13. Weil ich dich liebe
»Unsere Beziehung hat nicht lange gehalten«, erzählte Frau Konrad, als wir schließlich wieder in der Küche saßen. Sie umklammerte die Teetasse, die sie eigentlich für mich auf den Tisch gestellt hatte. »Wenn man es denn überhaupt eine Beziehung nennen kann. Merten ist Wissenschaftler, für ihn gibt es so etwas wie Liebe nicht. In seiner Welt dreht sich alles um Hormone und chemische Prozesse. Er hat sogar bestritten, dass David sein Sohn sein könnte, er dachte, ich sei nur auf das Geld aus. Wahrscheinlich hätte ich gerichtlich einen Vaterschaftstest durchsetzen können, aber ich hab’s nicht getan. Ich dachte, wir kommen auch alleine klar, mein wunderbares Kind und ich. David hat sehr darunter gelitten, dass Merten keinen Kontakt wollte.«
»Er wollte nie darüber sprechen«, sagte Jakob.
Frau Konrad lächelte unter Tränen. »Welches Kind gibt schon gerne zu, dass sein Vater nichts von ihm wissen will?« Sie rührte gedankenverloren in ihrem Tee. »Ich wusste, dass die Sache an David nagt. Er hat sich geradezu verzweifelt nach der Aufmerksamkeit seines Vaters gesehnt. Aber ich habe nicht geahnt, wie sehr. Dass er ... dass er sogar sterben will, damit Merten ihn endlich zur Kenntnis nimmt.« Offenbar hatte sie sich ihre eigene Erklärung für die Ereignisse gesucht.
»Ich habe nicht ganz verstanden, welchen Beruf Davids Vater hat«, sagte ich. »Er ist Arzt?«
Frau Konrad nickte. »Ja, und außerdem Biochemiker. Er praktiziert nicht, sondern arbeitet in der Forschung. Was genau er da macht, wollte er mir damals nicht verraten. Ich habe nur ein paar Andeutungen zu hören bekommen. Merten war der Meinung, dass es nichts bringt, sich über Vorlieben und Hobbys zu unterhalten. Er war ... kühl. Aber er sah so gut aus. Viel besser als auf den Fotos in Davids Zimmer. Vor zwanzig
Jahren, mit Mitte vierzig, war er mein Held. Ich war bloß ein Küchenmädchen und sehr leicht zu beeindrucken. Vielleicht«, fügte sie leiser hinzu, »wollte ich auch bloß meine Familie beeindrucken. Das ist mir ja fabelhaft gelungen.«
Zum ersten Mal schlich sich ein Hauch Ironie in ihre Bitterkeit. Und sie musste sehr hübsch gewesen sein, vor knapp zwanzig Jahren. Wenn sie nicht so erschöpft und traurig ausgesehen hätte, wäre sie auch jetzt richtig attraktiv gewesen. David hatte sein Aussehen nicht nur von diesem ominösen Dr. Merten geerbt.
»Hat David auf eigene Faust versucht, Kontakt mit seinem Vater aufzunehmen?«, fragte ich. »Weil, es könnte ja sein, dass Merten etwas zu ihm gesagt hat, das ihm den Rest gegeben hat. Wegen seiner, ähm, Orientierung, zum Beispiel?«
Frau Konrad stellte die Tasse weg und fuhr sich durch das strähnige Haar. »David war in therapeutischer Behandlung«, sagte sie leise. »Das wusste keiner. Vor zwei, drei Jahren fing es an ... aber er hat die Sitzungen vor ein paar Monaten abgebrochen. Ich dachte, er geht immer noch hin. Erst jetzt kam raus, dass er es nicht getan hat. Ich hab ja nicht einmal daran gedacht, bei seinem Therapeuten anzurufen und nachzufragen.«
Wir wechselten einen erschrockenen Blick.
»Er war in Behandlung?«, fragte Jakob. »Weswegen? Er wirkte doch so normal!«
Frau Konrad wedelte in die Richtung, in der Davids Zimmer lag. »Habt ihr die Wände nicht gesehen? Normal war er nur nach außen hin. Innerlich war er ... traurig. Zerrissen. Und ganz und gar nicht der selbstsichere junge Mann, als der er gerne aufgetreten ist.«
Ich schluckte. »Das wusste ich nicht.«
»Danke.« Jakob stellte seine Tasse weg. Er hatte keinen einzigen Schluck getrunken.
Es war Zeit zu gehen.
»Soll ich dich nach Hause bringen?«
»Nein, nicht nötig. Ich gehe zu Fuß. Ist ja nicht weit.«
Dass ich erst noch zurück zum Hotel musste, um mein Fahrrad zu holen, verschwieg ich ihm. Wenigstens hatte ich nun genug Zeit, um über alles nachzudenken.
