12. Wut und Wärme
Das Hotel war von der Straße nicht zu sehen. Ein verwaschenes, kaum lesbares Schild – Seehotel Gerold
– wies darauf hin. Wenn man ihm folgte und nach links abbog, führte die Straße in zahlreichen Kurven durch den Wald, und plötzlich war der Himmel weit und das Wasser schimmerte wie ein Spiegel. Das Gerold
wirkte auf mich wenig einladend mit der grauen Fassade und den kahlen Bäumen, die sich über den Parkplatz neigten, doch beim Näherkommen fielen mir die neuen Fenster auf und der hübsche Vorgarten, der selbst zu dieser unwirtlichen Jahreszeit gepflegt wirkte mit den geschnittenen Buchsbaumkugeln und den steinernen Jagdhunden, die den Eingang bewachten.
Ich führte mein Rad über den rutschigen Kiesweg, als hinter mir das tiefe Röhren eines Sportwagens erklang. Offenbar trafen gerade einige Hotelgäste ein, denn ein dunkler Porsche kam auf dem Parkplatz unter der hohen Kastanie zum Stehen. Mir sollte das recht sein, es verlieh der melancholischen Atmosphäre etwas mehr Alltäglichkeit. Was tat ich hier eigentlich? Nach jener Sache mit Sebastian hatte ich mir geschworen, nie wieder herzukommen. Ich hatte es ja beinahe geschafft, nicht mehr daran zu denken, was ich hier erlebt hatte. Nun kamen die Bilder mit Macht zurück, und ich senkte den Kopf, während sie mir wie Blätter im Sturm entgegenwirbelten.
Sebastian. Der hübsche Junge mit den dunklen Augen voller Wut ... Sebastian, der mich hinter den Baum zog. Sebastian, sein Atem warm an meiner Wange, an meinem Hals.
Sebastian am Schlagzeug im Keller, wo uns niemand hören konnte, wenn wir redeten.
Unser erster Kuss. Ich war dreizehn und schwebte auf Wolken.
Ich war dreizehn und hatte gerade entdeckt, dass ich Jungs viel interessanter fand als Mädchen, und meine Eltern lächelten bloß, als hätten sie es schon immer gewusst.
Sebastian, der immer irgendwann auftauchte, wenn Alisa und ich über den Büchern saßen.
Sebastian an jenem letzten Tag.
Alisas Schreie.
Hinter mir knirschte der Kies. Dann traf mich etwas am Rücken.
Ich ließ mein Rad fallen und fuhr herum. »Du!«
»Auch schon da?« Mit einer Handvoll kleiner Steinchen stand Jakob ein paar Meter hinter mir. »Ich hab dich doch nicht etwa erschreckt? Wen hast du erwartet, etwa David?«
»Nein«, knurrte ich. »Ich bin zurzeit einfach etwas schreckhaft.« Ich zerrte mein Fahrrad wieder in die Höhe. »Seit wann hast du den Führerschein? Ich wusste gar nicht, dass du schon achtzehn bist. Ist das dein Porsche?«
Jakob grinste mich an. »Was dagegen?«
»Nur überrascht. Ich dachte, ich treffe mich allein mit Alisa.«
»Sebastian hat mir Bescheid gesagt.«
Er wartete, während ich mein Fahrrad abschloss. Ich konnte mir vorstellen, was jemand, der einen Porsche fuhr, über meinen klapprigen Drahtesel dachte.
Doch Jakob verkniff sich jeden Kommentar. Wortlos begleitete er mich die Stufen zwischen den Steinhunden hoch. Das Foyer des Hotels war in rustikalen Rot- und Grüntönen gehalten. Von den Wänden blickten die gläsernen Augen eines toten Hirschs.
»Hallo, Jakob.« Die Frau hinter dem Empfang, solariengebräunt und mit blondierten Strähnchen im dunkelroten Haar, lächelte ihm freundlich zu, dann wurden ihre Augen kühl. »Lukas, richtig? Alisa ist hinten im Wintergarten.«
Ich glaubte keine Sekunde lang, dass Frau Gerold meinen Namen vergessen hatte. Für ein zuckersüßes Lächeln waren meine Nerven zu stark angespannt. Mit versteinerter Miene folgte ich Jakob durch einen langen Flur unter den abgeschlagenen Köpfen erlegter Tiere hindurch zum Wintergarten.
