8. Eisige Spuren
Der Schein der Laterne ist wie der Strahl eines Raumschiffs, der uns erfasst und gleich nach oben beamen wird. Um uns rieseln die Sterne vom Himmel. David küsst mich zum Abschied; ich begreife es erst in dem Moment, als er sich von mir löst und nach oben schwebt. Das fremde Schiff nimmt ihn mit und verschwindet in der Schwärze der Winternacht, und ich stehe hier und blicke ihm nach ...
Und er blickt aus einem kleinen Fenster auf mich herunter. Aber es ist gar nicht David.
Es ist Sebastian.
Nur ein Traum.
Ich lag in meinem Bett und wusste plötzlich, dass es weitaus mehr als ein Traum war.
David war fort.
Warum nur musste ich andauernd an Sebastian denken, seit ich David geküsst hatte? Warum wohnte er immer noch in meinem Kopf, obwohl ich der Meinung gewesen war, dass ich ihn längst von dort vertrieben hatte?
Hugo und Berta schliefen noch unter der Decke, die ich jeden Abend über ihren Käfig legte. Und ich musste trotzdem zur Schule.
Heute lachte niemand, niemand zeigte von Weitem auf mich und machte Knutschgeräusche.
Überall, in der Eingangshalle und in den Fluren, erklang gedämpftes Gemurmel. Die Blicke, die mich trafen, waren anders als gestern. Düster, nahezu feindselig. Wie feindselig, merkte ich erst, als jemand mich an der Treppe unsanft anrempelte.
»Mörder!«, zischte ein Mädchen, mit dem ich noch nie gesprochen hatte, sie war nicht einmal in meiner Stufe. Fassungslos drehte ich mich um und entdeckte Miko, der mich mit seltsam bleichem Gesicht anstarrte.
»Sprichst du auch nicht mehr mit mir?«, fragte ich leise.
Er kam mir noch kleiner vor als sonst, als wäre er über Nacht geschrumpft. Vielleicht lag das daran, dass ich immerzu an David denken musste. David, der mich überragte. David, der sich zu mir herunterbeugen musste, um mich zu küssen.
»Luis«, murmelte Miko. »Hast du es noch nicht gehört?«
»Doch, habe ich.«. In meinem Herzen war das Knacken des Eises, das Geräusch der splitternden, krachenden Eisfläche. Ich konnte fühlen, wie David kämpfte, wie ihn das Wasser lähmte, bis er seine Beine nicht mehr bewegen konnte. Ich sah ihn, wie er hinabsank.
»An deiner Stelle würde ich lieber nach Hause gehen«, meinte Miko.
»Zu Hause drehe ich durch.«
Er packte mich am Arm und zog mich zur Seite, als ein weiterer Schwall Schüler die Stufen hinaufschwappte.
»Erst der Kuss, dann macht Alisa Schluss mit ihm, und jetzt ist er tot. Willst du wirklich, dass die dich lynchen?«
»Aber ich kann doch nichts dafür!« Schwul zu sein war nicht ansteckend. Was konnte ich dafür, dass David den Mut gefunden hatte, seine Sexualität in Frage zu stellen? Was er seinen eigenen Worten nach schon viel früher hätte tun sollen. Dachten die anderen jetzt etwa, dass ihn als Strafe Gottes ein Blitzstrahl getroffen hatte und er deshalb ins Eis eingebrochen war? Wir lebten nicht mehr im Mittelalter. Das konnte doch niemand ernsthaft denken.
Die Vernunft sagte mir, dass ich absolut nichts dafür konnte, doch natürlich fühlte ich mich trotzdem schuldig. Unser Kuss unter der Laterne. David wäre nach Hause gegangen, wenn wir uns nicht geküsst hätten. Was war in seinem Kopf vor sich gegangen? Ich dachte an den euphorischen Triumphschrei, als er durch den Schnee gestapft, nein, gesprungen war. Ich dachte an sein Glück, das mich von innen her gewärmt hatte.
Natürlich war ich schuld, denn dieses Glück war es, das ihn noch einmal zurück an den See getrieben hatte.