Das Treppenhaus war dunkel. Frau Bierath steckte den Kopf aus ihrer Tür.
»Luis? Bist du das? Ich hab so komische Geräusche aus eurer Wohnung gehört, nachdem der junge Mann reingegangen ist.«
»Was für ein junger Mann?«, fragte ich alarmiert. Ich hatte oben Licht gesehen, was mich bereits gewundert hatte. Über Besuch wunderte ich mich jedoch noch mehr. Paps empfing nie Gäste.
»Keine Ahnung.« Sie zuckte mit den Achseln. »Hab ihn noch nie hier gesehen.«
Ich ließ sie stehen und hechtete die Stufen hoch in den zweiten Stock. Unsere Wohnungstür stand einen Spalt offen. Im Flur brannte Licht.
Vorsichtig stieß ich sie mit der Schuhspitze weiter auf. »Paps?«, fragte ich. »Papa, bist du da?«
Wie immer kam keine Antwort. Aber die Zimmer strahlten hell, im Wohnzimmer war sogar die Stehlampe neben dem Sofa eingeschaltet. In der leeren Küche blendete mich der Lampenschein, der sich im Fenster spiegelte, und die beiden Adventslichter auf der Fensterbank verbreiteten Weihnachtsstimmung.
Im Schlafzimmer brannte nicht nur die Deckenleuchte, sondern auch die kleinen Schirmlampen auf den beiden Nachttischchen waren an.
Von meinem Vater keine Spur. Ich überprüfte das Badezimmer, das ebenfalls ungewohnt hell war. Als Letztes ging ich in mein Zimmer, dessen Tür halb offen stand. Es war das
Einzige, das dunkel war. Mein Herz begann heftiger zu klopfen, als meine Hand zum Schalter wanderte. Doch noch bevor die Strahler das Zimmer in Helligkeit tauchten, sah ich schon, dass etwas nicht stimmte. Der Käfig meiner Zebrafinken stand nicht wie üblich auf der Fensterbank.
Er lag auf dem Boden, als hätte ein Windstoß ihn heruntergefegt. Ein Sturm, der Sand, Hirse und Federn auf dem Teppich verstreut hatte. Ein winziger Flügel war wie eine Halloween-Dekoration auf meinem Kissen platziert. An der Decke baumelte etwas Unförmiges ohne Kopf; hellrote Tropfen spritzten auf meinen Tisch und mein Hausaufgabenheft, das dort aufgeschlagen lag.
Ich schlug die Hand vor den Mund und stürzte ins Bad. Während ich mir mit zitternden Händen kaltes Wasser ins Gesicht klatschte, hörte ich ein dumpfes Poltern. Wimmernd sank ich auf dem Badewannenrand zusammen.
»Luis? Bist du zu Hause?«
»Paps!« Ich stürzte in den Flur, wo mein Vater noch in Schuhen und Jacke dastand und sich verwirrt umsah. »Du lebst!«
»Natürlich lebe ich«, sagte Paps. »Was ist denn los? Hast du geweint?«
Ich wollte es ihm erzählen, aber meine Zähne schlugen aufeinander vor Panik. »Wo warst du?«, brachte ich schließlich heraus.
»Kurz noch was einkaufen. Luis, was ist passiert?«
Das Schluchzen verzerrte meine Stimme, zerriss die Wirklichkeit.
»Luis?« Irgendwie verstand er meine verzweifelten Blicke in Richtung meines Zimmers und ging nachsehen. Als er zurückkam, war sein Gesicht aschfahl. Also war es kein Traum. Ich hatte es so sehr gehofft. Das konnte einfach nicht real sein. »Wer hat das getan? War jemand hier?«
»Frau Bierath«, flüsterte ich. »Frau Bierath hat ihn gesehen.«
Papa war schon im Treppenhaus. Ich wankte ihm nach. Meine Knie schlotterten so, dass ich kaum gehen konnte, und ich hielt mich am Geländer fest, während er unten klingelte. Ich konnte hören, wie sie sich unterhielten, wie mein Vater nach dem Besucher fragte. Ob sie ihn beschreiben konnte?
»Ein junger Mann«, sagte sie. »Ziemlich groß. Ich glaube, er hatte dunkles Haar, aber wie ein Ausländer sah er eher nicht aus. Eine Strickmütze hatte er auf. Die Jacke war schwarz, glaube ich.«
»Würden Sie ihn wiedererkennen?«, fragte Paps.
