11. Tanzen und Täuschen
Einen winterlichen Tanzabend stellt man sich vielleicht so vor wie in amerikanischen Filmen. Überall Tannenzweige, bunte Ballkleider, hochhackige Schuhe, verliebte Pärchen drehen sich zu Livemusik.
Unsere Party dagegen war laut, schrill und alkoholgetränkt. Eine typische Oberstufenparty eben. Und für mich gab es natürlich kein romantisches Händchenhalten und auch keinen Kuss.
Ich konnte Sebastian immer noch nicht ausstehen. Es war nicht wie damals, als wir noch halbe Kinder gewesen waren; da hatte er manchmal pausenlos gegrinst und blöde Witze gemacht. Er machte zwar immer noch blöde Witze, aber er war düsterer als früher. Ernster. Obwohl er die angesagtesten Markenklamotten trug und einen cooleren Haarschnitt als jeder andere, sah er nicht aus, als würde er »zu denen« gehörten, wie Scarlett gesagt hätte. Sebastian war schon immer seine eigene Kategorie gewesen. Wie erwartet flirtete er pausenlos mit mir und natürlich auch mit allen männlichen und weiblichen Wesen weit und breit. Zwischendurch grinste er seiner Schwester zu, die mit ihren Freundinnen an der Theke stand.
»Du hast es geschafft!«, schrie er mir ins Ohr.
»Was?«, schrie ich zurück.
»Alisa zu ärgern.«
Natürlich war Alisa nicht die Einzige, die sich über mein Erscheinen aufregte. Ich wollte gar nicht wissen, wie viele der Anwesenden mir die Schuld an Davids Tod gaben.
Nur dass David gar nicht tot war. Oder seit wann schrieben Tote kleine Briefchen?
Was mich zu der Frage brachte, warum David überhaupt Briefchen schrieb. Meine Mutter hatte immer gesagt: Achte auf die Details. Schau auf die Stellen, die leer und dunkel sind.
Die Fragen sind wichtiger als die Antworten. Geh der Spur der Fragen nach.
»Komm mal mit.« Ich zog Sebastian nach draußen. Hier war es kalt. Rauchschwaden verpesteten die Luft.
»Kommt jetzt die Kussnummer?«, fragte er und wollte mich an sich ziehen.
»Davon träumst du wohl. Lass mich los!«
Wie Schraubzwingen lagen seine Arme um mich. Wenn ich keinen Aufruhr verursachen wollte, musste ich warten, bis er mich freigab.
»Ich muss mit Alisa reden! Hast du sie darauf vorbereitet?«
»Ach. Alisa schon wieder! Und ich dachte, jetzt wird es endlich kuschelig.«
Er legte die Wange an meine. Sie war rau und kratzte an meiner Haut. Er roch so gut. Sebastian hatte immer gut gerochen. »Ich hab dich so vermisst«, flüsterte er.
»Lass mich los«, krächzte ich.
»Ich glaube, ich bin endlich bereit.«
»Wozu?«
»Dir zu verzeihen, Luis.«
»Du ... mir? Was?«
Ich zappelte in seinem Griff. Auf gar keinen Fall würde ich mich von ihm küssen lassen.
»Wollten wir nicht deinen David eifersüchtig machen? Falls er heimlich zusieht, müssen wir ihm etwas bieten.«
»Hast du mit Alisa gesprochen?«
Sebastian seufzte. »Ich hab sogar einen Termin mit Ihrer Majestät abgemacht. Der ist in«, er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, »zwei Minuten.«
Er hatte nicht gelogen. Denn schon rauschte Alisa samt Gefolge an. Die Mädchen musterten mich kühl.
»Der schon wieder«, sagte Berenice.
»Wie ein Schmetterling«, sagte Nicole. »Von einer Blume zur nächsten.«
Sebastian grinste sie an. Er legte den Arm um meine Schultern und küsste mich auf den Scheitel. »Bin ich die Blume oder der Schmetterling?«
»Du bist hier jedenfalls überflüssig.« Alisa bedachte ihn mit einem kühlen Blick und sagte dann: »Lasst uns mal allein, Mädels. Das wird ein Vier-Augen-Gespräch, klar?«
»Alles klar«, sagte Sebastian und zwinkerte mir zu. Er schlenderte den Mädchen nach, und ich konnte noch sehen, wie er Nicole etwas ins Ohr flüsterte.
»Na gut.« Alisa verschränkte die Arme vor der Brust und wippte mit dem Fuß. »Was willst du, Luis?«
»Hat Sebastian dir nichts verraten?«
»Dass du seit neuestem Geister siehst? Das tut mir echt leid für dich. Vielleicht solltest du mal zu einem Psycho-Doktor gehen.«
»Ich glaube nicht an Geister«, sagte ich.
Ihre Augen verengten sich. »Wie bitte? Ich dachte, du glaubst, du würdest David sehen und dass er dir Botschaften hinterlässt. Oder hat mein Bruder übertrieben?«
»David ist kein Geist«, sagte ich. »Er lebt.«
Alisa funkelte mich zornig an. »Was?« Sie wirkte, als würde sie mir gleich ins Gesicht springen. »Was sollen diese Spielchen? David ist tot, und wie du es bloß wagen kannst, mit mir über ihn zu sprechen, ist mir ein Rätsel.«
»Warum hat David kein Handy?«
»Wie bitte?« Ihre Wut schlug in Überraschung um.