»So werden das leider die wenigsten sehen«, flüsterte Miko traurig. Die Schulklingel rief uns in die Kursräume, die Flure leerten sich, aber er hielt mich immer noch fest, als wollte er um jeden Preis verhindern, dass ich rechtzeitig zum Unterricht kam. »Sie sagen, du bist der Grund, der David und Alisa entzweit hat, und deshalb macht man dich für seinen Selbstmord verantwortlich. Tu dir das nicht an, bitte.«
Ich blinzelte. Aus seiner ganzen Rede stach ein Wort heraus wie ein Eisberg. »Selbstmord?«
Unser Kuss. Es schneite. Ein Jubelschrei vor Glück.
»Wie, Selbstmord? Es war ein Unfall. Er ist ins Eis eingebrochen.«
»Hast du das nicht gehört?«, fragte er. »Alle reden über nichts anderes mehr. Er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen.«
»Was? Aber ...« Stumpf wiederholte ich meinen Satz. »Er ist ins Eis eingebrochen.«
»Nein«, widersprach Miko. »Es hätte gehalten. Die Polizei hat ein paar große Steine gefunden. Er hat das Eis wohl mit Gewalt aufgebrochen. Und dann ist er ins Wasser gesprungen. Bisher konnten sie allerdings noch keine Leiche finden. Vermutlich erst, wenn es taut.«
Das ergab doch überhaupt keinen Sinn. »Er hat das Eis absichtlich aufgebrochen? Weil er sterben wollte?«
»Er war vier Jahre lang mit Alisa zusammen. Und weil er dich geküsst hat, hat sie Schluss gemacht. Das hat er anscheinend nicht verkraftet. Oder er war wirklich schwul und ist nicht damit klargekommen. Ist seine Familie religiös? Wer weiß, was sie ihm eingeredet haben. Und dir geben sie jetzt die Schuld an allem.«
Endlich ließ er meinen Arm los und rannte die Treppe hinauf. Zwei Lehrer stiefelten an mir vorbei.
»Musst du nicht in den Unterricht?«, fragte einer von ihnen.
Natürlich kam ich zu spät, und alle Augen richteten sich auf mich.
Es war mir egal. Ich konnte nicht mehr klar denken. Aus einer Ecke kam wütendes Gezischel.
David hatte einen Abschiedsbrief hinterlassen. Er hatte sich umgebracht, weil Alisa sich von ihm getrennt hatte. Oder weil er festgestellt hatte, dass er so war wie ich? Weil er mit mir zusammen sein wollte und es nicht durfte? Hatte irgendjemand ihm eingeredet, dass er ein Sünder war, der in die Hölle kommen würde?
Was hast du in diesen letzten Minuten gedacht, David? Hast du dich schuldig gefühlt, weil du glücklich warst? Oder warst du unglücklich? Oder ... oder was war es?
Wie konnte ich wissen, was davon zutraf? Wollte ich es überhaupt wissen?
Wie eingefroren saß ich an meinem Platz; was an der Tafel vor sich ging, rauschte an mir vorbei.
In der Pause stand ich allein da, bis Scarlett plötzlich auftauchte und mich umarmte. »Oh Gott, Luis. Das ist alles so schrecklich!«
»Ja«, sagte ich nur.
»Gleich haben wir eine Jahrgangsversammlung in der Aula. Gehst du hin? Ich glaube, die Direx will uns darüber informieren. Obwohl es sowieso schon alle wissen. Vielleicht gibt es ja neue Erkenntnisse.«
»Ja, vielleicht.«
»Oh Mann, ich möchte nicht in deiner Haut stecken. David und Alisa, die waren so gut wie verheiratet.«
»Nein, waren sie nicht«, widersprach ich leise.
Weil David auf Jungs stand. Weil er endlich ehrlich zu sich selbst sein wollte.
Scarlett hakte sich bei mir unter. Vergeben und vergessen, dass ich ihr nichts von dem Kuss erzählt hatte. Ich brauchte Beistand, und für Scarlett kam es nur darauf an. An ihrer Seite fühlte ich mich nicht ganz so schrecklich, als wir alle in die Aula strömten. Statt des sonstigen Getöses herrschte heute eine unheimliche Stille.
Die Direktorin, eine pummelige Endfünfzigerin mit eisengrauen Haaren, war ernst und gefasst, als sie uns in knappen Sätzen mitteilte, dass sich einer unserer Mitschüler nicht mehr unter uns befand. Dass er freiwillig aus dem Leben geschieden sei, was unglaublich tragisch war.