Der Ausblick auf den See war besonders im Sommer oder Herbst atemberaubend, doch heute waren meine Sorgen zu stark, um die Landschaft beeindruckend zu finden. Die Eiskrusten auf den Bäumen waren abgetaut und die Stämme wirkten von hier aus schwarz. Ein älteres Paar saß Kaffee trinkend an einem der Tischchen. Alisa hatte sich in die andere Ecke verzogen, mit finsterer Miene redete sie auf ihren Bruder ein, der mit irgendetwas nicht einverstanden schien. Als sie uns sah, brachte sie ihn mit einem Wink zum Schweigen.
»Da seid ihr ja. Ich habe Sebastian dazugebeten, ich hoffe, ihr habt nichts dagegen. Die Getränke kommen gleich, wenn ihr was anderes wollt, sagt Bescheid.«
»Wird schon passen«, sagte Jakob. »Wir sind ja nicht deswegen hier.«
Ich zog den vierten Korbstuhl ein Stück vom Tisch weg und setzte mich zwischen Alisa und Jakob. Sebastian zwinkerte mir zu.
»Ich dachte, wir tragen zusammen, was wir über David wissen.« Alisa öffnete den College-Block, der vor ihr lag. »Wir sind diejenigen, die ihn am besten kannten. Oder kennen. Wenn er ein Problem hatte, müssten wir darüber informiert sein. Und wenn nicht – was kann so schlimm sein, dass er nicht einmal seiner Freundin davon erzählen konnte?«
Sebastian lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. »Drogen.«
»Was?«, fuhr Jakob auf. »Du glaubst, David hatte was mit Drogen zu tun?«
»Was hatte er sonst im Wald zu suchen, abends im Dunkeln? Leute, stellt euch doch nicht so an. Wir wissen alle, was dort abgeht.«
»Du spinnst doch«, sagte Alisa. »David hat nichts genommen.«
»Glaubst du.«
»Nein, das weiß ich!«
»Und wer war dann so überrascht, dass er ins Wasser gesprungen ist? Du weißt nicht halb so viel über ihn, wie du denkst.«
»Er ist nicht gesprungen«, sagte ich.
Nun nahm Sebastian mich ins Visier. »Er wäre nicht der Erste, der irgendeine Substanz nicht verträgt. Sie hat ihm das Hirn zerschossen, und deshalb dachte er, es wäre lustig, mitten im Winter nach einem versunkenen Raumschiff zu tauchen. Oder den Weltrekord im Eistauchen zu brechen. Oder was weiß ich.«
»Er ist nicht gesprungen«, wiederholte ich. »Er lebt.«
»Sagst du.«
»Und der Abschiedsbrief?«, fragte Alisa. »Wenn David im Drogenrausch leichtsinnig geworden ist, warum dann der Brief?«
»Manche Designerdrogen machen depressiv. Vielleicht war es keine spontane Idee, sondern er hat das von langer Hand geplant. Das wäre genauso irre.«
Jakob seufzte. Sebastian schien ihm ebenso auf die Nerven zu gehen wie mir. »Luis hat ihn gesehen. Er hat eine Nachricht von ihm bekommen.«
»Und wo ist diese Nachricht, bitte schön?«
»Die hab ich. Moment mal.« Ich wühlte durch meine Jacken- und Hosentaschen. »Hm. Ich war mir ganz sicher ...«
Sebastian ließ ein abgehacktes Lachen erklingen, bei dem sogar ein paar andere Gäste irritiert aufblickten. »Na, seht ihr.
Kollektive Halluzinationen. Das Ganze hat was mit Rausch und Visionen zu tun. Möglicherweise auch mit Geisteskrankheit.« Der Blick in meine Richtung war beinahe liebevoll.
»Und wenn du dich wirklich geirrt hast, Luis?«, fragte Alisa. Bei ihr klang es wenigstens besorgt. Sie wusste genau, was es bedeutete, wenn ich meiner Fantasie aufgesessen war: Dann war David wirklich tot, und nichts, was wir taten oder dachten, machte einen Unterschied. Aber sie wollte nicht, dass er tot war. Ich war mir nicht sicher, ob sie mir wirklich glaubte, und da ich keine Beweise hatte, konnte ich ihr das schwerlich übelnehmen, aber sie klammerte sich an dieser Hoffnung fest.
