10. Dunkle Augen
Alisa verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Ist das dein Ernst? Ich will nicht mit ihm reden.«
»Hör dir an, was Luis zu sagen hat«, beharrte Jakob.
Sie sah übernächtigt aus. Dunkle Ringe unter den Augen, als hätte sie seit Tagen nicht mehr geschlafen. Ihre sonst so perfekte Haut war fahl und so trocken, dass sie schuppte, und ihr Handrücken war blutig gekratzt.
»Alisa«, sagte ich. »Bitte. Es ist wichtig. Ich habe Grund zu der Annahme, dass ...«
»Nein!« Sie wich zurück. »Ich will nicht mit dir sprechen! Lass mich in Ruhe!«
»Alisa, ich ...«
»Nein!« Sie hielt sich die Ohren zu und rannte über den Schulhof.
Berenice und Nicole funkelten mich wütend an. Wie sonst auch übernahm es Nicole, mir den Dolch ins Herz zu stoßen. »Na, ganz toll. Ihre Eltern sind kurz davor, sie zur Kur zu schicken. Warum schubst du sie nicht gleich in den See?«
Sie stolzierten ihr nach. Ihre Worte hätten mich nicht treffen sollen, aber das taten sie.
»Und was jetzt?«, fragte ich Jakob.
»Ich rede mit Alisa, wenn du nicht dabei bist.«
»Sieht nicht danach aus, als ob sie überhaupt mit jemandem reden will.«
Jakob biss wieder auf seiner Unterlippe herum. »Dann sollten wir mit Sebastian sprechen. Auf ihn hört sie vielleicht.«
»Das fehlte noch.«
Nicht Sebastian. Bitte nicht.
»Warum? Kennst du ihn?«
»Ja«, sagte ich. »Ich kenne ihn. Sagen wir mal, wir liegen nicht gerade auf einer Wellenlänge.«
Und das war noch harmlos ausgedrückt.
Sebastian hatte sich bereit erklärt, uns in der Bäckerei an der Waldseestraße zu treffen. Jedenfalls behauptete Jakob das. Wir saßen nun schon seit einer halben Stunde vor unseren Bechern, und immer noch kein Sebastian weit und breit. Lustlos knabberte ich an einem Schokohörnchen.
Keiner von uns hatte David bisher auch nur erwähnt. Es gab nichts Neues zu erzählen, nichts, was Jakob nicht schon wusste. Mit meinen Albträumen musste ich ihn ja nicht belästigen.
»Eigentlich kaum zu glauben, dass das Winterfest der Oberstufe trotz allem stattfindet«, sagte ich.
»Die Lehrer wollten es absagen, aber es ist im Grunde eine private Veranstaltung, darüber haben sie keine Befugnis. Es findet ja nicht mal in der Schule statt.« Jakob wusste natürlich Bescheid, da seine Freundin Berenice im Orgateam war.
»Bestimmt geht gar keiner hin.«
»Die Organisatoren meinen, dass es keinem hilft, wenn wir nur noch herumsitzen und Trübsal blasen. Es wird eine Schweigeminute für David geben, sie spielen seinen Lieblingssong, und dann wird getanzt bis zum Umfallen.«
»Alisa geht auf das Fest? Trotzdem?«
»Jetzt erst recht.« Jakob schüttete einen weiteren Löffel Zucker in seinen Kaffeebecher. »Du verstehst das nicht. So ist sie. Wenn etwas Schlimmes passiert, muss man weitermachen, als wenn nichts wäre. Man muss es dem Schicksal zeigen. Nach diesem Motto lebt sie. Seit ...« Er zögerte.
»Seit dem Tumor, wolltest du das sagen? Ich weiß, dass sie eine gefährliche Operation und eine Chemo hinter sich hat. Warum will sie eigentlich nicht, dass irgendjemand darüber spricht?«
»Weil sie kein Opfer ist.« Bewunderung lag in seiner Stimme. »Alisa wollte nie bemitleidet werden. Sie hat hart gekämpft, für alles. Für ihren Weg zurück ins Leben, für ihren Platz in der Schule. Sie wird auch diesen Schock überstehen.«
»Bin ich zu spät?«
Er war es. Diese Stimme erkannte ich sofort. Sebastian stand plötzlich vor unserem Tisch, und vorsichtig lugte ich nach oben.
Mein Herz blieb nicht stehen. Ich konnte ganz ruhig weiteratmen, gar kein Problem.
Er war noch attraktiver als früher. Wie machte er das bloß? Die dunklen Haare. Die dunklen Augen. Der intensive Blick, der mich zu verbrennen schien. Das Lächeln. Scheiße, dieses Lächeln!