Es folgte ein Aufruf, sich bei Suizidgedanken dringend Hilfe zu holen. Und die Bitte an alle, aufmerksam auf unsere Mitmenschen zu achten, weil nicht immer sofort erkennbar sei, wer unter Depressionen leide. Außerdem warnte sie dringend vor Anfeindungen und Mobbing; niemand dürfe nach so einer Tragödie verantwortlich gemacht werden. Nach einer andächtigen Schweigeminute wurden wir wieder in die nächste Stunde geschickt.
»Mörder«, wisperte jemand in meiner Nähe.
Alisa fehlte heute.
Seltsamerweise hörte ich kein böses Wort, das sich gegen sie richtete. Denn natürlich hatte sie das Recht, Schluss zu machen, wenn ihr Freund mit einem Jungen rumknutschte und auch noch so blöd war, sich dabei filmen zu lassen.
Außerdem war Alisa beliebt. Und es wussten offenbar viel mehr Leute von ihrer Krebserkrankung, als ich gedacht hatte.
Ich hingegen war bloß ein Niemand. Der schwule Junge, der sich an David herangemacht hatte.
»Mörder!«, flüsterte es überall. »Dass du dich überhaupt hertraust!«
Seltsamerweise konnten mich die Anfeindungen nicht berühren. Sie kamen nicht an mich heran, denn da waren zu viele andere Gefühle, die wie ein Bollwerk wirkten.
Trauer.
Sehnsucht.
Und Unglaube.
Ich konnte nicht fassen, dass meine Liebesgeschichte zu Ende war, bevor sie richtig begonnen hatte.
Und dass David nach unserem Kuss mit einem Jubelschrei davongerannt war, um sich umzubringen.
Erst spätabends ging ich wieder an den See. Ich hätte es nicht ertragen, jemanden dort anzutreffen oder die Leute über das Unglück reden zu hören. Deshalb wartete ich nach dem Abendbrot eine Weile und schlüpfte dann in meine Jacke. Paps saß vor dem Fernseher und ließ die bunten Lichter über sein Gesicht tanzen. Er würde nicht einmal merken, dass ich die Wohnung verlassen hatte, er merkte nie etwas, und heute war es mir ausnahmsweise recht. Wenn er gefragt hätte, was ich draußen wollte, hätte ich keine Antwort für ihn gehabt.
Wie lange muss man jemanden geliebt haben, um das Recht zu haben, um ihn zu trauern? Ich hatte nichts vorzuweisen, nichts außer zwei Küssen und ein paar Worten, nichts außer unseren Spuren im Schnee, die längst verschwunden waren. Niemand würde mir glauben, dass ich mich betrogen fühlte – um tausend weitere Küsse, um geflüsterte Worte in seinem Zimmer oder Kakao mit seinem kleinen Bruder, um gemeinsames Musikhören und Lernen und Tanzen und Erleben.
Ich hatte viel zu wenige Erinnerungen mit David, und als ich durch die Straßen stapfte, den Kopf gesenkt gegen den scharfen Wind, war ich nicht einfach bloß traurig, sondern wütend. Meine Wut nahm zu, während ich durch den finsteren Wald marschierte, und schließlich begann ich zu rennen, mir war, als würde die Zeit ablaufen, und ich wollte David doch noch sagen, was ich davon hielt. Mich zu küssen. So zu tun, als würde er mich mögen. Und sich dann umzubringen!
Ich hätte ihm helfen können, über seine Gefühle klarzuwerden. Ich hätte ihm zur Seite gestanden, wenn seine Familie negativ reagierte. Das hätte ich, wirklich. Ich hatte gelernt, dumme Sprüche zu ignorieren, und das konnte er auch.
Der Wind knisterte in den überfrorenen Gräsern und raschelte in den Blättern über uns. Klirrend rieben sich die Zweige aneinander. Der See schimmerte weiß vor mir, eine perfekte Ebene, die Ruhe und Frieden versprach. Das Absperrband, das die Polizei vor den Uferbereich gespannt hatte, erinnerte wie ein Mahnmal an das Unglück. Am jenseitigen Ufer blinkten die Fenster des Hotels wie Glühwürmchen. Dort war es warm und gemütlich, vielleicht saßen die Gäste an der Bar oder im Wintergarten und lachten, während der idyllische See sich in ein Grab verwandelt hatte. Irgendwo unter dem Eis war David, trieb sein lebloser Körper dahin in Kälte und Dunkelheit.