»Mach doch zwei Listen«, schlug ich vor. »Die eine für den Fall, dass ich mich täusche. Was spricht dafür, dass er wirklich Selbstmord begangen hat? Und dann die zweite Liste. Die vielleicht nur Hirngespinste enthält, aber was soll’s, was haben wir denn schon zu verlieren? In diese Liste schreib hinein, warum er verschwunden sein könnte. Wovor er vielleicht Angst hatte. Ob wir uns vorstellen können, wer hinter ihm her ist und warum.«
Alisa kritzelte bereits in ihrem Block herum. Sie schrieb konzentriert, die Zungenspitze zwischen den Zähnen.
»Es gibt einen Bereich in seinem Leben, über den ich nichts weiß, weil er nie darüber sprechen wollte«, sagte sie. »Und das ist sein Vater.«
»Die Bedienung kommt«, zischte Jakob.
Wir warteten, während ein Mädchen mit weißer Schürze uns mit Tassen und einem großen Keksteller bewirtete. »Cappuccino nach Art des Hauses.« Sie tat, als würde sie Alisa nicht kennen. »Ich wünsche guten Appetit.«
Auf dem üppigen Milchschaum prangte der Buchstabe G wie Gerold, vermutlich aus dunklem Kakao. Es duftete leicht nach Zimt.
Alisa tauchte die Oberlippe in den Schaum. »Der ist einfach zu gut.«
»Sein Bruder hat jedenfalls einen anderen Vater. David ist mir meistens ausgewichen, wenn ich mal gefragt hab«, sagte Jakob. »Anscheinend hat sein Erzeuger die Familie verlassen, als David noch klein war.«
»Hat er ihn überhaupt kennengelernt? Wusste er, wer es ist?«
»Das schon.« Jakob runzelte die Stirn, während er in die Tasse starrte. »Er hat mal eine Bemerkung darüber fallenlassen, dass es keine Unterhaltszahlungen gibt, weil seine Mutter nichts von dem Geld wissen will.«
»Und?«, fragte Sebastian. »Sollte Daddy deshalb der große Unbekannte sein, vor dem David ach so große Angst hatte? Ein Vater, der sich rächen will, weil er sich mit der Mutter verkracht hat?«
»Ich kann es nicht genau sagen, aber ich hatte den Eindruck, dass es um viel Geld geht. Um sehr viel Geld.«
Ich dachte an die kleine Reihenhauswohnung, an Lennart auf der Heizung, an eine müde Frau, die mich feindselig anstarrte. Ja, ich konnte mir durchaus vorstellen, dass sie von jemandem, den sie hasste, kein Geld annehmen wollte.
»Vielleicht hatte seine Mutter Angst davor, dass der Vater auf Kontakt bestehen würde. Und dass er dann seinen Sohn entführt.« Sebastians Augen leuchteten auf. Er schien das alles sehr spannend zu finden.
»Hallo?«, meinte Jakob. »David ist fast achtzehn. Den entführt keiner so leicht. Wenn er nicht bei seinem Vater leben will, dann kann ihn niemand dazu zwingen.«
»Dann ist das der erste Punkt auf unserer Tagesordnung«, sagte Alisa, die wieder wie wild schrieb. »Das übernimmst du, Luis.«
»Ich?« Meine Stimme quietschte vor Schreck.
»Warum nicht? Es wäre ein bisschen seltsam, wenn ich mich plötzlich für Davids Familie interessiere, nachdem wir ein paar Jahre zusammen waren. Dir wird schon eine Ausrede einfallen. Jakob kann dir ja helfen. Du«, sie richtete den Zeigefinger auf ihren Bruder, »gehst der Drogengeschichte nach. Ich glaube zwar nicht daran, aber da hinten ist nun mal der Treffpunkt der Dealer. Vielleicht hat jemand was gesehen.«
»Und was machst du, Schwesterchen?«, wollte Sebastian wissen. »Wie eine Königin dasitzen und auf die Ergebnisse warten?«
Alisa leckte sich den Cappuccino-Schaum von der Oberlippe. »Ich sichte die Vergangenheit«, sagte sie. »Die Briefe, die ich von ihm bekommen habe, unsere Fotos, meine Tagebücher. Dagegen ist das, was ihr vor euch habt, gar nichts.«
Sie schaute mich an; für einen Augenblick verrutschte ihr Lächeln und sie ließ mich ihren Triumph sehen. Was auch immer mit David geschehen war, die Jahre, die sie mit ihm zusammen gewesen war, konnte ich ihr nicht nehmen. Ich hatte bloß einen Kuss und einen Verdacht. Sie war seine Freundin gewesen, und ich wusste nicht mal, ob David wirklich schwul war. Wenn es etwas gab, das ihn retten konnte, dann würde sie es finden, nicht ich.