»Wie ich höre, seid ihr schon beim Thema.« Sebastian setzte sich neben mich auf die Bank, ohne dass ich ihn dazu aufgefordert hätte, und schnappte sich meinen Becher. »Gut, noch heiß. Du hast doch nichts dagegen?«
Als wären wir Freunde. Oder zusammen. Als wäre all das nicht passiert.
»Kakao«, stellte er nach dem ersten Schluck fest und verzog den Mund. »Ich hatte ehrlich gesagt Kaffee erwartet. Du hast dich gar nicht verändert, Mondprinz.«
Mondprinz. So hatte er mich schon damals genannt.
Ich musste schlucken. »Du anscheinend auch nicht.«
Ungerührt trank er meinen Kakao aus. Ich ließ ihn. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, die heftigen Gefühle, die in mir aufstiegen, niederzukämpfen. Die Wut hatte jahrelang in mir geschwelt, und etwas davon war immer noch da. Ich dachte an meinen Traum – an das Gesicht im Fenster, das sich immer weiter von mir entfernte und schließlich in der Dunkelheit verschwand.
So sollte es sein.
Warum war er bloß immer noch so unverschämt attraktiv? Ich sollte immun dagegen sein. Leider war ich es nicht. Dass er viel zu nah neben mir saß, machte mich dermaßen nervös, dass ich kaum stillsitzen konnte. Hitze stieg mir in die Wangen.
Jakob meinte, dass wir Sebastian einweihen sollten, um Alisa dazu zu bringen, uns zuzuhören. Aber Sebastian tat nie etwas umsonst – falls er sich nicht verändert hatte. Doch diese Hoffnung war, wie er in den ersten Sekunden bewies, vergebens gewesen.
Natürlich war er älter geworden. Da er nicht an unsere Schule ging und ich nicht zu Alisas Freundeskreis gehörte, hatte ich ihn in den vergangenen vier Jahren höchstens mal flüchtig von Weitem gesehen. Er war gewachsen und man sah ihm nicht an, dass er erst achtzehn war und damit nur ein Jahr älter als ich. Dem Aussehen nach hätte man ihn auch auf Anfang zwanzig schätzen können. Nun, da er sein kindliches Engelsgesicht verloren hatte, sah er auf eine gefährliche Art attraktiv aus. Dazu trug auch die Narbe bei, die seine linke Augenbraue zerschnitt. Das schalkhafte Grinsen war ihm jedoch geblieben.
»Hast du mich vermisst, Mondprinz?«
»Ich hab es gerade so ausgehalten«, sagte ich trocken.
Er lachte. »Ich liebe deinen Humor. Den habe ich schon immer geliebt. Soll ich dir mal wieder was auf meinem Schlagzeug vorspielen?«
Jakob blickte uns verwundert an. »Was ist das mit euch beiden? Wart ihr mal zusammen?«
»Ja«, sagte Sebastian.
»Nein«, sagte ich.
Sein Lachen klang höchst amüsiert. »Du konntest dich noch nie so recht entscheiden, Mondprinz.«
»Wir waren nicht zusammen! Wovon träumst du, wenn es dunkel ist?«
»Willst du das wirklich wissen?«
»Nur weil ich dir ein paar Mal zugehört habe, wenn du Schlagzeug gespielt hast ...«
»Jetzt lasst mal gut sein.« Jakob klopfte mit dem Teelöffel auf den Tisch. »Dafür sind wir nicht hier, was immer es ist, macht es später unter euch aus. Es geht um deine Schwester, Sebastian.«
»Warum überrascht mich das nicht? Es geht immer um Alisa. Also, was ist es diesmal? Willst du wissen, wie du dich am besten in ihr Herz schleichen kannst?«
»Wie bitte?« Jakob war blass geworden.
»Nun, da ihr Freund endlich aus dem Weg ist, musst du dich beeilen. Bevor jemand anderes schneller ist.«
Jakobs wilde Miene hätte jedem Angst machen können, selbst ich zuckte erschrocken zusammen, doch Sebastian lachte nur.
»Sei froh, dass David es selbst getan hat.«
»Nimm das zurück!« Jakob sprang auf und beugte sich vor, und wenn der Tisch nicht fest im Boden verankert gewesen wäre, hätte er ihn mitsamt Geschirr und Kerzenständer umgeworfen.
Sebastian ließ seine Zungenspitze vorschnellen wie eine Giftschlange. Plötzlich hielt er etwas in der Faust. Von meinem Platz aus konnte ich es nicht richtig erkennen, es sah aus wie ein Stück poliertes Holz. Doch Jakob sank sofort zurück auf seine Sitzbank.