»Du Mistkerl«, sagte ich laut. »Wie konntest du nur! Das ist nicht fair. Warum hast du überhaupt damit angefangen? Warum kriege ich dich nicht aus meinem Kopf? Vor ein paar Tagen wusste ich nicht einmal, dass es dich gibt. Ich wäre betroffen gewesen, so wie die anderen, aber es wäre nicht so ein Gefühl, so ... so wie jetzt.« Ich hatte keine Worte dafür. »Hörst du mich, wo immer du auch bist? Hast du nichts zu sagen? Gar nichts?« Ich bückte mich, um einen Stein aufzuheben, doch er war so festgefroren, dass ich mit dem Fuß ein paar Mal dagegentreten musste, um ihn freizubekommen. Dann schleuderte ich den Stein, so weit ich konnte. In der Stille hörte ich den Aufprall, hörte, wie er ein paar Meter weiterschlitterte.
Jemand beobachtete mich.
Der Eindruck war so real, dass ich herumfuhr, doch da war niemand. Nur der Wald schien mich anzustarren, ein Geflecht aus schimmerndem Schnee und undurchdringlichen Schatten.
»Hallo?«, fragte ich leise.
Knackten die Zweige wirklich, oder bildete ich mir das nur ein? Unwillkürlich hielt ich den Atem an und lauschte.
Da, jetzt war ich mir sicher. Etwas hatte sich im Gebüsch bewegt.
»Hallo?« Ich wollte laut und selbstsicher klingen, aber es kam nur ein Krächzen heraus. »Ist da wer?«
Plötzlich wurde mir bewusst, wie spät es war. Ich war ganz allein hier, nicht einmal Paps hatte ich Bescheid gesagt.
Um zurückzugehen, musste ich durch den Wald.
Die überfrorenen Zweige knisterten und klirrten, es klang, als würde jemand tuscheln. Es klang, als würde jemand hinter mir herschleichen.
Doch wenn ich über die Schulter spähte, war da niemand.
Ich beschleunigte meine Schritte und begann zu rennen. Die Bäume schienen näher an den Weg heranzutreten, ihre schwarzen Äste wölbten sich darüber, bildeten einen dunklen Tunnel. Es raschelte und wisperte und knackte. Schweiß bildete sich in meinem Nacken, während ich vorwärtshastete. Ich wurde schneller, die kalte Luft schmerzte in meinen Lungen, ich glitt aus, stolperte, stürzte auf die Knie. Der eisüberkrustete, festgebackene Schnee war hart wie Marmor, doch ich spürte keinen Schmerz, sondern sprang wieder auf und hastete weiter. Erst als ich aus dem Wäldchen heraus war und mich das sanfte gelbe Licht der Straßenlaternen einhüllte, atmete ich auf.
Von hier aus war es nicht mehr weit, aber jetzt spürte ich den Schmerz im Bein, und erstaunt betrachtete ich meine aufgeschrammten Handflächen. Schließlich stand ich vor unserem Haus. Bläulich flimmerte der Fernseher durch die Fensterscheibe. Es war tröstlich zu wissen, dass Paps dort oben saß, dass die Welt noch in Ordnung war.
Ich drehte mich um und erstarrte.
Vielleicht hundert Meter entfernt, unter einer der Laternen, stand jemand, ein großer Mann, dessen Haltung mir vertraut vorkam. Von hier aus verschwamm sein Gesicht zu einem hellen Fleck, aber er schien zu mir herüberzustarren.
Er trug Davids Jacke und Davids Strickmütze.
Oder täuschte ich mich?
»David!« So schnell ich konnte, rannte ich zurück, auf ihn zu, alles schien sich um mich zu drehen, der schreckliche Tag, all meine Gefühle, Trauer und Erleichterung, Unglaube und Hoffnung. »David! Warte!«
Die Gestalt drehte sich um und marschierte davon, trat zwischen den parkenden Autos auf die Straße und verschwand in einer Nebengasse. Als ich unter der Laterne ankam, war nichts mehr von David zu sehen.
Nur dort, wo er gestanden hatte, waren die Spuren im Schnee deutlich zu erkennen – die geriffelten Abdrücke sehr großer Chucks.