»Na, dann an die Arbeit«, sagte ich zu Jakob. »Ich glaube, wir sind hier fertig.«
Es hatte wieder angefangen zu regnen. Graue Schleier gingen über dem See nieder. Die ganze Welt versank in nasskaltem Nebel.
»Soll ich dich mitnehmen?«, fragte Jakob. »Nur, dein Fahrrad passt leider nicht in den Kofferraum.«
Ich hatte noch nie in einem Porsche gesessen. Das Angebot war durchaus verlockend.
»Okay, das hole ich später. Mein Vater kann mich herbringen.« Als ob er dazu in der Lage gewesen wäre. Ich würde den langen Weg zu Fuß gehen müssen. Aber egal.
Ich öffnete die Beifahrertür und spürte ein Kribbeln im Rücken. Irgendjemand beobachtete mich. Langsam drehte ich mich um, doch hinter mir war nur das Mosaik aus gelb erleuchteten Fenstern und dunklen Scheiben, in denen sich der regennasse Wald spiegelte.
»Davids Mutter müsste zu Hause sein«, sagte Jakob. »In der Küche war sie jedenfalls nicht. Ich schätze, deshalb hat Alisa uns den Job gegeben. Eine Angestellte nach ihren Exfreunden auszufragen wäre ziemlich schlechter Stil.«
»Davids Mutter arbeitet hier?«, fragte ich überrascht.
»Ja, wusstest du das nicht? Sie ist die Chefköchin.«
Das hatte David neulich abends nicht erwähnt. Seine Verbindung mit Alisa und ihrer Familie erschien mir immer enger.
»Eine trauernde Mutter nach ihrem toten Sohn zu fragen ist jedenfalls nicht ohne.« Ich würde kein Wort herausbringen, das wusste ich jetzt schon.
Doch während wir durch den Regen fuhren und winzige Tropfen auf der Windschutzscheibe knisterten, überkam mich ein starkes Gefühl der Unwirklichkeit. Die Stadt versank in grauen Schwaden. Vor uns rutschte ein Auto über die Fahrbahn. Jakob ging vom Gas und fluchte leise.
Gespensterjagd, dachte ich.
Aber da ich mein Leben mit dem Gespenst meines Vaters teilte, war das schon fast Gewohnheit bei mir. Ich lachte leise vor mich hin.
»Und was ist so komisch?«, knurrte Jakob. Wir drehten uns einmal im Kreis und standen wieder in Fahrtrichtung. »Mein Vater sagt mir ständig, ich soll den Wagen bei diesem Wetter in
der Garage lassen. Wenn ich da nur eine Macke reinkriege, wird er mir das ewig vorhalten.«
»Manchmal ist es schwer, die Lebenden von den Toten zu unterscheiden«, sagte ich und kicherte wieder.
Ich war hysterische Anfälle nicht gewohnt, im Gegensatz zu halblebendigen Gestalten in der Wohnung. Dass wir nach dem Geheimnis eines ertrunkenen Jungen suchten, hatte so etwas Irreales an sich. Hatte ich ihn wirklich gesehen oder mir das bloß eingebildet? Waren Davids Spuren im Schnee Realität oder Wunschdenken? Es hätte jeder sein können. Und der Schnee war längst geschmolzen. Der Winter ließ keine Beweise zurück.
»Benimm dich«, sagte Jakob, als wir vor dem Reihenhaus hielten, in dem ich vor unendlich langer Zeit Orangensaft mit Schlagsahne zubereitet hatte, während ein kleiner Junge auf der Heizung saß.
Als Davids Mutter öffnete, schluckte ich den letzten Rest Gelächter hinunter. Sie sah schrecklich aus. Bleich und verhärmt, mindestens zehn Jahre älter als bei unserer letzten Begegnung.
»Was?«, fragte sie.
Jakob öffnete den Mund und schloss ihn wieder, und notgedrungen ergriff ich die Initiative.
»Dürfen wir reinkommen? Wir verfassen einen Nachruf für David, für die Schülerzeitung.«
Frau Konrad zögerte, doch da tauchte ein nutellaverschmiertes Gesicht hinter ihr auf.