»He, reg dich ab, Mann. Das war eine blöde Bemerkung von dir und das weißt du auch.«
»Es ist die Wahrheit.« Sebastian öffnete die Faust und nun sah ich es auf dem Tisch liegen – ein kleines Schnappmesser. Die Klinge war nicht ausgefahren. Er musste unglaublich schnell sein, denn er konnte es nicht die ganze Zeit über in der Hand gehabt haben.
»David lebt. Zumindest glaubt Luis das.«
Lässig lehnte Sebastian sich zurück. »Das klingt interessant. Ich bin ganz Ohr.«
Es war ein Fehler, dass ich mich überhaupt auf dieses Treffen eingelassen hatte. Er hatte sich nicht verändert, kein Stück. Aber nun war ich schon einmal hier, und ich hatte das deutliche Gefühl, dass ich dieses Rätsel nicht allein lösen konnte. Alisa kannte David von uns allen am besten. Falls er sich irgendwo versteckte, aus welchem Grund auch immer, würde sie am ehesten erraten können, wo.
»Nun, raus mit der Sprache, Mondprinz.«
Ich brachte kein Wort über die Lippen, daher ergriff Jakob die Initiative und erzählte, was ich erlebt hatte.
»Du hast was mit dem schönen David gehabt?«, fragte Sebastian. »Wer hätte das gedacht. Der scheue Mondprinz und der Prinz mit den eisblauen Augen?«
»Also, redest du mit Alisa?«, fragte Jakob unbeirrt.
»Ich weiß nicht«, meinte Sebastian. »Meine Schwester ist eh schon traumatisiert. Ihr Freund, Verzeihung Exfreund, hat sich vor kurzem erst umgebracht. Sie fühlt sich schuldig, weil sie mit ihm Schluss gemacht hat. Und nun das? Das könnte sie ziemlich aus der Bahn werfen, und ein paar von uns wissen, was dann passieren kann.« Dabei schaute er mich an.
»Sebastian«, sagte Jakob. Irgendwie schaffte er es, nicht drohend zu klingen.
»Was gibt es in diesem Laden eigentlich zu trinken? Ich meine, außer Kakao. Haben die nichts Stärkeres?«
Das hier war kein richtiges Café. Wir saßen in einer Bäckerei mit ein paar Tischen, an denen man Kuchen essen und Kaffee trinken konnte. Es gab keine Bedienung, nur zwei Verkäuferinnen hinter der Ladentheke. Trotzdem schnipste Sebastian so lange mit den Fingern, bis sich die jüngere der beiden Verkäuferinnen endlich dazu bequemte, an unserem Tisch aufzutauchen.
»Hier ist eigentlich Selbstbedienung.«
»Wenn Sie mir einen Whisky bringen könnten?«, fragte Sebastian mit einem charmanten Lächeln.
»Tut mir leid. Wie wäre es mit einem Espresso?«
»Wenn ich Sie so ansehe, würde ich allem zustimmen.«
Damit entlockte er der Frau ein zufriedenes Lächeln. Sie schwebte davon, und Sebastian wandte sich Jakob zu.
»Du zahlst doch? Das habe ich schon immer an dir geschätzt. Deine Großzügigkeit.«
Jakob schnaubte bloß.
»Du hilfst uns also?«, fragte ich.
»Aber natürlich«, sagte Sebastian. »Das lasse ich mir nicht entgehen – die Jagd nach einem Geist. Sonst ist in diesem Kaff doch nichts los. Weißt du schon, was du anziehen wirst, Mondprinz?«
»Nenn mich nicht so«, fauchte ich. Vier Jahre lang hatte ich auf diesen Namen gut verzichten können. »Ähm, wie meinst du das, was ich anziehe?«
»Na, zu dieser Party.«
»Das Winterfest?«
»Ja, genau das meine ich. Bisschen hochtrabend der Name, nicht?« In gespielter Verzweiflung warf er die Hände hoch. »Du wirst alle Blicke auf dich ziehen, Mondprinz, wenn du dich mal wieder richtig in Schale wirfst. Abgesehen von mir natürlich. Lass mir die Hoffnung, dass ein wenig von deinem Glanz auf mich abfärbt.«
»Ich gehe nicht auf diese bescheuerte Party!«
»Oh, danke schön.« Die Bedienung war wieder da. Mit einem schelmischen Zwinkern nahm Sebastian die kleine Tasse entgegen. »Doch, natürlich gehst du.«
Jakob seufzte. »Musst du immer alle erpressen?«
»Immer und alle? Jetzt kränkst du mich aber. Ich erpresse nur meinen schönen Prinzen.«
»Aber ...«, begann ich.