Das musste ich ausnutzen, wenn ich Informationen von ihr wollte. »Er hat keins, stimmt’s? Wer schreibt denn noch heutzutage Zettelchen? Jakob hat mir gesagt, dass David das immer getan hat. Nur, wozu? Das ist so retro.«
Auch mir hatte er einen Zettel hingelegt. Seine Nummer dagegen hatte er mir nicht gegeben. Ich hatte ihn kein einziges Mal mit einem Handy am Ohr, einem iPhone oder sonst einem Gerät gesehen. Weder auf dem Schulhof noch in der kurzen Zeit, die wir zusammen verbracht hatten.
Alisa runzelte die Stirn. »Das war eben seine Art, was geht dich das an?«
Nicht die Antworten sind das Entscheidende, hatte meine Mutter früher oft gesagt. Mein Vater hatte eher wenig über seine Arbeit erzählt, damals, als er noch mit Herz und Seele Journalist gewesen war. Er hatte sich in Schweigen gehüllt und gegrübelt. Meine Mutter hatte jedoch gerne über Gott und die Welt und die Menschen, die sie traf, geredet. Hör auf die Lücken in den Antworten. Achte auf die dunklen Stellen.
Alisa hatte nicht bestritten, dass David kein Handy besaß, doch die Erklärung dafür war sie mir schuldig geblieben.
»Und das hat dich nicht gestört?«, fragte ich. »Obwohl ihr euch in der Clique doch bestimmt gegenseitig mit euren neuesten Wunderwerken der Technik übertrumpft habt.«
»Worauf willst du hinaus?« Ich konnte förmlich fühlen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete.
All die kleinen Details, die einen Lügner verraten – vergiss sie. Du wirst nie auf alles achten und gleichzeitig auch noch zuhören können.
Meine Mutter hatte gelächelt, wenn sie über ihr Lieblingsthema sprach: die Wahrheit. Hör auf dein Gefühl, Luis, das ist das ganze Geheimnis.
Ich hatte ihr geglaubt, wenn sie mich umarmte und mir »Hab dich lieb« ins Ohr flüsterte. Offenbar war ich nicht besonders gut darin, Lügner mit Hilfe meines Bauchgefühls zu entlarven. Doch selbst mir war klar, dass Alisa etwas verschwieg.
»Ich glaube, dass du mehr weißt, als du zugibst«, sagte ich. »David ist nicht im See ertrunken. Er ist irgendwo da
draußen, und es muss einen Grund dafür geben, warum er alle glauben lässt, er sei tot. Dass er kein Handy hatte, ist die erste Merkwürdigkeit, die mir aufgefallen ist, deshalb setze ich an dieser Stelle an. Aber wenn du mir nicht weiterhelfen kannst, werde ich seine Mutter fragen.«
»Wag es ja nicht!« Alisa packte mich bei den Schultern. »Lass seine Familie da raus!«
Mit einem Ruck machte ich mich frei. Ich stellte keine weiteren Fragen. Ich blickte sie nur an.
»Du glaubst also wirklich, dass er noch lebt?«, murmelte sie. »Dann hatte er recht.«
»Womit?«
Alisa kniff die Lippen zusammen. Eine Weile schien sie zu überlegen, wie viel sie mir anvertrauen sollte. »David hatte Angst«, sagte sie schließlich. »Deshalb besaß er kein Handy.«
»Wovor denn?«, fragte ich. »Wenn man sich fürchtet, kann man doch wenigstens schnell Hilfe rufen.«
»Ja, aber man kann auch geortet werden.« Sie seufzte. »Frag mich nicht. Er wollte nie darüber reden, hat nur ein paar Andeutungen gemacht. Und ich hab ihn ehrlich gesagt nicht ernst genommen.«
Was sollte das denn jetzt bedeuten?
»Wenn er in Kauf nimmt, dass sogar seine Familie ihn für tot hält, muss es um etwas wirklich Schlimmes gehen«, sagte Alisa leise. »Und meine Gefühle ... meine Gefühle waren ihm egal.«
»Sag das nicht.« Ich streckte die Hand aus und legte sie ihr auf den Arm. »Vielleicht ging es nicht anders. Er muss für tot gehalten werden, weil ... weil sonst etwas noch Schlimmeres passieren würde. Weil sein Leben dann wirklich in Gefahr wäre. Das heißt allerdings ...«
»Was ist?«, fragte Alisa erschrocken. »Was meinst du?«
Unsere Finger krampften sich umeinander.
»Das heißt, dass wir nicht viel Zeit haben, um rauszufinden, warum er weggelaufen ist und sich versteckt. Sobald das Eis auf dem See taut ...«
»Werden die Taucher ihn suchen«, ergänzte sie. »Aber der See ist tief. Sie werden nicht gleich Verdacht schöpfen, wenn sie ihn nicht sofort finden.«
»Die Polizei vielleicht nicht. Aber für irgendjemanden muss es sehr wichtig sein, ob David wirklich tot ist.«
Alisa ließ meine Hände wieder los. Sie hatte ihre Fingernägel so heftig hineingebohrt, dass überall kleine rote Halbmonde zurückblieben.
»Für mich auch«, wisperte sie. »Für mich auch.«