»Luis!«, rief Lennart begeistert. Die traurige Atmosphäre nahm er gar nicht wahr; Fünfjährige lebten im Moment. »Wollen wir wieder Saftkakao trinken?« Er hüpfte in einer halb angezogenen Strumpfhose durch den Flur. »Und meine Füße grillen?«
Wir waren drinnen.
Was mir als Erstes auffiel: Es gab überhaupt keine Adventsdekoration. Keine Tannenzweige, keine Nikoläuse, keine Kerzen. In wenigen Tagen war Weihnachten, aber in dieser Wohnung wies nichts darauf hin.
Falls David am Leben war, wusste seine Mutter jedenfalls nichts davon. Es kam mir entsetzlich grausam vor, nach ihm zu fragen. Wir jagten einem Phantom nach. Nur meiner Überzeugungskraft hatte ich das zu verdanken, aber angesichts dieser trostlosen, ungeputzten Zimmer wurde ich unsicher. David hätte seine Mutter nicht im Glauben gelassen, dass er tot war.
»Ähm, wir wollen keine Umstände machen«, sagte Jakob, als Frau Konrad mit Tassen zu hantieren begann.
Ich legte ihm die Hand auf den Arm. »Lass sie doch«, flüsterte ich. »Danke, ein Tee wäre nett«, sagte ich laut. »Das hilft gegen das Grau da draußen.«
Je länger wir an unseren Tassen nippten, umso länger konnten wir bleiben.
»Ihr sagtet, es geht um die Schülerzeitung?«, fragte Frau Konrad schließlich. »Was wollt ihr denn schreiben? Noch vor ... vor der Beerdigung?«
»Äh«, sagte Jakob, und ich stieß ihn in die Seite.
»Wenn Sie möchten, warten wir natürlich«, versicherte ich ihr. »Aber ich glaube, wenn wir ein paar Worte dazu schreiben, kann es seinen Mitschülern helfen, damit fertig zu werden. Es herrscht eine große Unsicherheit an der Schule. Manche wollen gar nicht glauben, dass so etwas Schreckliches in unserer Mitte geschehen kann. Ich würde gerne darüber schreiben, dass man hinsehen muss und aufeinander achten sollte.«
Jakob schaute mich verwundert an, aber Frau Konrad nickte. »Ja«, sagte sie leise. »Hinsehen. Das hab ich wohl versäumt. Ich habe nicht gemerkt, wie es ihm ging.«
»Dürfen wir sein Zimmer sehen? Ich würde den Artikel gerne damit anfangen, wie normal alles wirken kann.«
»Normal?« Sie wischte sich über die Augen. »Ach, normal ist das wohl kaum. Ihr könnt reinsehen, aber bitte macht keine Fotos.«
»Natürlich nicht«, versicherte ich ihr. In meiner Jackentasche umschlossen meine Finger bereits das Handy. Ich musste mich dazu zwingen, es wieder loszulassen. Zum Glück hatte ich die große Kamera erst gar nicht mitgebracht.
Eifrig eilte Lennart voraus, um uns stolz das Zimmer seines Bruders zu präsentieren.
»Warum hast du nichts davon gesagt?«, fragte ich Jakob, doch der zuckte nur die Schultern.
»Ist schon lange her, dass ich hier war«, murmelte Jakob. »Damals sah es noch nicht so aus.«
Wenn ich an jenem Abend hiergeblieben wäre, hätte David mich in sein geheimes Reich geführt? Oder wäre es ihm peinlich gewesen?
Das Zimmer war nicht groß, vielleicht drei mal vier Meter. Auf dem Bett lag eine Decke mit einem Aufdruck von Star Wars; so eine ähnliche hatte ich auch. An den Wänden, am Kleiderschrank, sogar an der Decke hingen Bilder. Fotos.
Sie zeigten alle einen Mann, der weder ein Rockstar noch ein Schauspieler war; ich hatte ihn nie zuvor gesehen. Er mochte um die sechzig sein und hatte ein langes, mürrisches Gesicht. Auf beinahe jedem Bild trug er einen weißen Kittel und hatte eine Laborbrille auf der Nase. Doch das Auffälligste waren die Augen hinter den eckigen Gläsern. Sie strahlten in einem solch hellen, eisigen Blau, wie ich es nur von einem einzigen anderen Menschen kannte – von David selbst.
»Ich glaube«, sagte ich langsam, »wir haben seinen Vater gefunden.«