»Oh, bestimmt«, meinte Frau Bierath. »Bei den Augen. Ich hab noch nie jemanden gesehen mit solchen Augen. Eisblau. Sie waren eisblau.«
»Also.«
Siegfried Werner war bei der Polizei, einer von Paps’ Kontakten aus seinem alten Leben. Er sagte gerne »also«, dieser freundliche, etwas kauzige Herr, dabei kratzte er sich am Kinn und blickte betrübt. Vielleicht wurde man so, wenn man tagein, tagaus mit Kriminellen und blutigen Verbrechen zu tun hatte.
»Also, die Sachlage stellt sich für mich folgendermaßen dar.«
Nachdem Paps Frau Bierath interviewt hatte, setzte er mich in die Küche, empfahl mir, ein großes Glas Wasser zu trinken, und rief seinen Bekannten an. Es dauerte auch nicht lange, bis Herr Werner erschienen war, sich an Frau Bierath vorbeikämpfte und nach der Besichtigung meines Zimmers mit mir und Paps im Wohnzimmer landete, wo er nun endlich nach mehreren Alsos seine Gedanken preisgab.
»Also, das sieht übel aus im Zimmer deines Sohnes, ähm, Luis? Richtig übel. Was hast du heute Nachmittag gemacht, Steffen?«
»Was ich gemacht habe?« Paps runzelte die Stirn. »Du glaubst doch nicht etwa, dass ich das war?«
»Ich weiß, dass du ziemlich durch den Wind bist, Steffen, seit Marina fort ist. Es würde mich nicht wundern, wenn du im Geheimen einen Groll gegen sie hegst, weil sie dich mitsamt dem Kind im Stich gelassen hat. Und diese Vögel waren, wenn ich das richtig verstanden habe, ein Geschenk von ihr.«
»Mein letztes Weihnachtsgeschenk«, sagte ich. »Das stimmt, aber haben Sie nicht zugehört? Mein Vater war einkaufen, und unsere Nachbarin im Erdgeschoss hat jemand Fremdes gesehen!«
»Also, ich habe mit ihr gesprochen«, erinnerte Herr Werner, »und sie musste zugeben, dass sie nicht wusste, in welcher Wohnung der fremde Besucher verschwunden ist. Sie konnte nicht einmal beschwören, dass er in den zweiten Stock hochgestiegen ist. Also, hier im Haus wohnen wie viele Mietparteien? Zehn?«
»Zwölf«, sagte Paps gepresst.
»Na bitte.«
»Und das soll es gewesen sein? Ich werde verdächtigt? Ausgerechnet von dir, Siggi? Du könntest alle unsere Nachbarn fragen, ob der Typ bei ihnen war.«
»Also, ich habe Frau Bierath ein Foto von David Konrad gezeigt«, sagte Herr Werner. »Sie war sich nicht sicher. Sie war sogar der Meinung, er sei es wahrscheinlich nicht.«
»Frag die anderen Nachbarn, vielleicht hat ihn noch jemand gesehen.«
»Also, das würde ich lieber nicht tun.« Werner seufzte und kratzte sich über die Bartstoppeln. »Eure Augenzeugin ist nicht unbedingt zuverlässig.«
»Was soll das heißen?«, brauste ich auf. »Sie hat ihn gesehen!«
»Einen Mann mit blauen Augen. Zuerst meinte sie, sie hätte ihn überhaupt nicht richtig gesehen. Und dann schwor sie, er sei bleich gewesen, ganz bleich, mit blau verfärbten Lippen. Wie ein Ertrunkener. Also, findest du wirklich, Steffen, dass ich bei allen Nachbarn klingeln und sie fragen soll, ob sie eine ertrunkene Leiche gesehen haben?«
Paps ließ das Gesicht in seine Hände fallen und stöhnte leise.
»Besorg dir Hilfe«, sagte Werner. »Und du, junger Mann, steigerst dich da in etwas hinein, was nicht gesund ist, weder für dich noch für deine Umgebung. Du glaubst also, du hättest David nach seinem Verschwinden noch gesehen? Bist du ganz sicher? Wie nah warst du ihm?«
Verunsichert schüttelte ich den Kopf.
»Also, was? Hast du ihn deutlich gesehen, so wie du mich siehst? Bist du dir hundertprozentig sicher, dass er es war, dass du es dir nicht bloß eingebildet hast?«
»Nein«, sagte ich leise.
»Also nein. Gut, wenigstens bist du ehrlich. Es tut mir sehr leid, was mit deinem Mitschüler passiert ist. Was auch immer an der Schule vorgefallen ist, lass dir nochmal sagen: Du bist nicht schuld an seinem Tod. David war sehr labil, eine komplizierte Persönlichkeit. Ich dürfte nicht darüber sprechen, aber weil du es bist, Steffen, und um der alten Zeiten willen: Die Äußerungen seines Therapeuten waren nicht gerade erfreulich. Der gute Junge litt unter einer ausgewachsenen Paranoia, mit Erstickungsanfällen. Und er war vorbestraft wegen Sachbeschädigung und Vandalismus. In einem Wutanfall hat er einen Gartenpavillon zerhackt, der ihm nicht gehörte. Mit einer Axt. Also, das hättest du jetzt nicht erwartet, wetten?«
»Nein«, flüsterte ich.