»Was, aber? Ihr wollt, dass wir nach David suchen. Der dich offenbar verfolgt. Der dir geheimnisvolle Briefchen schreibt und Steine an dein Fenster wirft. Ich schlage bloß vor, dass wir ihn aus der Reserve locken. Wenn er tatsächlich verschwunden ist, um meiner Schwester eins auszuwischen, und stattdessen unsterblich in dich verliebt ist, bringen wir ihn womöglich sogar dazu, aus dem Gebüsch zu springen, wenn ich den ganzen Abend mit dir tanze.«
Er prostete mir mit dem Espresso zu. »Also, wie gesagt: Was ziehst du an?«
Scarlett kannte mich einfach zu gut. Ich war entschlossen gewesen, die Sache für mich zu behalten, aber am nächsten Tag in der großen Pause stocherte sie so lange, bis ich es ihr erzählte.
»Du hast David gesehen?«
Draußen regnete es Bindfäden. Ausnahmsweise scheuchten die Lehrer nicht jeden Schüler hinaus, daher waren die Gänge und Klassenräume überfüllt. Wir hatten einen Tisch in der Mensa gefunden, etwas abgelegen am Fenster. Wenn auch nur die geringste Chance bestanden hätte, dass jemand mithörte, hätte nicht einmal Scarletts Forschermiene mein Schweigen erschüttern können.
»Sieht so aus.«
»Seinen Geist, meinst du wohl«, sagte Miko mit weit aufgerissenen Augen.
»Ich wusste gar nicht, dass du an Geister glaubst«, sagte ich.
»So ein Quatsch«, meinte Scarlett ungnädig. »Davids Leiche ist immer noch nicht aufgetaucht. Das Eis ist dünn und brüchig, aber es ist nicht vollständig abgetaut. Es wird noch eine Weile dauern, bis er angetrieben wird. Aber es steht ja wohl fest, dass er tot ist. Warum sollte er seinen Selbstmord vortäuschen und dann verschwinden?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Sag du es mir.«
»Sein Geist geht um«, flüsterte Miko. »Vielleicht ist er hinter Luis her, weil er ihn in den Tod getrieben hat.«
»Das habe ich nicht!«
»Ruhe«, befahl Scarlett. »Jedenfalls bist du kurz davor, mich in den Wahnsinn zu treiben.«
Miko wandte sich beleidigt ab.
»Ich fasse es einfach nicht. Du gehst mit Alisas großem Bruder auf die Party?«
»Ich geh da nicht zum Vergnügen hin«, rief ich. »Ich muss herausfinden, was mit David passiert ist!«
Ich wurde selten laut. Miko zuckte erschrocken zurück und irgendetwas fiel aus seinen Haaren, vielleicht ein paar Gummibärchen.
»Lässt du uns mal kurz allein?«, fragte Scarlett Miko.
»Alles klar, bis später.« Miko sammelte hastig sein Zeug zusammen, das er wie üblich um sich herum verstreut hatte.
Sobald er fort war, beugte Scarlett sich über den Mensatisch. »Reden wir Klartext. Was hast du gegen diesen Sebastian? Ich wusste ja nicht mal, dass Alisa einen Bruder hat. Obwohl ... doch, ich hab ihn früher öfter mit ihr zusammen gesehen. Aber das ist lange her. Hieß es nicht, dass er auf ein Internat geht?«
»Es ist eine Schule für schwer erziehbare Jugendliche. Seine Eltern wollten es nicht an die große Glocke hängen.«
»Und woher weißt du es dann? Du weißt ja ganz schön viel über die schöne Alisa und ihre Familie.«
»Als ich ihr damals Nachhilfe gegeben habe, sind ein paar Dinge vorgefallen.«
»Dinge«, wiederholte Scarlett. »Was soll das denn schon wieder heißen? In der siebten Klasse waren wir schon befreundet, wenn ich mich recht erinnere, und du hast absolut nichts erzählt.«
»Ich wollte nicht darüber reden. Ich durfte nicht.«
»Wie, du durftest nicht?«
»Ich hab’s versprochen, okay? Ich hab ihnen versprochen, dass ich es niemandem weitererzähle, nicht mal meiner besten Freundin.«
»Ihnen.« Scarlett wirkte immer verwirrter. »Wer ist denn jetzt ihnen
»Seine Eltern. Sebastians und Alisas Eltern. Sie hatten schon genug durchgemacht mit Alisas Krankheit. Sie haben monatelang gehofft und an ihrem Bett gewacht, sie haben quasi im Krankenhaus gewohnt. Es war nicht das Geld. Ich hab einfach eingesehen, dass es schwer für sie war. Noch mehr Ärger konnten sie echt nicht gebrauchen. Es hat ihnen so schon den Rest gegeben.«
Meine Freundin strich sich die Haare aus der Stirn. »Du hast Geld bekommen? Wofür? Was hat Sebastian dir getan?«
»Er hat mir nichts angetan. Mir nicht. Er hat nur um ein Haar seine Schwester umgebracht.«