Konrad. Er war heute nicht in der Schule. Seine Freunde suchen ihn schon den ganzen Tag.«
»Konrad? Vom Autohaus Konrad?«
Ihre Fragen schwirrten an mir vorbei wie Hornissen. Man ahnt ihre Gefährlichkeit, besser, man hält ganz still.
»Ist er tot?«, fragte ich. »Ist er ins Eis eingebrochen?«
»Es sieht danach aus, dass jemand eingebrochen ist«, meinte der Polizist. »Wir haben aber noch niemanden gefunden.«
»Es muss nicht dein Freund gewesen sein«, fügte die Beamtin hinzu.
Von hier vorne sah ich die dunkle Stelle im Schnee, einige Meter vom Ufer entfernt. Gesplittertes Eis, eine Kante wie von gesprungenem Glas. Die Feuerwehrleute redeten leise miteinander darüber, dass der Junge vielleicht noch versucht hatte, sich an der messerscharfen Bruchkante festzuhalten, dass er gekämpft hatte. Unter der dünnen Schneeschicht rund um das Loch hatten sie Blutspuren gefunden. Doch er hatte es nicht geschafft. Das eisige Wasser hatte ihn hinuntergezogen. Die Kräfte schwanden schnell in der Kälte; David hatte keine Chance gehabt.
Er war hier gewesen. Hatte auf mich gewartet. Vielleicht war er über den See geschlendert, die Mütze tief über die Stirn gezogen, den Kopf gesenkt vor dem Wind. Oder er hatte die Schlittschuhläufer beobachtet, die lachenden Kinder, die allen Verboten trotzten.
»Aber er hat doch bestimmt um Hilfe gerufen!«, sagte jemand. War ich das? Ich merkte auf einmal, dass ich mich hingesetzt hatte. Jemand hatte eine Wolldecke um meine Schultern gelegt. »Warum hat ihm keiner von den Schlittschuhläufern geholfen?«
»Wir glauben, dass es bereits gestern passiert ist«, sagte der Polizeibeamte. »Wenn der Junge heute nicht in der Schule war ... Außerdem gibt es keine Fußabdrücke auf der Eisfläche, und in der Nacht hat es das letzte Mal geschneit.«
Wie in Trance warf ich die Decke ab und ging nach Hause. Jemand rief mir etwas hinterher, das ich nicht verstand. Das Gemurmel der Menge dröhnte in meinen Ohren.
Gestern Abend war David noch einmal an den See zurückgekehrt. Und während ich mich schlaflos hin und her wälzte, hatte er gegen das eiskalte schwarze Wasser gekämpft.
Und verloren.
Warum war er nicht einfach nach Hause gegangen? Was wollte er dort, allein in der Winternacht? War er zu aufgewühlt gewesen, zu euphorisch, brauchte er Luft zum Atmen und Raum, um seine Gedanken zu ordnen? Hatte er an mich gedacht? Kam er nicht damit klar, dass er einen Jungen geküsst hatte? Hatte seine Familie homophob reagiert? Seine Mutter war komisch gewesen, als sie mich gesehen hatte. Hatten sie gestritten, und dann war er nach draußen gelaufen, in die Kälte? Zum See?
Nicht einmal ich, obwohl ich den See und sein Farbenspiel so liebte, ging allein aufs Eis, wenn niemand in Rufweite war.
Wie dumm. Wie dumm!
Wie betrunken torkelte ich nach Hause.
Auf einmal begann ich zu lachen. David konnte nicht tot sein, das war unmöglich. Was, wenn es ihm gelungen war, sich aus dem Loch zu ziehen? Wenn er verletzt und verstört durch den Wald taumelte? Vielleicht lag er irgendwo unter einem Baum und wartete darauf, dass man ihn fand. Ich musste ihn suchen!
Doch statt umzukehren, ging ich weiter. Mein auf Autopilot geschalteter Körper brachte es nicht fertig, anzuhalten und einen neuen Entschluss zu fassen. Nur mein rastloser Geist suchte eine Möglichkeit nach der anderen, um das Geschehene umzudeuten.
Der Schal! Warum war ich nicht gleich darauf gekommen? Es war gar nicht David, der verunglückt war. Eins der Kinder war eingebrochen, und er hatte ihm seinen Schal vom Ufer aus zugeworfen und es aus dem Loch gezogen.
Danach waren sie beide nach Hause gegangen und hatten den Schal vergessen.
»Was ist passiert?«, fragte mein Vater. Zum ersten Mal seit langem war ein Gefühl in seiner Stimme. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, ich hätte gedacht, er sei erschrocken. »Luis, was ist?«
Ich setzte mich an den Küchentisch. Vor mir stand ein dampfender Becher Kakao, der irgendwie durch Zauberei dort hingekommen sein musste. Ich trank in kleinen Schlucken, ohne etwas zu schmecken. Es hätte auch Hühnerbrühe sein können. Oder aufgewärmtes Teichwasser. Dunkles, brackiges, tödliches Wasser.
»Du machst mir Angst«, flüsterte Paps. »Luis!«
»Es gab ein Unglück«, sagte ich schließlich. Es war, als würde ich eine Rolle in einem Theaterstück spielen. Das war mein Text, ich musste ihn einfach bloß aufsagen. Mit der Realität hatte das überhaupt nichts zu tun. Es konnte schließlich nicht sein, dass David tot war. »Am See. Da ist jemand im Eis eingebrochen.«
»Oh Gott.«
»David ist tot.« Ich sprach es aus, aber es waren Worte, die keinen Sinn ergaben. Diesmal hatte ich den falschen Text auswendig gelernt. Richtig hätte es geheißen: Paps, ich habe einen Jungen kennengelernt. Er ist ganz anders, als ich erwartet hätte, überhaupt nicht abgehoben und eingebildet. Ich kann fühlen, wie er in Wahrheit ist – warmherzig und intelligent und ein bisschen verzweifelt. Und er hat die unglaublichsten blauen Augen, die man sich vorstellen kann.
»Hast du ihn gut gekannt?«, fragte Paps.
»Er war in meiner Jahrgangsstufe«, sagte ich. »Ja, natürlich habe ich ihn gekannt. Wenn auch nicht besonders gut.«