»Dann könnte das in Luis’ Zimmer ja doch auf seine Kappe gehen«, sagte Paps.
»David Konrad ist tot!«, rief Werner. »Und ich will nichts mehr davon hören. Die Untersuchung ist abgeschlossen, also Punkt, Ende, aus.«
»Ach, so ist das«, sagte Paps. »Sie ist abgeschlossen. Obwohl so manches, was ich hier zu hören bekommen habe, irgendwie nicht zu einem Selbstmord passen will. Wer hat den Fall für abgeschlossen erklärt? Die Bürgermeisterin? Der Polizeidirektor? Wer hat seine Finger da mit im Spiel?«
Werner stand auf. »Lass gut sein, Steffen. Ich hab dir mehr gesagt, als ich dürfte. Das hier ist keine Jagd, so wie früher. Du bist ein Wrack, und ich stehe kurz vor der Pensionierung. Bring dein Leben in Ordnung, wenn nicht für dich selbst, dann für deinen Sohn. Danke, ich finde alleine raus.«
Wie betäubt blieb ich sitzen.
Mit einem wütenden Knurren schlug Paps die Tür hinter seinem Polizeifreund zu.
»Also, das war verwirrend«, sagte ich.
»Also, ich fand es eher aufschlussreich«, sagte Paps. Ein winziges, grimmiges Lächeln spielte in seinen Mundwinkeln Verstecken.
»Ich glaube keine Sekunde, dass du Hugo und Berta umgebracht hast. Dieser Blödmann! Warum hat er uns nicht geglaubt?«
»Ich frage mich eher, wieso hat Frau Bierath eine Leiche gesehen?«, murmelte Paps. »Sie neigt bestimmt nicht dazu, überall Geister zu sehen, bis jetzt schien sie mir ganz vernünftig. Wie ist der Kerl überhaupt ins Haus gekommen? Danach hat Siggi gar nicht gefragt. Man braucht einen Schlüssel für die Eingangstür. Er ist mit jemandem reingeschlüpft, oder er hat irgendwo geklingelt und sich öffnen lassen. So oder so muss ihn noch jemand gesehen haben.«
»Unsere Haustür stand offen.«
»Was definitiv gegen einen Geist spricht. Der würde einfach durch geschlossene Türen und Wände gehen.« Paps stand seufzend auf. »Ich werde Fotos machen, für alle Fälle, und dann die Bescherung beseitigen. Am besten, du verziehst dich in die Küche. Ich werde wohl öfter zwischen deinem Zimmer und dem Bad hin und her rennen müssen. Mach das Radio an.«
»Ja«, sagte ich.
Ich wollte weder den Staubsauger hören noch das Wasser, wenn er den Lappen auswusch. Nichts wollte ich hören, an nichts denken, mir nicht vorstellen, wie sie ... nein. Ich hatte keinen Appetit, trotzdem machte ich den Abwasch und deckte den Tisch. Funktionierte wie ein Roboter.
Es dauerte lange, bis Paps an der Küchentür auftauchte. Er wirkte anders als sonst. Müde und blass, so wie immer, und trotzdem anders.
»Hast du die Buchstaben gesehen, Luis?«
»Welche Buchstaben?«
»An der Tapete. Neben dem Kleiderschrank.«
»Nein«, sagte ich. »Was ... was steht denn da?«
»Willst du es dir ansehen, bevor ich die Tapete abreiße? Oder wir hängen ein Poster drüber. Ich hab keine Farbe, um es überzustreichen. Ich schätze, wir müssen dein ganzes Zimmer renovieren.«
Ich musste schlucken. »Was steht da?«
»Warte, Luis ...«
Doch ich schüttelte seine Hand ab und eilte in mein Zimmer. Fast alles war wieder sauber. An der Decke baumelte nichts mehr. Der Käfig war weg. Mein Kissen war verschwunden und durch ein anderes ersetzt.
Und an der Wand stand in großen Buchstaben: ICH LIEBE DICH.
Rot.
»Es ist kein Blut«, sagte Paps leise hinter mir. »So viel Blut hatten sie gar nicht in sich. Es ist bloß Farbe.«
Ich konnte nichts sagen, ich starrte nur auf die Wand und die drei Worte.
Wer war in unsere Wohnung eingebrochen und hatte seine wahnsinnige Botschaft an der Wand hinterlassen? Ganz bestimmt nicht der Geist eines Ertrunkenen.